Forum für Philosophie und Politik
Vor über einem Jahr bin ich politisch aktiv geworden. Ein die Welt fühlender Mensch war ich schon immer; und spätestens seit der Maueröffnungsnacht auch ein politisch denkender. Was ist der Unterschied zwischen diesen drei Formen des Erlebens, Fühlens und Agierens? Wie hängen sie miteinander zusammen? Was bedeutet es, politisch aktiv zu sein? Was macht es mit mir, welche neuen Formen des Denkens werden dadurch möglich? Das sind die Fragen, denen ich im Folgenden hinterherspüren möchte.
Meine frühesten Kindheitserinnerungen bis zum sechsten Lebensjahr waren geprägt von Ruhe, Glückseligkeit, Frieden und Liebe; es gab keine Störungen durch schlimme Erlebnisse, ich kannte weder Leid noch Schmerz. Entweder meinen Eltern gelang es, jedes potenziell schmerzliche oder sich möglicherweise als Trauma fortschreibende Erlebnis von mir fernzuhalten, oder sie hatten für derlei Situationen sofort eine logische Erklärung parat, sodass das Wissen um etwas “Böses” bis dahin einfach keinen Einzug in mir halten konnte.
Das änderte sich schlagartig, als ich sechsjährig in der Badewanne saß und das erste Mal bewusst in den Radionachrichten das Wort “Krieg” hörte, und um dieses Wort herum lauter furchtbare Dinge gesagt wurden. Als meine Mutter kurz darauf ins Bad kam, um mir die Haare zu waschen, fragte ich sie, bereits mit einer grausigen Vorahnung, was das sei: Krieg. Ich wollte es aus ihrem Mund hören. Sie druckste rum; sicherlich überlegte sie, wie sie es mir altersangemessen erklären könnte. Was soll eine Mutter ihrer sechsjährigen Tochter auf diese Frage antworten? Ich weiß nicht mehr, was genau sie mir sagte, aber was ich jetzt noch erinnere von dem Gespräch, war, dass ich anscheinend nur Glück gehabt hatte: Glück mit meinem Geburtsort. Glück, nicht in ein anderes Land hineingeboren worden zu sein. Ich hörte von jenen Menschen, auch den Kindern in meinem Alter, Kinder also wie ich, die dieses Glück nicht haben. Das Wort “Glück” hat seitdem für mich so einen Beiklang von “Mein Glück ist ein Glück, das andere zur selben Zeit nicht haben.” Sicherlich hat sie auch hurtig hinzugefügt, dass ich dafür aber nichts könne und es mich deswegen auch nicht belasten müsse. Während meine Mutter mich mit all ihrer Liebe trocken rubbelte, durchströmten dennoch das erste Mal tiefe, schreckliche Schauer meinen kleinen Körper. Meine Mutter war sichtlich bewegt, ich habe ihre Emotionen gespürt, und auch diese wurden von meinem Körper aufgenommen und in einen Ordner gepackt, der sich mit den Jahren weiter füllen sollte mit grauenhaften Dingen, Schrecklichem, was Menschen sich gegenseitig antun, aber nicht nur sich untereinander, sondern auch ihrer Mitwelt, den Tieren, den Pflanzen und der sogenannten “leblosen Materie”, die doch zusammengenommen unsere Lebensgrundlage, unseren Lebensraum ausmachen.
Schon früh – noch weit bevor ich zehn Jahre alt war –, fasste ich den Entschluss, nie mehr Dokumentarfilme über Wildtiere zu schauen. Ich ertrug die letzten Sätze beinahe jedes dieser eigentlich so tollen und wichtigen und magischen Filme nicht: Diese Tiere, die mir da gerade voller Liebe und Kenntnis vorgestellt wurden, an deren Leben ich gerade imaginär teilhaben durfte und in die ich mich nun Knall auf Fall verliebt hatte, seien – so wurde mir da vermittelt – allerdings “vom Aussterben bedroht, wenn nicht bald etwas getan würde”. Meine gerade erst erwachte Liebe würde also höchstwahrscheinlich noch zu meinen Lebzeiten mit dem Tod aller Tiere dieser Art tragisch enden. Das war zu viel für mich. Es zerstörte so viel in mir, ich wollte mich einfach dieser Zerstörung nicht mehr aussetzen, und deswegen mied ich von da an diese Filme – übrigens bis heute.
Viele grauenvolle Geschehnisse der historischen Vergangenheit kamen dann in der Schule und durch die immer bewusstere Wahrnehmung der Nachrichten hinzu, das Unbegreiflichste, Monströseste: der Holocaust. Noch heute höre ich von Menschen, die es gut mit mir meinen, ich solle den und den Film zum Thema ansehen, dann erst wüsste ich oder könne ich mir eine Vorstellung davon machen, was damals geschehen ist. Was wissen diese Menschen von meiner Vorstellungskraft, dachte ich schon damals immer. Und verstand nicht, wieso sie diese Filme brauchten, um zu begreifen, was da geschehen war. Ich finde es bis heute übergriffig, wenn mir Leute die Fähigkeit des wirklichen Vorstellenkönnens absprechen, nur weil ich diese Filme nicht anschauen kann. Ich akzeptiere ja auch, dass ihre Empathie erst durch das Erblicken der Bilder aktiviert wird. Meine halt nicht, meine ist schon da, wenn ich nur vom Thema berührt werde. Wir Menschen haben unterschiedliche Wahrnehmungsfühler. Keiner dieser Fühler ist falsch, aber manche sind eben mehr, manche weniger lang und sensibel. Manche reichen bis in den Amazonas, manche reichen nicht bis zum nächsten Nachbarhaus. Das meine ich nicht wertend. Das ist (momentan) einfach so, ob durch Vererbung, Transgenerationalität, Gene oder Erziehung oder von allem ein bisschen, who knows.
