Forum für Philosophie und Politik
Von Susann Tracht
… ODER den Erfahrungen und der Schöpferinnenkraft der Menschinnen in der Ausgestaltung der Pandemiebekämpfung Raum geben
Eines vorweg:
Corona gibt es. Ich (ökologisch, queer-feministisch, den Mensch*innen in ihrer Vielfalt und Einzigartigkeit vertrauend) bin wütend über Corona- Maßnahmen, die selber_denk_fühl_handelnden Mensch*innen übergestülpt werden, ohne mit ihnen über ihre Erfahrungen, ihr Erleben, ihre Lösungsideen in diesen Zeiten in Austausch zu gehen.
Als Pädagog*in mit dem pädagogischen Schwerpunkt „Spielzeugfrei“ halte ich nicht viel von Kompensationen. Dazu zählt dann auch meine zugegeben sarkastische und wütende Empfehlung der Dildos für Politiker*innen.
Vielmehr wünsche ich mir, dass den Erfahrungen und der Schöpfer*innenkraft der Mensch*innen in der Ausgestaltung der Pandemiebekämpfung Raum gegeben wird.
Und genau von diesem Spannungsfeld zwischen Dildos (Kompensationen) und Schöpfer*innenkraft-Raum-Geben handelt mein Artikel, in dem ich zurückblicke auf den ersten Lockdown, die Zeit danach bis jetzt. Genau um die Zeit des ersten Lockdowns im März 2020 startete das Projekt „Spielzeugfrei“ in dem Kindergarten, in dem ich tätig bin.
Und was sich mir während dieser Parallelität von Lockdown-Corona-Maßnahmen und dem Projekt „Spielzeugfrei“ offenbarte war, dass sich der pädagogische Ansatz „Spielzeugfrei“ meines Erachtens wunderbar eignet, um mit der (oben) genannten Dualität/Spannung umzugehen, da er sich selbst darin bewegt bzw. diese aufnimmt. Er kann damit als mögliche Folie des Umgangs mit Mensch*innen in Zeiten der Pandemie- (Maßnahmen) hilfreich sein.
Der erste Lockdown = Chance auf Lebenskompetenzförderung (?)
März 2020: Das Projekt „Spielzeugfrei“ in dem Kindergarten, in dem ich tätig bin, startet. Im Februar hatten wir mit den Kindern Bücher gelesen wie „Wenn das Spielzeug in den Urlaub fährt“, hatten die Räume spielzeugleer geräumt und waren als Pädagog*innen sehr gespannt darauf, wie es den Kindern, Eltern und uns in dieser „neuen Zeit“ gehen würde. (Wir wussten damals noch nicht, dass mit Corona auch eine „neue Zeit“ oder der Sprech davon auf uns zukam).
Das (Pilot)Projekt „Spielzeugfreier Kindergarten“ ging im Jahr 1992 aus einem bayerischen Suchtarbeitskreis hervor. Der Ansatz basiert auf dem Verständnis, dass GESUND_SEIN sich nicht auf die Abwesenheit von Krankheit beschränkt.
„Um ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden zu erlangen, ist es notwendig, dass sowohl Einzelne als auch Gruppen ihre Bedürfnisse befriedigen, ihre Wünsche und Hoffnungen wahrnehmen und verwirklichen sowie ihre Umwelt meistern bzw. verändern können.“ (WHO Ottawa- Charta).
Die WHO spricht von Lebenskompetenzen. Durch die Aneignung dieser Lebenskompetenzen ist es möglich, sein eigenes Leben zu steuern und mit Veränderungen in der Umwelt umzugehen (WHO, 1997).
Lebenskompetenzen sind laut WHO persönliche, soziale, kognitive und psychische Fähigkeiten, die einer Person erlauben, angemessen mit den vielfältigen Mitmensch*innen, Problemen und Stresssituationen umzugehen.
Alltägliche Lebenskompetenzförderung im pädagogischen Ansatz „Spielzeugfrei“ bedeutet vor allem: Raum und Zeit zum Wahrnehmen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, zum Äußern ebendieser und der Vermittlung mit den Bedürfnissen der Mitmensch*innen, dabei besonders den Umgang mit unwohleren Emotionen im Kontext von Angst, Unsicherheit, Scheitern, Frustration und Langeweile. All dies ohne Ablenkung und Ersatzbefriedigung (vgl. Schubert/ Strick 2019, S.8). Lebenskompetenzförderung steht für das Verlassen von Routinen, Gewohnheiten und der eigenen Komfortzone (die zumeist nicht wirklich komfortabel ist ;)
Kurz: Weg von vorgefertigt, vorgeplant, vorstrukturiert und hin zu den eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Zielen, hin zu FREI- Zeit und FREI- Raum. Einem „Freiraum […] zu sich selbst zu kommen [und somit] eine “Gegenerfahrung”.“ (Schubert/ Strick 2019, S.10) frei von äußeren belebten oder unbelebten Problemlöser*Innen die eigenen Fähigkeiten, Rhythmus, Grenzen, Möglichkeiten erkennen zu können (vgl. Schubert/ Strick 2019, S.9).
