Forum für Philosophie und Politik
Von Dorothee Markert
Nach den schrecklichen Terrorangriffen von Paris und Nizza kam in meiner Tageszeitung der übliche Kommentar, in dem betont wurde, die „freie Gesellschaft“ dürfe „angesichts dieser Attacken nicht zurückweichen“, sie müsse „ihre Werte offensiv verteidigen und sich von ihrer wehrhaften Seite zeigen“. Wenn Angst (und Hass) die Oberhand gewinne, hätten die Attentäter ihr Ziel erreicht (vgl. Badische Zeitung vom 30.10.2020). Bei früheren Kommentaren zu Terrorangriffen mit diesem Tenor hatte ich innerlich immer tapfer zugestimmt, denn auch mir sind unsere Freiheitsrechte wichtig. Doch dieses Mal spürte ich in mir zu meinem eigenen Erstaunen ein klares „Nein“. Seither denke ich darüber nach, woher diese Reaktion kommt und wie ich anderen vermitteln kann, warum ich mich nicht einreihen will in eine Front, die hier etwas verteidigt, mit dem ich selbst nicht einverstanden bin: die Freiheit, andere Menschen in einer Satire zu verletzen und zu demütigen. Ich möchte jedenfalls nicht sterben oder körperlich verletzt werden für jene Freiheit und möchte auch nicht, dass einem oder einer meiner Lieben deshalb etwas geschieht. Und anderen Menschen auch nicht.
Ich denke, mein Sinneswandel hat viel mit den Erfahrungen im Zusammenhang mit der Corona-Seuche zu tun. Vorher hätte ich mir nicht vorstellen können, dass einmal die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung der Einschränkung von Grundrechten für einen bestimmten Zeitraum zustimmen und sehr wenig Verständnis für diejenigen aufbringen würde, die sich nicht an die auferlegten Beschränkungen halten oder gar lautstark dagegen protestieren. Zum ersten Mal in meinem Leben, so scheint mir, ergriff ich nicht automatisch die Partei der Protestierenden. Denn hier ging es nicht um willkürliche Einschränkungen von Freiheit, sondern um ein Abwägen zwischen verschiedenen Grundrechten. Und da war und ist das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit auf jeden Fall das höhere Gut.
In dieser Zeit erlebte ich es ebenfalls zum ersten Mal, dass wir Redakteurinnen vom Forum bzw-weiterdenken uns gezwungen sahen, Kommentare auf unserer Seite aus inhaltlichen Gründen nicht zu veröffentlichen oder Teile daraus zu löschen, weil wir nicht zur Verbreitung von kruden Verschwörungstheorien im Zusammenhang mit der Pandemie beitragen wollten. Bis dahin hatten wir nur hin und wieder mal Kommentare zurückgewiesen, die eindeutig beleidigend waren. Als ich dann tatsächlich Links zu den Seiten von Corona-Leugnern aus einem Kommentar löschte, fragte ich mich schon, ob ich jetzt Zensur ausübe und wie sich das auf mich auswirken würde. Bis dahin hatte ich nur erlebt, dass Zeitungen und Zeitschriften meine Texte nicht veröffentlichten oder Teile davon löschten, die ihnen nicht passten.
Wahrscheinlich war es auch die Überschrift des oben genannten Zeitungstextes „Werte offensiv verteidigen“, die zu meinem „Nein“ beitrug. Wenn „Werte“ ins Feld geführt werden, prüfe ich automatisch aus alter Frauenbewegungs-Gewohnheit, ob das wirklich auch meine Werte sind, die ich da verteidigen soll, ob es nicht Werte sind, die vielleicht an anderer Stelle gegen weibliche Freiheit eingesetzt werden könnten. Mir fielen gleich ganz viele Beispiele zur Propaganda des “Werte-Verteidigens” und der daraus hervorgehenden Kriege ein, auch die Nazis glaubten ja daran, dass sie Werte verteidigten. In Vietnam wurde ebenfalls aufgrund von Werten gebombt, die man verteidigen wollte. Und später in Afghanistan, wo die Zustimmung zur deutschen militärischen Beteiligung vor allem mit dem Argument der extremen Frauenunterdrückung durch die Taliban erreicht wurde. Und natürlich meinen auch muslimische Terrorgruppen, dass sie mit ihrem Morden ihre Werte verteidigen – und sie tun das auf ganz besonders brutale und perfide Art. „Offensiv verteidigen“ und „nicht zurückweichen“, das ist eine Ausdrucksweise, die Frontenbildung nahelegt, uns also zur Kriegspartei macht. Mit meinem „Nein“ konnte ich aus dieser Kampf- und Kriegslogik aussteigen.