Meine Fühler also waren überall; egal wo auf der Landkarte. Ungerechtigkeiten jedweder Form, Gewalt, Unterdrückung… ich fühlte sie in meinem ganzen Körper. Da musste nun System rein, damit ich nicht untergehe in all der Trauer und dem Horror. Also wurde mir in Schule und Zuhause die Welt zugeschnitten, für die ich mich zu interessieren habe, die ich wahrnehmen soll, auf die ich selbst Einfluss haben kann. Ich könne für die Schulzeitung schreiben zum Beispiel. Das entsprach meinem politischen Wirkradius. Das, “was getan werden musste” – laut der Tierdokus zum Beispiel, würden andere machen. Erwachsene, Expert*innen, Menschen jeweils vor Ort, die sich auskennen. Ich solle Vertrauen haben. Obwohl ich dem Ganzen nicht wirklich traute, vertraute ich, ich sah auch keine andere Option. Und außerdem: Esoterisch, spirituell, Ökotussi, das wollte ich nicht sein, damit wollte ich nichts zu tun haben.
Ich verinnerlichte diesen eingezäunten Radius, hämmerte mir ein, dass ich nichts dafür könne, nichts für die Vergangenheit, nichts für das aktuelle und zukünftige Artensterben, noch für sonst irgendwas, und ich lernte dafür Praktiken des Verdrängens und Ignorierens. Fühler aber, die dennoch weiter fleißig alles, was ich kaum gesehen und berührt habe, von nah und fern, von früher und später an mich herantrugen, die sich nicht einzäunen ließen, schufen ein Gefühl des irgendwie Anders- und Verquerseins, schlossen die Räume des Grauens und des Zweifelns nie ganz; sie zeigten weiter an, dass dieser Zaun irgendwie künstlich gesetzt ist. Es gab in mir keine Einheit, keine Logik; vielmehr gab es intuitiven Widerstand, mein innerer Kompass wehrte sich gegen die Einzäunung, die nur rational – für Menschen von außen, die es gut mir meinen – logisch und richtig erschien. Sicher fragen sich jetzt einige Leser*innen, was denn die Alternative gewesen wäre. Mich als Kind mit der brutalen Wahrheit zumüllen, mir eine unverantwortliche Verantwortung aufbürden und mich dann darin untergehen lassen? Ich komme darauf später nochmal zurück.
Die Fragen rumorten also weiter in mir, nun oftmals unbewusst: Was genau ist das, was ich nicht ändern kann? Und warum kann ich nicht ändern, was mich ja doch irgendwie zu betreffen scheint? Aber durchdenken konnte ich das nicht, denn Worte oder Diskurse dafür gab es nicht, ja gibt es heute ja noch kaum; nur langsam wird diese Form der Weltverbundenheit gerade durch feministische Praktiken (wieder) entdeckt und für politisch und gesellschaftlich bedeutsam angesehen.
In meinem zehnten Lebensjahr gab es ein Ereignis, das sich ähnlich dem Badewannenerlebnis in meine Erinnerungen einbrannte. Es war der Abend, als plötzlich euphorische mauerbesteigende Menschen durch den Fernseher in unseren gemütlichen Familienabend einbrachen. Ich würde diesen Abend als jenen markieren, mit dem ich ein politisch denkender Mensch geworden bin. Ich hatte das große Glück, mit meinen Eltern Gesprächspartner*innen zu haben, die mich durch all die kommenden verwirrenden Zeiten stabil hielten und mich ausstatteten mit viel Wissen und Meinungen; Eltern und auch Großeltern, die mich mit all meinen Fragen und Zweifeln ernst nahmen. Innerlich wurde ich eine Art Rebellin, die dem Zeitgeist akut befremdlich gegenüber stand. Meine Wahrnehmung der mich umgebenden Realität deckte sich nun auch wieder kaum mit den mich umgebenden Diskursen. Die Diskurse “von drüben” über uns “Ossis” zum Beispiel waren auch bald bei uns im Osten in aller Munde, so viele Mitschüler*innen lachten und spöttelten über sich selbst, ihre Eltern waren plötzlich fleißige Kirchgänger*innen und wählten Helmut Kohl. Warum? Dachten sie, sie kämen ihrem neuen Wiedervereinigungs-Ich näher, wenn sie sich von sich selbst und von ihrer Vergangenheit derart entfremdeten?
Da standen meine Klassenkamerad*innen und lachten über die Zonen-Gabi, die doch eine von uns war zum Beispiel, und ich sah mich ungläubig um und fragte mich: “Was ist hier los? Fragt mal jemand, warum die Bananen plötzlich unsere Regale fluten und warum sie so billig sind? Wieso gibt es nirgends Möglichkeiten, das kritisch zu hinterfragen?” Die Proklamation vom Ende der Geschichte sorgte jedoch verlässlich für die Totschlagfrage, die mir immer entgegenbrüllte in all ihrer Undurchdachtheit und Denkfaulheit, und sie hält sich bis heute: Willst du etwa wieder den DDR-Sozialismus oder Sowjetunion-Kommunismus…-Stalinismus…whatever… zurück? Ich empfand das alles als zutiefst unbefriedigend. Und ich war es so leid, immer wieder gebetsmühlenartig zu wiederholen, dass ich NAAAAIIIIN nicht in die DDR zurückwollte, aber dass ich das ja auch gar nicht gesagt hätte. Ermüdung, Erschöpfung tat sich breit, ich fand einfach außerhalb der Familie nirgends Diskursräume, in denen ich mich mit meiner Sichtweise wohlgefühlt hätte, die aber notwendig gewesen wären, um mit meinem Denken voranzukommen. Dadurch blieb mein diesbezügliches Denkniveau auch irgendwie in den Pubertätsschuhen stecken. Wenn ich dann in Diskussionen geriet, machte mich genau das wütend und ohnmächtig. Ich ärgerte mich, dass ich jedes Mal gleich unvorbereitet hineinschlitterte, dass ich Denkfäden wieder und wieder nicht weitergesponnen hatte und daher immer vor denselben denkfaulen Fragen kapitulieren musste. Über was soll ich reden, wenn ich beispielsweise selbst keine Idee von alternativen Gesellschaftsentwürfen habe? Und Marx hatte ich auch immer noch nicht gelesen. Shame on me.
