Forum für Philosophie und Politik
Von Sandra Divina Laupper, Ida Dominijanni
Sind Frauen die Verliererinnen der Corona-Krise? Nein, sie sind Protagonistinnen eines Zivilisationssprungs! Dieser Text erschien im Mai 2020 aus Anlass der Covid-Pandemie. Einige der Unterzeichnerinnen sind dem Mailänder Frauenbuchladen oder der Philosophinnengruppe Diotima in Verona verbunden.
Anmerkungen der Übersetzerin Sandra Divina Laupper: Dieser am 12. Mai 2020 auf der Webseite der Libreria delle donne di Milano erschienene Text richtet sich gegen die in jenen Wochen in den Medien immer wieder aufgegriffene These, die Frauen seien die Verliererinnen der Corona-Krise. Er zeigt hingegen klar auf, welche Herausforderung es ist, der sich die Menschheit heute zu stellen hat – und welche Rolle wir Frauen uns bei der Bewältigung dieser Herausforderung zuschreiben dürfen.
Ida Dominijanni, die Autorin dieses Textes, ist eine wichtige politische Autorin, die sowohl in Form von Büchern, als auch in Form von Artikeln und philosophiepolitischen Abhandlungen immer wieder mit gesellschaftspolitisch relevanten Stellungnahmen an die Öffentlichkeit getreten ist. Sie ist militante Feministin und hat für lange Zeit als Journalistin fùr die linke Tageszeitung “Il Manifesto” gearbeitet. Ida Dominijanni hat öffentlich darum gebeten, diesen Text möglichst weiterzuverbreiten, auf allen zur Verfügung stehenden Wegen. So bin ich auf die Idee gekommen, ihn ins Deutsche zu übersetzen. Denn die Bedeutung dieses Textes reicht meiner Meinung nach über die Grenzen Italiens hinaus.
Der Sprung
Verletzlichkeit. Beziehung. Gegenseitige Abhängigkeit. Fürsorge. Das sind Begriffe, die aus der Alltagserfahrung der Frauen stammen, Begriffe, die in den politischen und theoretischen Diskurs des Feminismus eingegangen sind und dort seit Jahrzehnten behandelt und aufgearbeitet werden. Es sind Begriffe, die in den Mund zu nehmen noch vor zwanzig Jahren bedeutete, sich mit avantgardistischen und noch als sehr minderheitlich empfundenen Themen zu befassen. Es sind aber Begriffe, die heute, zu Zeiten des Corona-Virus-Notstandes, zu mehrheitlich verbreiteten Begriffen geworden sind. Covid-19, ein Virus, das sehr wenig mit der Natur zu tun hat, insofern es das gesellschaftsbedingte Produkt der frevelhaften (männlichen) Politik der Ausbeutung und Vernichtung der Natur ist, bringt uns heute dazu, dass wir uns alle verletzlich fühlen. Die notwendigen aber grausamen Maßnahmen der sozialen Distanzierung haben selbst die verbissensten Individualisten zur Einsicht gebracht, wie wertvoll und unverzichtbar die affektiven, die sozialen und die politischen Beziehungen sind. Wir haben entdeckt, dass wir in Hinblick auf die Ansteckungen jede und jeder für den anderen und die andere sowohl eine Gefahr wie eine Rettung darstellen, und diese Entdeckung hat uns endlich unserer gegenseitigen Abhängigkeit bewusst werden lassen. Genauso sind wir uns der Tatsache bewusst geworden, dass „niemand sich von alleine retten kann“, um es mit Papst Franziskus zu sagen (der Text bezieht sich auf das Gebet des Papstes, das am Abend des 27.03.2020, Freitag, unter strömendem Regen vor einem Covid-bedingt vollständig leeren Petersplatz stattgefunden hat; ein Gebet, das breite Resonanz in den Medien gefunden hat; Anm. d. Ü.). Schließlich rückt Covid-19, genauso wie all jene sozialen Krankheiten, die das Virus verschärft hat (Armut, Ausgrenzung der alten Menschen, Ungleichheiten, Formen der Ungleichbehandlung), die Frage der Pflege und Fürsorge in den Mittelpunkt der Krise, die wir gerade durchlaufen: die ärztliche Pflege, aber auch die vielfältigen Formen der Fürsorge für andere (Angehörige oder auch nicht), zu denen mehr Frauen als Männer fähig sind, können nicht mehr als Selbstverständlichkeit oder auch nur als zu vernachlässigende Nebensache angesehen werden.