Eine Rolle spielte auch, dass ich irgendwo die neue Titelseite von „Charlie Hebdo“ gesehen hatte, während ich ja die früheren dänischen Mohammed-Karikaturen, deren Veröffentlichung schon einmal eine Welle der Gewalt ausgelöst hatte, nie zu Gesicht bekommen hatte. Ich hatte nur gelesen, dass sie eigentlich ziemlich harmlos seien und dass die Karikatur, die die größte Empörung ausgelöst hatte, eine spätere Fälschung gewesen sei.
Dem Zeichner der jetzigen Charlie-Hebdo-Titelseite ist es gelungen, auf einen Streich gleich drei Personengruppen gegen “den Westen” aufzubringen: ein Staatsoberhaupt und damit auch seine Anhänger, Frauen, insbesondere muslimische sowie – etwas versteckter – all diejenigen, denen der Prophet Mohammed heilig ist. Die Karikatur zeigt Erdoğan, der in Unterhose in einem Sessel sitzt. Er hebt das Gewand einer verschleierten Frau hoch, die darunter natürlich nackt ist. “Ohh! Der Prophet!”, sagt er, als er das Hinterteil der Frau erblickt, das so rund und drall gezeichnet ist, wie wir es von vielen sexistischen Frauendarstellungen kennen. Wenn Männer sich gegenseitig demütigen wollen – ob in der Satire oder im Krieg – benutzen sie Frauen nur, die Frauen selbst scheinen überhaupt nicht wichtig zu sein. Verletzt und gedemütigt werden wir aber trotzdem, auch wenn in vielen Kulturen die Ehre von Frauen immer noch bei den Männern angesiedelt ist.
Als ich dann in einem Video die Massenproteste muslimischer Männer sah, die auf eine Puppe einschlugen und später auf ihr herumtrampelten, die Macron darstellen sollte, weil dieser die Pressefreiheit und damit auch die Veröffentlichung jener Karikatur verteidigt hatte, fragte ich mich, ob es wirklich sein muss, Angehörige einer anderen Religion derartig zu provozieren und zu demütigen. Warum kann man nicht einfach freiwillig darauf verzichten, Muslime in ihren religiösen Gefühlen zu verletzen? Nicht aus Angst, sondern aus Vernunft, als eine souveräne, großzügige Geste, fremden Menschen und dem, was ihnen heilig ist, Respekt entgegenzubringen. In der direkten Begegnung tun wir das doch auch.
Staatliche Verordnungen oder Gesetze haben dabei nichts zu suchen. Meinungs-, Kunst- und Pressefreiheit einzuschränken wäre viel zu gefährlich, denn es ist ungeheuer schwierig zu entscheiden, ob eine Karikatur – beispielsweise die oben beschriebene – noch Satire und damit Kunst ist oder einfach nur eine zotenhafte Verunglimpfung.
Ich wäre jedenfalls nicht in der Lage, hier zu richten, denn da ich Spott nicht leiden kann, habe ich auch selten Spaß an Satire. Als Lehrerin stemmte ich mich früher mit aller Macht gegen das allgegenwärtige Verspotten und Drangsalieren Schwächerer oder derer, die irgendwie anders waren, heute nennt man das “Mobbing”. Wenn ein Migrantenkind verspottet wurde, weil es noch nicht richtig Deutsch konnte, forderte ich den Spötter oder die Spötterin auf, den Satz, um den es ging, auf Griechisch, Türkisch, Italienisch usw. zu sagen, was er oder sie natürlich im Gegensatz zum verspotteten Kind nicht konnte. Andere Möglichkeiten, den Perspektivenwechsel zu üben, ergaben sich aus meiner ständig wiederholten Behauptung, Witze auf Kosten anderer seien nur dann wirklich lustig, wenn diese auch darüber lachen könnten. Das probierten wir dann immer wieder aus anhand der Witze, die die Kinder so mitbrachten. Und wir lachten auch miteinander über die lustigen Sätze, die sich die Kinder übereinander und auch über mich ausdachten.
Statt der Aussage, wir seien ein säkularer Staat, die Pressefreiheit sei uns heilig und wir könnten daher auf religiöse Gefühle anderer keine Rücksicht nehmen, würde ich mir von westlichen PolitikerInnen wünschen, dass sie die KarikaturenzeichnerInnen darum bitten, freiwillig auf die Verunglimpfung dessen, was MuslimInnen heilig ist, zu verzichten. Was die Medien an Satire veröffentlichen und verbreiten und auf welche Weise sie darüber sprechen und schreiben, entscheiden sie ja sowieso selbst. Meinungs- und Pressefreiheit kann auch im Bereich von Satire durchaus mal bedeuten, etwas nicht zu veröffentlichen, so wie inzwischen ja auch weitgehend darauf verzichtet wird, Bilder von den Tatorten der Terroranschläge zu zeigen, um den Tätern keine Bühne zu bieten.