Resigniert habe ich allerdings nie wirklich; innerlich bin ich immer rebellisch geblieben, habe mir dann aber auch sehr gefallen in meiner Melancholie und einsamen Weltschmerztrauer. Und naja, ich war jung, und es gab ja auch noch andere Themen. Komplizierte, ständig zusammenbrechende Mädchenfreundfeindmobbingschaften, erste Verliebtheiten, Sport, Musik, Bücher. Ich stürzte mich dann auf diese und ließ den Kapitalismus den Kapitalismus sein. Mit mir selbst schloss ich früh den Vertrag, niemals aktiv dem Kapitalismus mit meiner bezahlten Arbeit zuzuarbeiten. Also musste ich entweder Künstlerin werden oder irgendwas “mit Kultur” machen. Politik ging nicht, da es mich schon immer so viel Kraft kostete, über dumme Meinungen nicht wütend zu werden. Und Richtung Ökologie ging auch nicht, ich wies Ökothemen weit von mir, da sie mir emotional zu nahe rückten. Reiner Selbstschutz. Bäume umarmen? Hell no. Die Natur – so hoffte ich allerdings innerlich zutiefst, meine Fühler baten und bettelten darum – retten andere; ich derweil darf mich um Kultur und Gesellschaft kümmern.
So blieb das bis 2019. Da war ich 40 Jahre alt. Greta riss mich aus meinem Dornröschenschlaf, in dem ich sicher noch einige Jahre länger weitergedöst hätte. Sie sagte plötzlich Dinge, die ich schon immer dachte und seit nunmehr drei Jahrzehnten auch hin und wieder im Bekannten- und Freundeskreis sagte, wenn es denn die Gelegenheit gab. An eine erinnere ich mich, da war ich wohl etwa 16, da hielt ich ein Referat in Sozialkunde. Ich sagte sowas wie “Kapitalismus kann nicht das Ende sein, wenn wir als Menschheit überleben wollen; danach muss eine neue Form des Sozialismus kommen.” Ich traute mich sogar, das mit Kreide an die Tafel in eine imaginäre Zeitlinie einzutragen. Meine Sozialkundelehrerin fand das cool, mein Denken “out of the box” brachte mir zumindest eine mündliche Eins ein, aber sonst brachte es mir und der Welt: nix. Greta aber stand nun da, vor den Politiker*innen des EU-Parlaments, oder kurz darauf jenen des UN-Klimagipfels; sie stand da und sprach es aus: “Fairytales of eternal economic growth”. Wie ein Donnerschlag traf es mich. Und anscheinend nicht nur mich. Viele andere Menschen schienen erschüttert aufzuwachen; die Dornröschenhecke schien sich nicht nur für mich endlich wie durch ein Wunder aufzutun. Sind nun die hundert Jahre rum? Immerhin war da plötzlich eine Bewegung.
Ich brauchte jedoch auch jetzt noch ein paar Monate der Besinnung. Meine inneren Monologe sahen in etwa so aus: Werde ich aktiv, und wenn ja, wie und wie viel? Was bedeutet Aktivwerden überhaupt? Bin ich nicht schon aktiv? Lies mein Buch. Das ist das, was ich gut kann. Schreiben über Kulturkontakt. Okay, aber was trägt es zur Klimabewegung bei? Ja, aber Klima ist nicht mein Ding, Klima kann ich nicht. Ich kenn mich da nicht aus. Muss ich mich auskennen? Was muss ich wissen? Und weiß ich nicht eigentlich schon genug? Reicht es nicht zu wissen, dass wir uns als Menschheit gerade in die Katastrophe reinkatapultieren? Okay, ja, das reicht, also was wäre ein erster Schritt: Demonstrieren gehen? Ich war noch nie demonstrieren. Ich bin einfach kein Demo-Mensch. Punkt aus.
Aber dann all die Gefühle in mir, die nun wirklich nicht mehr verdrängbar waren: Die “Ökoleute” haben’s nicht allein hingekriegt. Was hilft meine “Kulturarbeit” (mein Kulturbegriff ist groß und weit; ich setze Kultur eher aus Hilflosigkeit in Anführungsstriche, weil ich hier keinen Raum eröffnen möchte, darauf einzugehen, auch nicht zu meiner nicht immer stringenten Verwendung desselben), wenn ich meinen Kindern klimakrisenbedingt kein schönes Leben mehr sichern kann? Zukunftssicherheit und Zukunftsfähigkeit sind ein großes Thema in mir. Was sage ich meinen Kindern in zehn Jahren, wenn es zu spät ist, wenn sie nicht mehr die Möglichkeit der Reparatur der Welt haben, sondern größtenteils dem Horror, der dann geschieht, nur noch zuschauen können, oder schlimmer noch, ihm ausgesetzt sind? Sage ich ihnen dann: “Ja, sorry, aber das war einfach nicht mein Ding”? Und was muss ich ihnen dann noch alles hinter vorgehaltener Hand sagen? Dass es jetzt, 2030, doch auch vielleicht besser ist, wenn wir eine AFD-artige Partei wählen, denn jetzt helfen nur noch Grenzen. Grenzen mit zu jeder Zeit schießbereitem Grenzschutz, überhaupt sind Militär und gute Allianzen in der Welt jetzt noch die einzige Rettung. Ein Glück, dass wir Deutschen und Europäer*innen das letzte Jahrzehnt massiv aufgerüstet haben.
Jetzt schaut ihr verwundert aus euren Leseaugen, aber wer A sagt, muss auch B sagen. Oder? Zu spät ist zu spät, da kann man nix machen. Und B ist dann, mit aller Gewalt das schützen, was man hat. Oder wie bietet man seinen geliebten Kindern sonst “Sicherheit”? Ich setze Sicherheit in Anführungsstriche, weil diese Form der Sicherheit natürlich zynisch und trügerisch ist. Wir Europäer*innen “sichern” ja bereits jetzt mit Militär und Grenzschutz, mit Gewalt, Folter und bewusst in Kauf genommenem tausendfachen Toden unseren (neo-)liberalen Lebensstil. Auch das verdrängen viele Menschen so gern. Dass in demokratischen Abstimmungsverfahren der EU ganz legitim beschlossen wurde, Menschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Diesbezüglich sind wir schon in der Zukunft angekommen, denn genau diese Form der “Sicherung” wird jetzt noch ungeahnte und unvorstellbare Ausmaße annehmen, wenn wir nicht endlich neue Wege gehen. Wollen wir EU-ler*innen weiterhin einen solch gewaltvollen Grenzschutz? Oder wie wollen wir leben? Wie wollen wir gelebt haben? Welche Welt wollen wir unseren Kindern überantworten?