Diese vier Begriffe, die heute im Mittelpunkt des öffentlichen Diskurses stehen, sind Teil einer althergebrachten aber stets präsenten Erfahrung der Frauen. Es ist nicht notwendig zu erklären, warum es so ist, dass die Tatsache, immer schon der männlichen Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein, uns auch schon immer das Bewusstsein vermittelt hat, verletzlich zu sein; oder warum es so ist, dass die Beziehung zur Mutter uns schon immer klar gemacht hat, dass wir von einer anderen als uns selbst geboren werden und dass wir ohne jene ursprüngliche Beziehung nicht existieren würden; oder warum es so ist, dass für uns Frauen die Fürsorge für andere nicht zu trennen ist von der Fürsorge für uns selbst und für die Welt. Es ist aber notwendig zu unterstreichen, dass wir uns als stolze Inhaberinnen dieser vier Begriffe ansehen: Wir verbinden mit diesen Begriffen nicht die Last eines Schicksals, sondern sehen in ihnen den zündenden Funken für eine bessere Zukunft, für uns Frauen und für die gesamte Menschheit. Diese Begriffe beinhalten die Notwendigkeit jenes Zivilisationssprunges, den die gegenwärtige Konstellation der gesundheitlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gegebenheiten fordert.
Als Zivilisationssprung bezeichnen wir eine sowohl subjektive, als auch wirtschaftliche, sowie soziale und politische Veränderung, die jegliche Form von Beziehung und auch die mit einer Beziehung verbundenen gegenseitigen Abhängigkeiten über die anmaßenden Forderungen des souveränen Individuums stellt, aber auch jede Form von Verletzlichkeit und Fürsorge über den nekrophilen Anspruch auf Allmacht, und auch das Gemeinwohl über das aufgesplitterte Interesse und den Profit, sowie das Vorstellungsvermögen und die politische Erfindungskraft über die ständige Wiederholung der Schachzüge der Macht. Dieser Zivilisationssprung trägt ein weibliches Zeichen, weil er seine Kraft aus der Erfahrung bezieht, die die Frauen im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende von all dem gemacht haben, was sich „Geschichte“ nennt – und weil er seit Jahrzehnten in der vom Feminismus auf die Welt gebrachten Politik lebendig ist. Es ist ein Sprung der gesamten Gattung, bei dem die Frauen nicht etwas für sich einfordern, sondern für alle einen neuen Weg öffnen.
Deshalb nehmen wir uns in der gegenwärtigen Lage als unabdingbare Protagonistinnen wahr, nämlich als Protagonistinnen, die für jegliche Entwicklung von zentraler Bedeutung sind. Wir fühlen uns in keinster Weise diskriminiert, benachteiligt, unterlegen, zurückgeworfen in eine frühere Form der Unterdrückung, wie es hingegen ein hartnäckig wiederholter lästiger Refrain, der tagtäglich von den dominierenden Medien angestimmt wird, von sich gibt. Ein Refrain, der leider fast immer von Frauen angestimmt wird, die unautorisiert im Namen aller Frauen sprechen. Ein Refrain, der heute in der mangelnden Präsenz von Frauen in dem für die Corona-Krise aktivierten Krisenstab das Zeichen der Diskriminierung und der Niederlage der Frauen sieht, und in der Arbeit, die die Frauen im Bereich der Fürsorge und Pflege leisten, das Zeichen eines Fluches. Ein Refrain, der mit lauter Stimme die Zulassung zu den „Orten der Entscheidungstätigkeit“ fordert, sowie die Emanzipation von der reproduktiven Arbeit zu Gunsten einer stärkeren Einbeziehung der Frauen auf den Markt der produktiven Arbeit, wo sie auch glänzendere Karrieren erringen sollten.