Die Kinder treten in der spielzeugfreien Zeit ein in einen FREI-RAUM, in eine FREI-Zeit ohne vorgefertigte Angebote und Spielzeuge. Ihre bekannte Umgebung ist weg(geräumt).
In diesem Verständnis hatte sich für mich im März 2020 die spielzeugfreie Zeit gesamtgesellschaftlich ausgedehnt. Der öffentliche Raum in Berlin war mensch*innenleer. Ich erinnere mich noch gut daran, dass ich mich an einem Montag um 10 Uhr wie an einem Sonntagmorgen fühlte, wenn die Stadt noch schläft.
In den eigenen vier Wänden waren wir alle zurückgeworfen auf uns selbst und konfrontiert mit sehr unangenehmen Gefühlen wie Unsicherheit und Angst.
Und genauso geht es Kindern in der „Angebots- und spielzeugfreien Zeit“. Voller unangenehmer Gefühle wie Unsicherheit und Angst wegen der neuen Situation, Traurigkeit ob des Fehlens geliebter Gewohnheiten, Langeweile durch das Zurückgeworfensein auf sich selbst, Unruhe durch die ungewohnte Situation etc.
Ich sah also im März 2020, basierend auf dem pädagogischen Ansatz „Spielzeugfrei“, in dem Bewältigen schwieriger Situationen und dem Umgang mit unangenehmen Gefühlen in Zeiten von Corona die Chance der Lebenskompetenzförderung – nicht nur bei den Kindern.
————————————————–Denk- Fühl- Pause————————————————————
Die Zeit nach dem ersten Lockdown bis jetzt = Chance auf Lebenskompetenzförderung (leider) vertan und eigentlich noch viel schlimmer
Erschreckende Lockdown-Statistik: Die häusliche Gewalt gegen Kinder und Frauen ist enorm gestiegen. Die Nutzung von Ersatzbefriedigungen wie Alkohol und Zigaretten ist gestiegen. Die Selbstmordrate ist gestiegen.
Hier werden Verhaltensmuster sichtbar wie das Überspielen unangenehmer Situationen mittels Aggressivität oder Rückzug, die in Verbindung stehen mit schwach ausgeprägten Lebenskompetenzen. Aus denen heraus kann eine konkrete Lebensangst entstehen oder auch Grundgefühle wie „sich dem Leben nicht gewachsen fühlen“, „nicht aushalten können“, „ausgeliefert, ohnmächtig“.
Das sind sehr unangenehme Gedank_fühle, und daher entscheiden sich Mensch*innen oftmals für Vermeidungs-/ Kompensationsverhalten wie „die Flucht nach vorn“ oder „sich etwas schön trinken“, statt sich nüchtern und frei den Lebensanforderungen zu stellen. So geschieht es immer häufiger auch bei Kindern, dass sie sich mit Ersatzbefriedigungen von Frustrationen und Problemen zu entlasten suchen. Erwachsene befrieden Unzufriedenheit bei Kindern (und bei sich selbst) „um des lieben (inneren und äußeren) Friedens und der eigenen Ruhe willen“ ebenfalls gern mit irgendeinem schnellen Trostpflaster.
Den Mechanismus, sich von unangenehmen Gefühlen oder Situationen abzulenken, kennen wir doch alle. Ich kenne ihn auch und er ist mir bewusst, so dass ich damit umgehen kann. Ich halte öfter inne (suche mich freiwillig auf) bevor ich re-agiere. Mir meiner selbst immer mehr bewusst werdend, fällt mir dies auch zunehmend leichter.
Der Statistik nach geht es nicht allen Mensch*innen so. Auch wenn Hartmut Rosa die Muße in aktuellen Zeiten heraufbeschwört. Mir scheint allerdings, dass er selbst eher fern denn nah der Muße ist. Auch Arbeit und Denken können bewährte Kompensationen sein.
Ich stelle mir das Gefühl vieler Mensch*innen so vor:
Vor Corona – Ich lebe in einer Welt, in der Haben vor Sein steht, mit einem Mangel an wirklich frei verfügbarer Zeit, Wettbewerb, Beschleunigung, „the fittest wins“, Anstrengung zahlt sich (nicht immer, aber bei mir bestimmt) aus. Funktionieren, funktionieren, funktionieren …
PENG (Ur)KNALL
Ich lebe in einer Welt. Ähhhhm … ich lebe in meiner Welt … was ist da (drin)? Geht doch gar nicht. Da ist doch nichts. LEERE. Puhhh … Atemnot, Herzschlagen … Was nun? Das fühlt sich nicht gut an. (Angst?) Was nun?
Was nun? Was nun? Was nun? Was nun? Was nun? Was nun? Was nun? Was kommt? Was kommt? Was kommt? … (Verwirrung, Verunsicherung)
Nichts passiert. STILLSTAND. STILLSTAND? Da ist doch so viel los in mir. Was damit (mit dem „Zeug“ in mir) machen?
Ruhe von wegen! Unruhe von wegen so viel Ruhe.
„Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“
In einer Gesellschaft, die Leistung und Haben als Lebensmaßstäbe setzt, ist wenig bis kein Platz für das Sein und die Entwicklung der ureigenen Persönlichkeit. In einer normierten Welt mit Fertigprodukten und schnellen (vorgegebenen) Lösungen sind keine Zeit und kein Raum für die individuellen menschlichen Bedürfnisse und Phantasien der Weltaneignung durch je ureigene Wege.
Wir können uns an dieser Stelle (erstaunt?) fragen: Ist in unserer Konsum- Gesellschaft die Unfähigkeit, elementare Bedürfnisse wahrzunehmen, schon so selbstverständlich? Sind Eile, die permanente Glücks(Kick)suche, „das immer etwas zu tun haben müssen“ so zwingend, dass es ungewöhnlich erscheint, einfach zu Sein, Lange-Weile zu haben und nichts zu leisten?
Die Antwort ist LEIDER JA. Und nun?
Ein Impuls ist für mich Gisela Eschenbachs Aussage (1992). Sie schreibt, die „[…] Verletzung oder Nicht-Erfüllung (kindlicher) Bedürfnisse machen Ersatzbefriedigungen (über)lebensnotwendig. […] die Aufgabe, diesen Fehlentwicklungen frühzeitig durch gezielte Maßnahmen vorzubeugen. [Bedeutsam ist dabei inwieweit Mensch*in] die Chance hat, eigene Erfahrungen ausprobieren und leben zu können.“
D.h. bezogen auf den Ansatz „Spielzeugfrei“, dass es Erwachsene braucht, die bereit sind, sich auf die neue, „leere“ ungeplante Situation einzulassen und sich und den Kindern zu vertrauen, mit dieser Situation umzugehen. Wir Erwachsenen treten nicht als „Problemlöser*innen“, „Animateur*in“, Angebotemacher*in, sondern lediglich als präsent-vertrauende Begleiter*in auf. Es werden also keine Spiel-, Lern- und Bastelideen und Problemlösungen angeboten, sondern maximal Impulse in Form von Fragen in den Raum gegeben. Es geht eher um eine bewusst-abwartende Haltung. Dies darf allerdings nicht mit einer gleichgültigen Haltung verwechselt werden.
Im Verhalten der Kinder zeigt sich, dass sie eigenständiger und sich selbst und anderen vertrauend agieren. Zudem kommt es durch ein verantwortungsbewusstes Zurücknehmen, Nicht-Eingreifen und Zulassen der Erwachsenen zu einem Verschieben von Normen und Regeln fern von Hetze, Konkurrenz und Leistung hin zu Austausch und Aushandeln.
Was ich nun im Rahmen der Corona-Maßnahmen beobachte ist, dass die Politiker*innen „alternativlos“, ohne öffentliche Debatte top-down sagen, „wo es langgeht“. Den Erfahrungen und der Schöpfer*innenkraft der Mensch*innen in der Ausgestaltung der Pandemiebekämpfung wird kein Raum gegeben.
Als gemeinwohlorientierte Bürger*innen-Pflicht instrumentalisierte gesellschaftsunkritische Verantwortungsübernahme blendet Partizipation (einfach) aus. Folge ist die gesellschaftliche Reproduktion sozialer Benachteiligung. Gerade deshalb ist es wichtig, die Corona-Maßnahmen zu analysieren hinsichtlich ihrer (potentiellen) Wirkungen und ihrer Passgenauigkeit. Dienen die Corona-Maßnahmen wirklich dem Leben? Geben sie also Raum für Wachstum im Sinne von Entfaltung? Wer/ Was wächst?
Toller Text! Danke. Ja, Gesundheit ist mehr als Abwesenheit von Krankheit. Es ist, wie in dem Text steht “ein umfassendes körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden, welches wir Menschen durch das äußern von Bedürfnissen, Wünschen, Hoffnungen selbst gestalten. Dazu braucht es auch für uns Erwachsene in Corona- Zeiten wie in dem Ansatz SPIELZEUGFREI beschrieben “Freiraum und Zeit zum Wahrnehmen der eigenen Gefühle und Bedürfnisse, zum Äußern ebendieser und der Vermittlung mit den Bedürfnissen der Mitmensch*innen”. Es werden also keine Spiel-, Lern-und Bastelideen und Problemlösungen angeboten, sondern maximal Impulse in Form von Fragen in den Raum gegeben. Es werden also keine Spiel-, Lern-und Bastelideen und Problemlösungen angeboten, sondern maximal Impulse in Form von Fragen in den Raum gegeben. Fern von vorgefertigt, vorgeplant und vorstrukturiert – wie jetzt die Corona- Maßnahmen.
Liebe Politiker*innen ich frage euch angelehnt an den Fragekatalog von Susann Tracht: Was war los,was ist Sache? Welche Gefühle waren und sind da? (Sorgen, Ängste, Ohnmacht, Wut, .) Wie haben sich die Gefühle über die (Corona)Zeit verändert? (Angst vor Ohnmacht, Gier …)
Und vor allem: Was glaubt ihr ist wichtig, damit eure Bürger*innen als erwachsene Menschen selbstbewusst und belastungsfähig Problemen gegenübertreten können? Welche Rolle spielt ihr dabei?
A.Nyma