Okay, dieses AFD-Droh-Szenario ist die Hölle. Das ist keine gute Zukunftsaussicht. Ich gab mir alle Mühe, meinen inneren Monolog weiter voranzutreiben. Also: Was kann ich dafür tun, um das zu vermeiden? Noch versuchte ich mich am Demonstrieren vorbeizuschlawenzeln. Ich hielt es für wirksamer, ein Buch zu schreiben, eins über Utopien und Literatur. Neue Utopien braucht das Land! Einige Wochen und etwa 20 unsicher getippte Seiten auf dem Computer später, mich weiterhin einsam um mich selbst und meine neuesten Leseerkenntnisse kreisend, kamen sie wieder und weitaus stärker als zuvor zurück, diese nagenden Zweifel mit der Frage: Reicht das? Was macht die Welt in den fünf Jahren, in denen ich an meinem Buch schreibe? Muss ich nicht parallel noch etwas tun? Mich schon vorher der Welt zeigen? Wäre es nicht vielleicht doch ein gutes Zeichen, in der Stadt, in der ich lebe und atme, auf die Straßen zu gehen? Panik ergriff mich, so viel Respekt hatte ich davor, mich öffentlich derartig zu entäußern. Die Nacht vor meiner ersten Demo konnte ich nicht schlafen, ich war davon überzeugt, dass es “für mich” falsch war, aber gleichzeitig “allgemein irgendwie richtig”. Irre Gefühle.
Im September 2019 ging ich also das erste Mal auf die Straße. Wir waren eine relativ große Gruppe; meine damals elfjährige Tochter (mit Plakaten, die wir liebevoll den Abend zuvor beschrieben und bemalt hatten, tief in Weltgespräche versunken) und etwa sechs ihrer Freundinnen und Schulkamerad*innen. Auch einige meiner Freundinnen waren dabei; und einige Bekannte traf ich dort unverhofft, was ein relativ schönes, warmes Gefühl war. Pumpte mein Herz anfangs noch wie wild vor Aufregung, bemerkte ich doch bald, dass es gar nicht so anstrengend war wie immer gedacht. Ganz im Gegenteil: Schritt für Schritt bekam ich mehr Energie. Das hatte ich nicht erwartet. Da waren Leute mit so vielen unterschiedlichen selbstbeschriebenen Plakaten. Da waren die Fridays, die sich mit Spaß und Wut gleichzeitig die Kehle aus dem Leibe schrien. Ich sah eine Performance, in der Aktivist*innen als Tiere verkleidet, mitten auf einer der sonst meistbefahrenen Kreuzung der Stadt die untergehende Welt beweinten. Und plötzlich weinte ich ganz untheatralisch mit, meine Tränen hatten wohl plötzlich das Gefühl, am rechten Ort zu sein. Anscheinend gab es hier in meiner Stadt Menschen, die eine ähnliche Trauer und auch Wut auch in sich trugen, die vielleicht ähnliche Wahrnehmungsfühler hatten wie ich! Ich ging dann daran anschließend noch mit meiner kleinen Mädchengruppe auf die Demo in der großen Stadt nebenan, und was ich hier an Menschenmassen und Aufbruchsstimmung in den Straßen sah, vibriert und musiziert bis heute in mir.
Seitdem ist so viel passiert. Alle damals als Tiere verkleideten Aktivist*innen sind mir mittlerweile lieb und teuer. Einen Monat später war ich bei der Gründung der Ortsgruppe der Parents for Future dabei. Wieder einen knappen Monat später gründeten wir das städtische Klimagerechtigkeitsbündnis, in dem sich alle schon aktiven klimabewegten Gruppen zusammenfanden. Es ging ganz einfach, ein Schritt folgte dem nächsten. Ein paar Monate später dachte ich schon, ich mache das seit Jahren. Es tut so gut, die Weltschmerztrauer, die – Achtung Spoileralarm! – leider nicht weicht, mit Aktivsein zu verbinden. Denn dadurch steht die Trauer nicht mehr alleine da, ich brauche nicht mehr nur jammern und klagen über unmögliche Zustände, sondern ich kann jetzt sagen: Ich tue meinen Teil. Er ist winzig winzig klein, und ich möchte so oft verzweifeln ob der kleinen Schritte, die wir vorankommen, gegenüber der großen klimakrisenverursachten und -verursachenden Desaster, die sich tagtäglich aus den Nachrichten über mich ergießen, sich bereits im Wald nebenan ereignen, und die sich durch fehlende konsequente Klimapolitik auch weiterhin verschärfen und verstärken werden. Noch immer werden der Klimagerechtigkeit entgegenwirkende fatale politische Entscheidungen getroffen, die oft noch jahrelang Geltung und reale Auswirkungen auf unsere Lebensgrundlagen und die uns nachfolgenden Generationen haben werden.
Verzweifeln daran und Freude über unsere kleinen Erfolge wechseln sich ab; es ist nicht weniger Auf und Ab im Leben geworden. Aber ich teile es nun mit Menschen, die ähnlich fühlen, oder zumindest ebenfalls das eine Ziel haben: unter der 1,5-Grad-Grenze zu bleiben, weil darüber kaum gutes Leben mehr für uns Menschen möglich ist. Es gibt mittlerweile so viele Menschen, die nichts weniger als die Welt für die Menschheit und ihre Mitbewohner*innen retten wollen, und denen es zudem nicht zu pathetisch ist, das laut und deutlich auszusprechen. Vielleicht ist das vermessen und größenwahnsinnig, aber geht es denn noch darunter?