Wir leugnen nicht, dass diese beiden Fakten – die Unterbewertung und mangelhafte Inanspruchnahme der weiblichen Kompetenzen einerseits und die Ausbeutung der doppelten Arbeit der Frauen, nämlich der häuslichen sowie der produktiven Arbeit, andererseits – existieren. Aber die Fakten gehören sich interpretiert. Und wir können in jenen Einsatzgruppen, die heute die Tätigkeit der Regierung unterstützen, keine begehrenswerten „Orte der Entscheidungstätigkeit“ erkennen: Uns kommt es eher so vor, als würden wir der Vervielfachung der Orte der Nicht-Entscheidung beiwohnen; Orte der Nicht-Entscheidung, in denen es die Überlagerung von technischen Kompetenzen mit Regierungskompetenzen nicht schafft, jene glaubhafte und glaubwürdige politische Kompetenz wiederzubeleben, die in unseren krisengebeutelten demokratischen Systemen immer schwächer wird. Was hingegen die weibliche Fürsorge betrifft, wissen wir sehr wohl, dass sie ständig Gefahr läuft, von Seiten eines wirtschaftlichen Systems vereinnahmt und ausgebeutet zu werden, das zuerst die öffentliche Fürsorge zerstört hat, um nun darauf zu zielen, diese Fürsorge mit den unentgeltlich zu leistenden Diensten der Frauen zu ersetzen. Aber wir wissen genauso gut, dass die Frauen nicht bereit sind darauf zu verzichten, für das Leben zu sorgen – für das eigene Leben wie für das Leben der eigenen Angehörigen, für die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Menschen sowie für den sozialen Zusammenhalt und für die Umwelt. Denn die Frauen wissen, wie notwendig diese Fürsorge ist und weil die Fürsorge ihre Art ist, der kollektiven Existenz die ihnen eigene persönliche Prägung zu verleihen. Das, was als doppelte Ausbeutung gelesen wird, nämlich sowohl in der produktiven als auch in der reproduktiven Arbeit, gehört sich hingegen als die mehr als angemessene Forderung gelesen, die die Frauen stellen: nämlich als die Forderung, die Produktion nicht von der Reproduktion und die Arbeit nicht vom Leben zu trennen.
Es hat keinen Sinn, dieser doppelten Forderung der Frauen damit zu begegnen, dass man den Frauen die Möglichkeit einer stärkeren Beteiligung am Arbeitsmarkt einzuräumen versucht und dabei die im Bereich der Fürsorge zu leistende Arbeit „vergisst“ oder nicht weiter definierten Personen überlässt. Ganz im Gegenteil ist es notwendig, den Bereich der Reproduktion aus jenem Bereich der Unsichtbarkeit und der Ausbeutung zu holen, in den jener Vorrang, der in unserer Gesellschaft der Produktion eingeräumt wird, eben alles, was mit Pflege, Sorge und Fürsorge – sprich: Reproduktion – zu tun hat, zurückgedrängt hat. Heute ist es wie bisher noch nie offensichtlich geworden, dass dieser Vorrang der Produktion vor der Reproduktion in Frage gestellt werden muss, weil es ein Vorrang ist, der – wortwörtlich gesprochen – das Leben missachtet. Und heute wie nie sind es zuallererst die Frauen, die diese dringende Umkehrung der Prioritäten in der Herangehensweise an die wirtschaftlichen und sozialen Herausforderungen der Gegenwart vorantreiben.
Die Politik der Frauen ist noch nie eine Frage der Zahlen gewesen, und auch nicht eine Frage der fachspezifischen Kompetenzen. Der Feminismus der sexuellen Differenz, der unser Feminismus ist, ist schon häufig – und stets zu Unrecht – kritisiert worden, weil er angeblich eine essentialistische Position vertritt: Aber in Wirklichkeit besteht der wahre Essentialismus darin, einen Gleichstellung-Feminismus zu vertreten, der „mehr Frauen“ in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens fordert, wie wenn das der Zauberspruch wäre, durch den sich alles ändern könnte und wir glücklich werden könnten. Heutzutage sind die Frauen schon überallhin gekommen, und wenn es auch in den höheren Etagen „mehr Frauen“ gäbe, hätte das so gut wie nichts zu bedeuten, solange eine solches zahlenmäßiges Mehr an Frauen nicht auch durch politische Praktiken begleitet würde, durch die die Präsenz dieser Frauen in den „höheren Etagen“ anderen Frauen zur Orientierung dienen könnte; politische Praktiken, die erst wirklich den Unterschied zur bisher gegebenen Ordnung markieren würden.