Dass das Nachdenken und Argumentieren über Themen, die mit Freiheit zu tun haben, so schwierig ist, liegt daran, dass unser Denken immer noch von der selbstherrlichen, individualistischen Freiheitsvorstellung geprägt ist, die seit der Aufklärung dazu beiträgt, unseren Planeten nachhaltig zu schädigen. Nach Trump, den Corona-Erfahrungen und angesichts der menschengemachten Klimaerwärmung, deren Folgen wir von Jahr zu Jahr mehr zu spüren bekommen, ist es vielleicht jetzt endlich an der Zeit, den Vorschlag einiger Feministinnen aufzugreifen, sich über einen Freiheitsbegriff Gedanken zu machen, den sie “Freiheit in Bezogenheit” genannt haben. Es geht um eine Freiheitsvorstellung, die unsere grundlegende Abhängigkeit von anderen Menschen und von der Erde nicht leugnen muss und daher andere Menschen – auch solche, die uns sehr fremd sind – sowie zukünftige Generationen in das Denken und Handeln einbezieht.
Ich danke dir, Dorothee, für dein so eigenes weiterdenken!
Das zu lesen, tut mir gut.
„Freiheit in Bezogenheit“ –
die hab ich für mich bisher so gesehen/genannt:
ich bin „Gast in meinem Leben“.
… ob die Beschreibungen kompatibel sind?
Merci vielmals, auch ich stimme zu; schon seit langem missfällt mir diese Tendenz, nur um der Provokation willen, blöde, oft frauenfeindliche – nach meinem Geschmack auch billig-dumme – Karikaturen unter dem Deckmantel der Kunst zu verbreiten. Bleiben wir klar und freundlich. Wünschen wir uns doch alle eine respektvolle Gesellschaft.
Vielen Dank, Frau Markert, für diesen Artikel. Er spricht mir aus dem Herzen .
Ich finde auch, es ist ein Mißbrauch von Freiheit, wenn diese dafür benutzt wird, andere Personen oder deren Kultur oder Religion zu beleidigen.
Zur Freiheit gehört Verantwortung. Diese vermeintliche “Freiheit der Kunst” die schon so viel
Unheil angerichtet hat, ist meiner Meinung nach verantwortungslos und beschämend.
Bitte setzen Sie sich weiter für echte Freiheit und Respekt ein.
Anita Stalf
Liebe Dorothee,
vielen Dank für diesen besonnen reflektierten Beitrag von dir und die vielen aktuellen Bezüge, die dich zu diesem Ergebnis kommen lassen: “Nach Trump, den Corona-Erfahrungen und angesichts der menschengemachten Klimaerwärmung, deren Folgen wir von Jahr zu Jahr mehr zu spüren bekommen, ist es vielleicht jetzt endlich an der Zeit, den Vorschlag einiger Feministinnen aufzugreifen, sich über einen Freiheitsbegriff Gedanken zu machen, den sie “Freiheit in Bezogenheit” genannt haben. Es geht um eine Freiheitsvorstellung, die unsere grundlegende Abhängigkeit von anderen Menschen und von der Erde nicht leugnen muss und daher andere Menschen – auch solche, die uns sehr fremd sind – sowie zukünftige Generationen in das Denken und Handeln einbezieht.”
Das ist der Perspektivwechsel, der sich mit den Erfahrungen dieses Jahres fast schon aufdrängt, ganz so, wie du es beschreibst. Danke dir!
Liebe Dorothee Markert,
auch ich bin sehr angetan von deinen Gedanken. Herzlichen Dank dafür! Genau so kann sie gehen, diese Differenzierung, die wir scheinbar alle so bitter nötig haben: Der Staat hält sich raus, er hat keine Regeln und Verbote bezüglich Meinungsäußerungen und/oder Kunst/Satire zu machen, aber er kann sich sehr wohl zur Anwältin liebevoller und freundlich-achtsamer Beziehungen machen. Und das macht man eben sinnvoller und wohl auch erfolgreicher mit Bitten und gutem Beispiel und einem rationalen Diskurs als mit Fordern und Verbieten.