Manchmal verstehe ich nicht, was Menschen, die noch nicht in ihr Aktivsein gefunden haben, uns Aktivist*innen vorwerfen: dass wir die Welt für unsere Kinder lebenswert erhalten wollen? Ohne Krieg und Katastrophen jeglicher Art, ausgelöst durch Klimakrise und Kampf um Ressourcenknappheiten usw. usf.? Sie sagen, unser Fehler sei die Kompromisslosigkeit, wir seien zudem realitätsfern und zu radikal. Zu den zwei ersten Vorwürfen hätte ich auch viel zu sagen, alle drei sind sich zudem sehr ähnlich. Ich gehe jetzt aber nur auf den dritten ein. Ich beginne, Radikalität neu zu besetzen: Radikal wäre für mich, wenn ich mein jetziges Tun wieder einstellen würde. Radikal ist für mich, wenn sich die Parteienpolitik weiter an dem Thema Klimakrise vorbeischlängelt und die Entscheidungsträger*innen ihre politischen Entscheidungen und Handlungen lediglich grün waschen. Radikal ist, wenn immer noch Autobahnen durch Wälder und Dörfer gebaut werden, Dörfer immer noch dem Kohleabbau weichen müssen, in Kolumbien immer noch Menschen sterben für unsere Kohle, das alles finde ich radikal.
Ich bin hier die Konservative. Ich möchte ein gutes Leben für meine Kinder und alle anderen auch zukünftig bewahren. Ich habe verstanden, dass dies nicht geht, indem wir unseren Status Quo erhalten. Ein Weiter-So ist zerstörerisch und radikal und macht das gute Leben für alle in Zukunft unmöglich. Radikal und extrem ist, wie viele Menschen schon seit Jahrzehnten unter massiven Klimakrisenfolgen leiden. Radikal ist, wie lange wir globalen Nordler*innen nicht hingeschaut haben und es als nicht zu uns zugehörig abgetan haben, uns nicht für zuständig gehalten haben.
Ich habe verstanden, dass wenn ich ein gutes Leben für alle auch uns nachfolgender Lebewesen auf diesem zerbrechlichen, bereits so beschädigten Planeten Erde will, ich aktiv sein muss. Ich habe verstanden, dass auch wenn ich nicht direkt darum gebeten wurde, ich dennoch Verantwortung in meinen Händen halte. Diese Verantwortung nicht anzunehmen oder aus den Händen zu legen, hat nichts mit Freiheit zu tun. Frei agieren und atmen kann ich nur, wenn ich meine Weltverbundenheit anerkenne und annehme und meine Freiheit und meine Abhängigkeiten innerhalb der planetaren Grenzen neu auslote und überhaupt erst einmal emotional und mental in Kontakt miteinander bringe. Was ich damals als Kind gelernt habe, dass ich nichts dafür kann und ich mich deswegen auch nicht darum kümmern muss, das galt nur so lange, wie ich Kind war. Aber als Erwachsene habe ich das Recht nicht mehr. Das nur imaginierte Recht auf Verdrängung und Ignoranz ist in Wahrheit ein Privileg, das ich dafür nutzen kann, nicht aktiv werden zu müssen.
Es ist nicht richtig zu sagen, dass es ein Kampf ist, den unsere Kinder allein kämpfen müssen. Unsere Kinder sollten doch von uns Erwachsenen lernen, was es bedeutet, ab einem gewissen Alter Verantwortung für sich selbst und die Welt zu übernehmen. Ich befinde mich gerade mitten in der Beantwortung der Frage, die ich weiter vorne noch offen gelassen hatte. Kinder sollten natürlich nicht mit Verantwortung belastet werden und mit Schreckensnachrichten zugemüllt werden. Sie sollten aber auf eine Verantwortungsübernahme vorbereitet werden. Schulfächer wie Empathie und Zukunftsfähigkeit wären geeignet, um Verantwortung aufzuzeigen, und dies ganz ohne Panik und Schrecken. Durch das frühe Verinnerlichen einer Weltverbundenheit würden die Kinder vielmehr ganz natürlich auf eine selbstverständliche Übernahme vorbereitet; sie würden sich zudem von klein auf viel weltverbundener in ihren planetaren Lebensräumen bewegen. Sie hätten im besten Falle Lust und Vorfreude auf die Verantwortungsübernahme.
Aktuell findet so etwas gar nicht, oder zumindest viel zu wenig statt, weder in der Schule noch zu Hause, ist meistens abhängig von besonders engagierten Lehrer*innen und Eltern. Denn das Credo in der Erwachsenenwelt ist immer noch: Verantwortung im Sinne der Weltverbundenheit zu übernehmen oder es zu lassen, wird in den Ermessensspielraum jedes einzelnen Menschen gelegt. So wird auch unser Freiheitsbegriff ausgelegt. Und ich glaube, dass genau das einer der Gründe dafür ist, dass viele Erwachsene des globalen Nordens gar kein Verantwortungsgefühl besitzen, und dass sie genau deswegen nach vielen Jahrhunderten an dem Punkt angekommen sind, an dem sie halt jetzt so rumstehen und sich verwundert die Augen reiben. Sie haben weder als Kinder noch als Jugendliche gelernt, die Verantwortung zu sehen und zu erkennen, die doch eigentlich in ihren Händen liegt. Seit den Fridays ist es nun so, dass ihre Kinder sie lehren, was es bedeutet, Verantwortung zu übernehmen. Ganz schön ver-rückt alles.
Ich frage mich dann: von welcher Welt in zehn bis zwanzig Jahren gehen noch nicht klimabewegte Eltern, Großeltern, Menschen für ihre Kinder oder die nächsten Generationen aus? Werden sie einmal stolz sein auf ihr Vermächtnis? Denken sie überhaupt darüber nach? Oder hoffen sie auf die Art Glück, von dem ich als Sechsjährige erfuhr: das Glück, das unserer Generation hier im globalen Norden größeres Leid wie Krieg und andere Katastrophen erspart hat? Hoffen sie, dass auch ihre Kinder noch so derartig privilegiert sein werden wie wir, dass sie nie direkt betroffen sein werden?