Wir haben Verständnis für den Wunsch nach gesellschaftlicher Anerkennung, der dieser Forderung zu Grunde liegt, umso mehr in einem Land wie Italien, das mit der Anerkennung – und der Dankbarkeit – uns Frauen gegenüber besonders geizt. Und trotzdem können wir nicht umhin, uns daran zu erinnern, dass die Freiheit der Frauen genau dort beginnt – ja, genau dort ihren historischen Anfang genommen hat, wo wir Frauen gelernt haben, auf die Anerkennung durch die Institutionen des Patriarchats zu verzichten, und dafür gelernt haben, diese Anerkennung eher bei anderen Frauen zu suchen. Genauso, wie wir nicht umhin können, unsere Freundinnen aus Frankreich, die den Appell „Gewährt uns Mitsprache!“ initiiert haben, daran zu erinnern, dass die Mitsprache, genauso wie Freiheit, uns nie gewährt worden ist. Ganz im Gegenteil haben wir uns die Möglichkeit der Mitsprache immer selbst erobert, dank vielen Kämpfen und dank der Austragung zahlloser Konflikte.
Die jämmerliche Forderung nach einer Möglichkeit der Beteiligung demütigt uns, da wir von Virginia Woolf gelernt haben, uns nicht dem „Zug der gebildeten Männer“ – oder eben der kompetenten Männer – anzuschließen. Die Anerkennung der individuellen Kompetenzen kann den Sinn und die Kraft einer politisch wirksamen Subjektivität, die wir auf kollektiver Ebene zuerst erworben haben und immer auf der kollektiven Ebene ständig erneuern, niemals ersetzen. Sollten wir von unserem Geschlecht absehen, um in diesem von der Postmoderne dekretierten unbestimmten Status der Indifferenz der Geschlechtszugehörigkeit, der so sehr dem früheren unbestimmten und unbestimmbaren Status des neutralen modernen Individuums gleicht, anzukommen? Diese Forderung lässt uns auffahren: Wenn wir uns als die Trägerinnen der Veränderung fühlen, dann weil – und nicht obwohl – wir Frauen sind. Wir haben unseren Vorfahrinnen, von denen wir gelernt haben, uns zur Wehr zu setzen, nichts vorzuhalten; und wir selbst haben uns vor unseren Töchtern, denen wir die von uns erarbeiteten Wege, die zur Freiheit führen aber auch selbst schon Ausdruck von Freiheit sind, übergeben, nichts vorzuwerfen. Denn wir sind uns sicher, dass sie diese Wege noch ausbauen, mit neuen Ideen bereichern und verstärken werden.
Unterzeichnerinnen: Maria Luisa Boccia, Tamar Pitch, Giuliana Giulietti, Chiara Zamboni, Diana Sartori, Manuela Fraire, Pat Carra, Bianca Pomeranzi, Fiorella Cagnoni, Vita Cosentino, Wanda Tommasi, Giannina Longobardi, Anna Maria Piussi, Traudel Sattler, Maria Rosa Cutrufelli, Elettra Deiana, Paola Mattioli und Grazia Zuffa.
Link zum italienischen Originaltext
Dann haben wir jetzt also geklärt, dass der Protest gegen Diskriminierung und die Forderung nach Einbezug in die herrschende Ordnung demütigend sind. Denn in Wahrheit sind Frauen Inhaberinnen der rettenden Care-zentrierten Zivilisation und damit Protagonistinnen des notwendigen Zivilisationssprungs. Das zu erkennen, ist ein wichtiger Schritt. Egalitaristinnen, die sich immer noch reflexartig als “Verliererinnen” der zahlreichen Krisen sehen, lesen und verstehen hoffentlich diesen Text. – Und was kommt dann? Dann setzen wir unsere politische Gestaltungskraft in Bewegung: Was wollen wir in Zukunft “produktiv” nennen? Wie bringen wir unseren Care-zentrierten (Re?)Produktivitätsbegriff in eine breite öffentliche Diskussion? Wie kann eine geldgetriebene Wachstumslogik sich in Klimafreundlichkeit transformieren? Wie sieht eine fürsorgliche Geldschöpfung aus? Was soll Christine Lagarde jetzt tun? Wie lassen sich die berechtigten monetären Ansprüche von Care-Tätigen weltweit mit den Zielen des Green Deal verbinden? Welche intelligenten Schritte schlagen wir Kamala Harris vor, und wie kommen wir mit ihr ins Gespräch? Welche Care-zentrierten Entwürfe unserer globalen Zukunft gibt es in Indien und China, in Taiwan, im Kongo und in Chile? – – – Ich bin dabei, wenn wir Schritt für Schritt vorangehen, genüsslich tätig im Sinne unseres zivilisatorischen Erbes, gerade auch heute, am 25. Dezember 2020, am Fest der Geburtlichkeit im Jahr der COVID-19 Pandemie.