Liebe Dorothee, das ist wirklich sehr nachdenkenswert! Danke dir, LG Heike
Dorothees Beitrag und ihre Idee einer “Freiheit in Bezogenheit” entspricht absolut meinem Empfinden, doch verschafft es mir Unbehagen, wenn er, wie ich bei manchen Leserinnen zu hören meine, zu Islam- und Kunstfeindlichkeit führt. Also möchte ich noch einmal von vorne denken. Worum geht es? Es geht um die Kunstform der Satire. Laut Wikipedia ist ihr eigen, was uns stört: “Die Satire bedient sich häufig der Übertreibung, kontrastiert Widersprüche und Wertvorstellungen in übertriebener Weise, verzerrt Sachverhalte, vergleicht sie spöttisch mit einem Idealzustand und gibt ihren Gegenstand der Lächerlichkeit preis. Zu ihren Stilmitteln gehören Parodie und Persiflage, zu ihren Tonfällen Ironie, Spott und Sarkasmus…” (Wikipedia 1.12.2020). Zudem ist sie vor allem ein politisches Mittel, um Machtstrukturen zu hinterfragen, anzugreifen und zu schwächen, indem sie diese lächerlich macht. Ich persönlich mag bildliche Satire ganz generell nicht, weil sie im Vergleich zur Comedy extrem vereinfachend und extrem auftreten muss, um überhaupt eine Wirkung zu haben, sprich, in ihrer Bedeutung erkannt zu werden und damit ihren politischen Anspruch zu erfüllen.
Im Falle der Mohammed-Karikaturen kann ich nicht umhin zu denken, dass Satiriker*innen sich freuen, wenn es recht laut knallt, denn das hieße ja, ihre Kunst wird verstanden. Ich mache aber einen Fehler, wenn ich denke, dass Satiriker*innen sich freuen, wenn Leute deswegen umgebracht werden. Und darum geht es uns ja in dieser Diskussion, die ich sehr wertvoll finde und die Dorothee auch sehr differenziert angestoßen hat. Wir wollen nicht an Terror sterben.
Ich persönlich habe mich auch schon oft gefragt, warum können die nicht einfach mal Ruhe geben und damit aufhören, den politischen Islam mit Mohammed-Karikaturen zu reizen? Denn Fakt ist, dass diese Karikaturen politisch dazu benutzt werden, Hass zu schüren. Wie sonst sollten die Menschen, in Pakistan beispielsweise, davon erfahren, dass es in Paris mal wieder eine neue Zeichnung gibt? Ein Freund, mit dem ich mich deswegen immer mal wieder streite, hat insofern recht, als er sagt, wenn es nicht die Karikaturen sind, dann sind es Miniröcke, Lebensstile etc. die als Objekte zur Anstiftung von Hass gegen den Westen benutzt werden würden.
Karikaturen sind hier ja nun aber eine wunderbare Folie, weil sie auf ein religiöses Bilderverbot zielen. Andererseits ist dieses Argument bei genauer Betrachtung auch nicht allzu stichhaltig, weil vermutlich nicht jeder Moslem*, jede Muslima* in einer Mohammed-Karikatur Mohammed erkennen würde. Ich würde also hier wirklich nur vom fundamentalistischen, vom politischen Islam reden, dessen Anhänger dies als ungeheure Verletzung empfinden. Aber vermutlich trifft dies friedliche tief Gläubige auch…
Mir kommt es ein bisschen so vor, wie wenn zwei Cliquen böser Buben sich gegenseitig mit Steinen bestückte Schneebälle an den Kopf werfen. Aber dieses Bild täuscht auch, denn die einen haben Waffen und morden und die anderen sind Künstler*innen. Künstler*innen morden nicht, haben selten Macht und wenn, dann nur für kleinste Momente und sind schlecht bezahlt. Sie legen den Finger auf eine Wunde, auf eine Art und Weise, die uns, die wir uns hier austauschen, missfällt. Doch der Dschihad ist nicht aufgrund einiger Karikaturen aus Pariser oder dänischen Dachgeschosswohnungen entstanden.
Es sterben weltweit unglaublich viele Menschen aufgrund dieser islamistischen Religionskrieger und ihrer irren Ideologie. Auch ich möchte nicht, dass ich oder andere Menschen hier aufgrund eines aufgestachelten Dschihadisten sterben. Aber wieso sollten ausgerechnet wir hier vor ihnen sicher sein? Es gibt ja durchaus Gründe für deren Erstarken, die unter anderem auch in den Handlungen des Westens ihren Ausgang haben. Diesen Zusammenhang sollten wir mitdenken. Wie können wir damit in Beziehung treten? Satire versucht das immerhin, wenn auch auf eine sehr aggressive und hilflose Art und Weise.
Liebe Frau Markert, danke für diese sehr wichtigen Überlegungen. Mit den Karikaturen von Charlie Hebdo geht es mir ähnlich. Warum Menschen verletzen nur um eines Prinzips willen?
Aber lassen Sie uns jetzt noch weiter gehen: Viel wichtiger als über geschmacklose Karikaturen und deren Reaktion zu reden wäre es, in Deutschland endlich zuzugeben und offen darüber zu sprechen, in wieweit unsere Religionsfreiheit für Menschenrechtsverletzungen missbraucht wird, wie es sehr beeindruckend z.B. Necla Kelek in ihrem neuesten Buch “Die unheilige Familie. Wie die islamische Tradition Frauen und Kinder entrechtet” darstellt.