Und da ist es wieder: “Betroffensein”: Was ist das überhaupt: “direktes Betroffensein”? Mittlerweile stufe ich mich unbescheiden als “direkt betroffen” ein, wenn es zwei Wochen lang aus mir herausweint, weil der Amazonas brennt. Und es betrifft mich, wenn vor drei Wochen die Nachbarinsel der Insel, auf der mein Mann geboren und aufgewachsen ist, dem Erdboden gleichgemacht wurde. Es betrifft meinen Mann, aber es betrifft auch mich und meine Kinder; und ich würde meinen, es betrifft alle Menschen dieser Welt, wenn Hurrikane klimawandelbedingt zunehmen. Natürlich gibt es unterschiedliche Betroffenseinsgrade. Aber ich finde es wichtig, das eigene Betroffensein anzuerkennen, weil daraus zunächst einmal Handlungsmacht erwächst, die dann genutzt werden kann, um je eigene Kompetenzen zu nutzen und sich anzueignen.
Der Hurrikan traf eine Insel mit Menschen, die nicht das Geringste dafür können, sondern ganz im Gegenteil schon seit vielen Jahren alles in ihrer Kraft Stehende tun, damit so etwas nicht passiert. Der Hurrikan traf SIE, ganz unmittelbar, IHR Haus ist zerstört, nicht meins, IHR Essen für den nächsten Tag nicht gesichert. Die Auswirkungen treffen und betreffen sie ganz anders als mich. Aber in ihrer Macht allein liegt es nicht, dass Hurrikane und Zerstörung nicht immer mehr zunehmen. Das liegt vor allem in der Macht der Staaten des globalen Nordens. In einem solchen lebe ich, also betrifft es auch mich. Nur, wenn auch ich hier im globalen Norden mein Betroffensein anerkenne, ist Klimagerechtigkeit möglich. Sie wird möglich, wenn ich meine Verbundenheit anerkenne und ich mich genauso verantwortlich für Providencia fühle wie für die Bäume und Blumen und Kohlköpfe in meinem Garten. Und je mehr ich diesen Gedanken zulasse und mich von den alten, meines Erachtens falschen Konzepten und Stabilität vortäuschenden Denkkonstrukten entferne, desto mehr kann ich mich als von dieser Welt erkennen, desto mehr finde ich Halt unter meinen Füßen, stehe ich mit der ganzen Welt ganz unbescheiden in Verbindung, halte Kontakt, lasse Nähe und Verbundenheit zu.
Das ändert alles. Es vergrößert den Schmerz, wenn Zerstörung geschieht. Aber es vergrößert auch die Wut, es vergrößert meinen mir selbst zugesprochenen Wirkraum. Ich nehme ihn einfach ein, und ich spreche einen solchen Raum anderen, oft noch viel aktiveren Menschen als mir zu. Ich mache unsere noch so kleinen Schritte nicht mehr klein. Ich nutze mein Privileg, so gut ich eben kann, indem ich die planetaren Grenzen akzeptieren lernen möchte. Und ich deute meine Freiheit als eine, die mir jetzt noch ermöglicht, aktiv zu sein. Ich möchte damit gleichzeitig meinen Töchtern zukünftige, weltverbundene Freiheiten bewahren. Neoliberal geprägte Freiheitsvorstellungen werden zukünftig mit noch mehr Unfreiheit anderer Menschen, Zerstörung von Lebensgrundlagen, Gewalt und Abschottung aufrecht erhalten werden müssen. Wenn wir es nicht schaffen, unsere Freiheiten erd- und weltverbunden auszurichten; wenn wir es nicht schaffen sollten, unsere Gesellschaft und unser Wirtschaften auf grundsätzlich andere Fundamente zu stellen, dann wird auch diese erst zu erarbeitende “neue Freiheit” nicht mehr selbstverständlich sein, vielleicht sogar gar keine Möglichkeit mehr für die uns nachfolgenden Generationen sein.
So viele Menschen halten sich weiterhin an Denkgerüsten und in Netzen fest, in denen sie bisher in Sicherheit haben leben und arbeiten können und für ein gutes Leben für sich und ihre Lieben sorgen konnten. Warum davon loslassen? Ist nicht noch alles gut? Was für ein herrlicher warmer sonniger November hier im Süden Deutschlands! Warum muss ausgerechnet ich etwas tun, fragen sie sich, wie auch ich noch vor einem Jahr. Ich verstehe das. Doch zurück dahin möchte ich nie nie nie wieder. Zu viel, viel zu viel ist in mir passiert, zu viel Gutes aufgeplatzt, überhaupt erst einmal an den richtigen Platz gerückt. Ich lerne so viel über mich dazu, fast täglich. Teilweise habe ich das Gefühl, ich lerne jetzt erst viel von mir kennen; in gewisser Weise erkenne ich mich immer öfter selbst wieder.
Natürlich wünsche ich mir noch immer manchmal, ich könne weiter “nur Kultur” machen. Doch dann denke ich weiter: ist nicht genau das das Problem? Dass “die Kultur” denkt, sie hätte nichts mit der Klimakrise zu schaffen? Ist es nicht so mit allen Menschen, die um das Ausmaß der Klimakrise wissen und sich aber immer noch nicht der Klimabewegung verschrieben haben? Dass sie denken, ihre Fähigkeiten liegen nicht innerhalb der Klimabewegung, so wie ich das noch vor gut einem Jahr dachte? Und wenn es nun so ist, wie ich glaube, nämlich dass wir es uns nicht mehr leisten können, auch nur irgendetwas unseres Tätigseins nicht mit der Klimafrage zu verbinden? Wir können ab und zu flüchten, okay, aber alles muss jetzt jetzt jetzt miteinander verbunden werden.