@Antje: Das “Wir” in meinem Gesprächsbeitrag ist dasselbe, von dem auch die Autorinnen des “Sprung” extensiv Gebrauch machen: Wir, die wir uns nicht als “die Diskriminierten” verstehen, sondern als Protagonistinnen (das Wort “Inhaberinnen” leuchtet mir weniger ein) der notwendigen zivilisatorischen Transformation. Obwohl ich das Bild des “Sprungs” zutreffend finde, sage ich jetzt trotzdem bewusst “Transformation”. Denn mir kommt in diesem Text eben doch entgegen, was ich zwar manchmal auch mit Lust empfinde, was ich aber mit der ökologisch bedingten Dringlichkeit des aktiven Weiter-Handelns auf Dauer doch nicht für vereinbar halte: ein selbstzufriedenes Sich-ausruhen auf der Gewissheit, dass “wir” durchschaut haben, wie es wirklich ist. Trotzdem stimmt, was du sagst: Es geht nicht um ein “Erst – und dann”, sondern um ein Re-Framing dessen, was schon lange geschieht. Aber es gibt da dennoch eine Ungeduld in mir, die sich nicht vertreiben lässt: Ja, ich finde, dass zwar nicht alle, aber einige von uns darüber nachdenken sollten, was Christine Lagarde jetzt tun soll. Dazu braucht es mehr als die Genugtuung darüber, dass sie selbstverständlich nicht “die erste Frau”, auch nicht die zweite oder dritte im globalen Finanzgebäude ist. Es braucht mehr, nämlich spezifisches Wissen, also Antworten auf Sachfragen: Was ist überhaupt Geld? Wie funktioniert es? Wie lässt es sich lebensfreundlich handhaben? Brauchen wir neue Währungen, eine veränderte Kooperation zwischen Geldschöpfung und Fiskalpolitik? Neue Kompetenzen oder auch die Wiederbelebung alter Kompetenzen für den Staat? Solche Denkprojekte gehen über die Reflexion des Geschlechterverhältnisses hinaus. Ich will mich ihnen jetzt zuwenden.
1000 Dank an Sandra Divina Laupper für die Übersetzung und Vermittlung. Ich sehe, dass der Teil über die Frauengruppe “Baubò” nun nicht mehr steht, dabei fand ich diesen besonders interessant und habe gemerkt: Ich wünsche mir Geschichten darüber, wie diese Vermittlungen passieren. Ich brauche eine Geschichte darüber, wie die verbindliche Beziehung zu einer anderen Frau zum Mass der Wünsche einer anderen Frau wird. Was heisst das? Wie passiert das? Abhängigkeit ist Rettung und Gefahr – ich brauche Frauenalltagsmärchen. Überhaupt: Wie schwierig ist es doch zu wünschen.
Zentral war für mich der Satz über die Präsenz von Frauen, die anderen Frauen als Orientierung dienen könnten. Das ist auch eine Forderung an die Generationen vor mir. Der Ruf nach Dringlichkeit bleibt abstrakt. Alles ist dringlich, gerade die Gefahr in dieser Gratwanderung als arbeitende, denkende, liebende Frau jederzeit abzustürzen. Genau da brauche ich solche Texte – als Orientierung.
Danke, Bettina, für deine anerkennenden Worte!
Den Teil über Baubò habe ich wieder herausgenommen, weil er zu lang war und riskierte, vom eigentlichen Text abzulenken. Aber ich gebe dir Recht, dass Geschichten darüber, wie diese Vermittlungen zustandekommen, immer sehr interessant sind. Zumindest für mich sind solche Geschichten oft aufschlussreicher gewesen als theoretische Texte. Zwischendurch ist es mir auch gelungen, mir von der einen oder anderen Frau der vorangegangenen Generation von Feministinnen (ich bin 1967 geboren) den persönlichen Lebensweg – oder zumindest einen Teil davon – erzählen zu lassen. Solche Erzählungen waren für mich sehr hilfreich, weshalb ich auch jüngeren Frauen gegenüber immer gern bereit bin, meinen persönlichen Weg der Vermittlung (“Was macht eine verbindliche Beziehung zu einer anderen Frau aus?” ; “Wie funktioniert wünschen?”) zu schildern. Aber dazu, glaube ich, bräuchte es einen anderen Rahmen als den Einleitungstext zu einer Übersetzung. Wie einen solchen Rahmen finden? Freilich, ich könnte jederzeit einen Artikel diesen Inhalts für beziehungsweise weiterdenken schreiben. Aber der Niederschrift eines solchen Textes müsste nicht nur die Bekundung eines derartigen Interesses von Seiten einer Leserin – wie das jetzt z. B. Du getan hast -, sondern auch eine gründliche Diskussion des Themas in meiner Frauengruppe Baubò, z. B., (oder auch mit den Redakteurinnen von beziehungsweise weiterdenken, wenn wir nicht so weit voneinander entfernt leben würden…) vorausgehen: lauter Notwendigkeiten der Vermittlung!