Zukunftsfähige Netzwerke müssen geknüpft werden, wir müssen uns neue Gerüste bauen, in denen wir Halt und Stabilität finden. Damit wir in zehn bis zwanzig Jahren nicht ins Leere fallen. Erst nach ungefähr einem Jahr Klimaaktivismus habe ich verstanden, dass ich viel mehr “Kultur” in die Klimabewegung tragen muss. Dass Klimaaktivismus nicht bedeutet, mich nun in all die fremden Gebiete wie Landwirtschaft und Solaranlagenspeicherkapazitäten einarbeiten zu müssen. Zumindest nicht nur. Ich bringe jetzt ganz unbescheiden mein ureigenes Spezialgebiet “Literatur und Kultur” mit ein. Da bin ich gut, das kann ich. Und es fehlt doch, ich sehe da jedenfalls viel zu wenig. Und noch ernte ich für diesen Ansatz auch unter den Klimabewegten oft fragende Blicke, oft heißt es: “Können wir bitte zum eigentlichen Thema, nämlich Klimaschutz, zurückkehren?” Aber wie nehmen wir die Menschen mit? Allein mit Technozentrismus doch nicht. Also frage ich zurück: Wie soll gesellschaftlicher Umbau vorangehen, wenn Gesellschaft und Kultur ihr ganzes Wissen und Können und Handeln und ihre Denkkapazitäten nicht auch in die klimabewegte Waagschale einwerfen?
Die Künstler*innen und Schriftsteller*innen haben – nicht nur, aber doch viel zu oft – die letzten Jahrzehnte über oft in masochistischer Manier das bürgerliche Leben ausgequetscht und analytisch blutleer gesaugt, haben sich in sich selbst gedreht und gespiegelt. Sie sollten jetzt auch herauskommen aus dem Schneckenhaus und sich der Kunst und Kultur der großen weiten Weltverbundenheit zuwenden. Wir brauchen sie so dringend: neue Konzepte, neue Lebensentwürfe müssen denkbar gemacht werden, unsere Körper*innen müssen in neue Denkstrudel geworfen werden. Wo ist die Literatur, die angeblich am Puls der Zeit rumwerkelt? Zum Haareraufen abwesend in einer klimakrisenhaften Welt. Warum bewegt die Klimakrise nicht die hiesige Literatur? Ich finde das eine immens wichtige Frage.
Aktiv werden bedeutet vor allem, in Bewegung zu kommen. Und diesen Satz verstehe ich selbst erst, seitdem ich selbst aktiv geworden bin. Ich weiß von mir selbst, dass ich nicht von anderen Mitmenschen verlangen kann, dass sie sich von heute auf morgen grundlegend verändern. Zu verstrickt sind ihre Leben in das noch Stabilität versprechende System. (Nur zu genau hinsehen darf man halt nicht, dann sind überall schon Risse und Löcher sichtbar; die Corona-Zeit klatscht uns ein solch Abgründe offenbarendes Sicherheitsloch direkt ins Gesicht.)
Und keine noch so gut geschwungene Moralkeule wird das schaffen, kein noch so schlimmes Schreckensszenario wird noch nicht klimasensibilisierten Mitmenschen vermitteln, dass sie aktiv werden müssen. Sie erfahren so auch nicht, wie sie ins Aktivwerden kommen können. Viele Klimaaktivist*innen glauben, Aktivwerden sei einfach, nur weil es nötig ist. Oder weil es für sie einfach war. Oder weil sie vergessen haben, wie schwer es auch für sie einmal war. Deswegen möchte ich nicht vergessen, wie schwer es für mich war, aktiv zu werden. Jeder Mensch ist in unterschiedlichen Maße bewusst oder unbewusst, gewollt oder ungewollt in das System verstrickt. Ich finde es wichtig, die Menschen dort abzuholen, wo sie gerade sind. Mir ist egal, ob sie bei Daimler noch am Verbrennungsmotor rumtüfteln. Mir ist egal, ob sie aktuell glauben, dass Mülltrennung und Fahrradfahren allein die Welt rettet. Wichtig ist anzufangen, in Bewegung zu kommen. Wo eine Person gerade noch gestanden hat, kurz vor diesem krassen Moment des Loslaufens, in dem sie die Verantwortungsfäden in ihren Händen das erste Mal bewusst wahrgenommen und betastet und umschlossen hat, ist mir ganz egal.
Ob ich glaube, dass meine Arbeit als Klimaaktivistin wirksam und sinnvoll sei, werde ich von vielen Nicht-Klimaaktivist*innen gefragt. Das weiß ich nicht. Ich taste mich mit anderen Klimabewegten Schritt für Schritt voran, in die Richtung, die wir gerade für richtig und in unserem Kompetenzradius für umsetzbar halten. Wir wollen immer mehr als das, was wir letzten Endes auf die Beine zu stellen vermögen. Wir sind immer zu wenig. Aber egal wie viele wir sind: wir wollen mit jeder Aktion nichts weniger als die Welt für die Menschen lebenswert halten. Indem wir Bewusstsein bei anderen schaffen, Möglichkeiten des Aktivwerdens und -seins aufzeigen usw. usf.
Wir stützen uns auf Forschungen, ziehen Schlüsse aus Entscheidungen aus der Parteienpolitik, schauen, was anderswo schon gedacht und ausprobiert wurde. Manchmal besuchen wir imaginär verschiedene Zukünfte und lassen uns dort beraten. Dann reisen wir zurück und beginnen Dinge in Bewegung zu bringen, die bei unseren Zukunftsbesuchen sinnvoll und zukunftsfähig erschienen. Mir ist bei allem, was ich tue, am wichtigsten, dass ich in Bewegung bin und dabei in touch mit der Welt bleibe. Den zukünftigen Rest, was daraus wird, hängt nicht nur von meinen Schmetterlingsflügelschlägen ab und weiß letzten Endes nur die Eule der Minerva (seit unserem Gespräch hier lässt sie mich nicht mehr in Ruhe; danke Antje Schrupp für diese inspirierende Unruhe).
Ich weiß nicht immer genau, warum mir bestimmte Lieder während eines Textenstehungsprozesses in den Sinn kommen. Dieses Mal war es von PeterLicht “Dein Tag” vom großartigen Album Melancholie und Gesellschaft, das schon seit vielen Jahren mögliche Aktivseinshebel in mir spürbar, in Schwingung und in Position gebracht hat. Wer’s nicht nur lesen, sondern auch hören will.
PeterLicht
DEIN TAG
Diese alte Liebe
Dieser neue Tag
Ein letzter Blick
Ein letzter Rest
Von letzter Luft
Ein weißer Himmel
Ein weißes Bett
Und das schieben wir
Das schieben wir in die Luft
Mal sehen wo’s hinfliegt
Die Sonden, die Maschinen
Die Infusionen
Die stellen wir ab
Mal sehen wo’s hinfliegt
Es ist genug, genug
Es war genug
Wir stellen es ab
Und dann dreht sich das Segel
Und ein neuer Wind kommt auf
Die Reise geht
Zurück an den Anfang
Und es blinkt in der Nacht
Ein heller, klarer Blick
Das ist dein Tag
Deiner, deiner, deiner
Dein Tag
Deiner, deiner, deiner
Wo du jetzt bist
Und wo du jetzt schon nicht mehr warst
Wo du jetzt bist
Das möchte ich wissen, wissen, wissen, wissen, wissen
Diese alte Liebe
In eine neue Kiste
Auf in eine weite Nacht
Schwärzer, schwärzer wird es nicht mehr sein
Nur ein paar alte Sachen
Die würde ich gern noch wissen
Den Rest könnt ihr haben, den Rest, den Rest
Das ganze alte Zeug
Wir lassen es fallen
Es streut sich im Wind
Du wirst es verstehen
Der Himmel ist voll
Von dir und dem deinen
Wir lassen es fallen
Komm lass uns gehen
Denn jetzt dreht sich das Segel
Und ein neuer Wind kommt auf
Die Reise geht
Zurück an den Anfang
Und es blinkt in der Nacht
Ein heller klarer Blick
Das ist dein Tag
Deiner, deiner, deiner
Dein Tag
Das ist dein Tag
Deiner, deiner, deiner
Dein Tag
Deiner, deiner, deiner
Wo du jetzt bist
Und wo du jetzt schon nicht mehr warst
Wo du jetzt bist
Das möchte ich wissen, wissen
Wir wissen
Es ist schwer zu gehen
Wenn alle, alle, alle, alle anderen bleiben
…bin noch nicht fertig mit lesen,
will´s nur nicht vergessen zu sagen:
das von dir mehrfach benützte Wort radikal
hat bei mir anderen Sinn und eine wesentliche Bedeutung.
Liebe @Antje, gute Frage. Ich glaube, du hast mir klargemacht, dass ich da mit der Analyse noch nicht wirklich fertig bin. Zunächst ist es eine eher weniger bewusste Entscheidung gewesen, die Denkumenta außen vor zu lassen. Nachgedacht darüber habe ich anfangs schon, aber es ist nochmal ein großes Fass und hätte den Text noch länger gemacht, deswegen habe ich das beiseite geschoben und wollte den drei Fäden folgen, die gerade sehr intensiv zum Greifen und Aufschreiben da waren.
Die Denkumenta ist in allem, was ich schreibe, enthalten. Auch in dem Text. Zum Beispiel ist dieser Gedanke des “Abholens” mittlerweile so tief in mir verankert, seit ich von diesem in einem Diotima-Buch (ich weiß gerade nicht welches, eines der ersten) gelesen habe. Da ging es darum, dass in die Frauengruppen in Italien sehr unterschiedliche Frauen kamen, mit sehr sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Loslaufpunkten in Bezug auf feministisches Denken und Leben. Und es gab dann anfangs und sicher auch zwischendurch immer Konflikte: Frauen kamen nicht wieder, weil sie sich und ihre Erfahrungen nicht “enthalten” und mitgedacht oder übergangen fühlten. Darüber haben die Frauen dann ausführlich debattiert und nachgedacht, weil es ja nicht der Sinn war, nur für wenige, möglichst homogene Frauenerfahrungen Anlaufpunkt zu sein. Ich fand das einen so wichtigen und spannenden Punkt damals. Ich höre nicht auf, darüber nachzudenken und ihn im Selberanwenden zu erproben.
Kurz nach der Denkumenta hatten wir ja gesagt, es wäre schön, über die Erfahrungen und das Erleben und die Wirkung auf der Denkumenta zu reflektieren. Bisher habe ich da tatsächlich noch keinen adäquaten “Schreib-Umgang” mit gefunden. Ich glaube – jetzt hast du mich angefixt Antje, hehe, – ich würde jetzt in einem nächsten Schritt darüber nachdenken, wie ich dies in die oben gemachten Reflexionen einflechten kann. Also es ist ja schon eingeflochten, also für mich innerlich, es gehört ja zusammen, ich konnte ja nur im Zusammenspiel von “Denkumenta” (auch als Symbol für alles drumherum, deswegen Anführungsstriche) und Klimabewegung überhaupt politisch aktiv werden, ich habe es nur hier aus irgendeinem Grund hier im Schreiben noch nicht eingeflochten.
Und nein, um schon mal einen Teil deiner Frage zu beantworten: das ist für mich natürlich nicht nur “Kultur”, sondern Politik, und zwar mit Haut und Haaren. Aber… es ist eine andere Form von Politik, die irgendwie anders… wirkt oder.. sagen wir mal so… mein Sein anders einnimmt. Ich muss darüber wirklich besser und gründlicher über einen längeren Zeitraum nachdenken. Danke für den Anstoß.
Liebe @Fidi Bogdahn, Sinn und Bedeutung von “radikal” für dich würde mich sehr interessieren!
Ja, sehr inspirierend… unsichtbares politisches Handeln… das klingt jetzt nach in mir… :)
Danke, voll gut!
Dein Artikel bewegt mich sehr, Anne, insbesondere, dass es Dir so wichtig ist. nicht nur politisch zu denken sondern auch zu fühlen. Ich vermute, dass politische Fühlen kann ganz andere Energien mobilisieren und dann ist es wichtig, nicht im Fühlen stecken zu bleiben, sondern über das politische Denken Lösungen zu finden. – Was mir sehr gefällt, ist Dein Gedanke, Kindern schon früh ihre Weltverbundenheit zu vermitteln.
Danke, liebe Juliane <3
Liebe Anne, danke für deine Schilderung! Du schreibst, dass im September 2019 deine erste Demo war. Im August 2019 hast du an der Denkumenta in Arbogast teilgenommen – war das “noch Kultur” oder “schon Politik”? Ich muss zugeben, dass mir noch nicht ganz klar ist, wo da für dich die Unterscheidung verläuft und wie du sie definierst.