Hier hast du aber auch schon ein Beispiel von verbindlichen Beziehungen unter Frauen, die für deren Wünsche vermittelnd wirken: im Austausch untereinander könnte z. B. der Wunsch wahr werden, einen Text zu produzieren, der die Schwierigkeit des Wünschens zum Thema hat.
Liebe Grüße und alles Gute auf deinen Vermittlungs-Wegen!
Sandra
Ich habe so meine Probleme mit dem Differenzfeminismus: einerseits haben sie natürlich Recht mit der Rehabilitierung der Werte “Verletzlichkeit – Beziehung – gegenseitige Abhängigkeit – Fürsorge” bzw. des Sorgens (Care) in der Corona-Krise, und auch damit, dass es ein Zivilisationssprung wäre, wenn diese Werte prioritäre gesellschaftliche Anerkennung und Implementierung fänden. Dafür plädiert ja letztlich auch das Care-Manifest “Care.Macht.Mehr” von M. Brückner et al (https://care-macht-mehr.com/).
Andererseits kann ich der matriarchal-essentialistische Vorstellung, dass Frauen quasi von Natur aus die “Inhaberinnen” dieser Werte und die Trägerinnen des Zivilisationssprungs sind, überhaupt nicht zustimmen. Nichts – keine Natur, keine genetische Determination – spricht dagegen, dass sich auch Männer die Welt des Sorgens (und Frauen die Sphäre der Erwerbsarbeit und der gesellschaftlich verbindlichen Entscheidungen) erschließen können. Da scheinen mir die Forderungen der Protagonist*innen von “Care.Macht.Mehr”, “Care jenseits von Geschlechterklischees (zu) denken und (zu) adressieren, ohne Geschlechterhierarchien zu verfestigen”, also Frauen und Männer im gleichen Ausmass und gleichberechtigt an Sorgearbeit und Erwerbsarbeit und an politische Entscheidungstätigkeiten zu beteiligen, realistischer und attraktiver.
@Max.
Allerdings,da stimme ich dir bei, dass wir Frauen nicht quasi von Natur aus Inhaberinnen der genannten Werte, also der Werte der Verletzlichkeit, der Beziehung, der gegenseitigen Abhängigkeit, der Fürsorge, sind. Nichts liegt mir ferner als ein derartig essentialistischer Gedanke, wie du ihn zu Recht kritisiert! Allerdings glaube ich auch nicht, dass dieser Text in diesem Sinne verstanden werden will. Der Differenzfemminismus verwehrt sich ja seit jeher gegen jegliche Form von Essentialismus. Tatsächlich ist das Differenzdenken auch unmöglich mit einer essentialistischer Position vereinbar, weil die philosophische Kategorie der Differenz im Gegensatz zur philosophischen Kategorie der Identität steht. Es geht darum, mich als sexuell definiertes Lebewesen zu sehen, das in der eigenen Sexualisiertheit nicht eine vorgefertigte Identität, sondern eine Öffnung zum Anderen sieht.
Trägerinnen dieser Werte und des anstehenden Zivilisationssprungs sind wir, insofern wir Frauen schon von den Frauen, die vor uns gelebt haben, gelernt haben, diese Werte zu verkörpern. Die Erwerbsarbeit ist hingegen, vor allem insofern es sich um sozial angesehene Berufe handelt, traditionell gesehen immer schon eher eine Männerdomäne gewesen. Im Feminismus, wie auch in diesem Text, wird immer wieder die Notwendigkeit betont, diese beiden Bereiche des menschlichen Lebens und Wirkens zu vereinbaren – anstatt den Bereich der Fürsorge zur Unsichtbarkeit und Bedeutungslosigkeit zu verdammen und auf die Frauen als untergeordnetes Geschlecht abzuwälzen, wie es das Patriarchat für Jahrhunderte getan hat.
MfG, Sandra
Inhaltlich und stilistisch atemberaubend (man vergisst tatsächlich Luft zu holen beim Lesen) gut geschrieben!