Forum für Philosophie und Politik
Von Monika Krampl
Im Februar des Jahres 2020 veröffentlichte ich Teil 1. „Lebe bewusst jeden kostbaren Augenblick deines Lebens. Es wird der Augenblick kommen, von dem du niemals wissen wirst, dass du ihn erlebt hast.“ Alles begann mit diesem Satz, der mich aus dem Schlaf weckte. Und dann geschah das bis jetzt Unvorstellbare – von einer Sekunde zur anderen ohne lange Überlegungen – die Entscheidung, ich entsorge meine über die Jahrzehnte geführten und gehüteten Tagebücher. Ein bis dahin unvorstellbarer Gedanke.“
Nach dem Auslichten meiner Tagebücher, das mir im Rückblick wesentlich leichter erscheint als das jetzige, machte ich den letzten Durchgang. Den Begriff Auslichten (gefällt mir besser als Entsorgen) habe ich von Cambra Skade übernommen. Für eine Weile versank ich in den vielen Kartons, die im Gästezimmer meines Sohnes gestapelt waren. Wir konnten kaum zur Tür rein. Ein schmaler Gang blieb. Zwischen meiner Vergangenheit und dem Rest der Sachen meiner verstorbenen Mutter, die wir nach dem großen Flohmarkt noch behalten hatten. Zum Durchsehen. Nun war die Zeit auch für dieses Durchsehen gekommen.
Auslichten im Sinne von Loslassen und auch Loswerden. Meine Vergangenheit nicht nur gedanklich, sondern auch materiell loswerden.
Nicht, weil sie so schrecklich war. Das war sie auch. Ein Teil davon.
Auch das Glückliche – ich möchte mich nicht dahin zurück sehnen.
Das war einmal – so beginnen doch Geschichten: Es war einmal … Meine glücklichen Erinnerungen behalte ich und lege sie vorsichtig in meine innere Schatzkiste. Jedoch, ich möchte mich nicht zurück sehnen und damit den Blick für und die Anwesenheit in der Gegenwart verlieren. Denn, wenn ich glücklich sein möchte, dann kann ich das nur in der Gegenwart – und so wie ich jetzt bin, nämlich anders.
Das Glück der Vergangenheit kann ich so nicht mehr leben.
Ich bin JETZT.
Ich bin jetzt eine ANDERE.
Immer wieder die Unsicherheit – zum Beispiel bei der vielartigen Korrespondenz mit meinen Freund*innen, meinen Liebsten; mit interessierten Menschen an meinen vielen Projekten und noch mehr Projektideen. Sie stammt aus einer Zeit, in der wir uns noch viele Briefe geschrieben haben und ich staune. Ob ich sie nicht doch behalten sollte – die Briefe? Aber warum? Das alles wurde vor Jahrzehnten geschrieben und ich habe es nie mehr gelesen. Ich werde es auch jetzt und in Zukunft nicht lesen. Warum also? Nur um sie zu „haben“? Es schmerzt. Es macht traurig – das Loslassen. Ein Teil von mir möchte es nicht loslassen, möchte dahin zurück. Dahin, wo es so schön und lebendig war. So viele Menschen in meinem Leben.
Und jetzt ….?
Ich möchte mehr Sein als Haben. Es ist Zeit, mich auf das Wesentliche und Wenige zu konzentrieren und nicht einen materiellen Berg von Vergangenheit hinter mir herzuschleppen, bei jedem Schritt. Ich habe das Bild von einem riesigen Sack, der am Boden hinter mir herschleift und ich ihn mit Gurten – so wie einen Rucksack – an meinen Schultern befestigt habe. Jeder Schritt ist mühsam, denn der Sack ist schwer. Mit schweren Schritten stapfe ich dahin.
In den Kartons stapeln sich Ordner. Ordner über Ordner, angesammelt und gefüllt mit meinem Leben über die letzten 35 Jahre; akribisch – gründlich und sorgfältig – beschriftet. Ordner mit der Korrespondenz mit Freund*innen und Liebsten; mit Kolleg*innen und Menschen in Seminarzentren im In- und Ausland; Ansichtskarten und Glückwunschkarten meines Sohnes. Die Korrespondenz mit unseren singhalesischen Freunden in Sri Lanka – hatten wir – mein zweiter Ehemann und ich – doch bereits alles in die Wege geleitet zum auswandern. Es sollte nicht sein. Und ich staune immer wieder, mit wie vielen Menschen ich in Kontakt war! Und ich erinnere mich, wie offen – mit großen offenen Augen und offenem Herzen, einer grenzenlosen Liebesbereitschaft – ich durch die Welt gegangen bin und Menschen angezogen habe. Und viele – allzu viele – gingen mit der Zeit verloren – weil wir den Kontakt nicht gehalten haben.
Die, die geblieben sind, sind meine treuesten Weggefährt*innen auf meinen verschlungenen Lebens-Pfaden.
Ich vermisse die Liebe – in erster Linie meine eigene.
Ich spüre die grenzenlose Liebe nicht mehr, – nicht so wie damals.
Irgendwann vom Pfad der Liebe abgekommen, mein Herz zugemacht und verschlossen. Den Schlüssel weggeworfen. Den Schlüssel habe ich bereits wieder gefunden. Es war schwer, ihn in dem verrosteten Schloss umzudrehen. Jetzt bin ich dabei, die auch in ihren Scharnieren verrostete Tür zentimeterweise zu öffnen …
Und kaum ist es mir gelungen aufzusperren, klopfte einer meiner ehemaligen Liebsten an die Tür. Im Laufe dieser Wiederbegegnung schrieb ich ihm:
Das Wiedersehen
Ich habe keine Angst
dir zu sagen
dass ich dich noch immer
liebe
und
begehre
Ich habe keine Angst
weil meine Liebe
unabhängig
davon ist
ob du mich liebst
weil meine Liebe
nichts verlangt
von dir
Und mit großem Erstaunen und ebenso großer Freude merke ich, wie viel ich doch in diesen Jahren über die Liebe gelernt habe.
Die nächsten Ordner führen mich in die Welt meiner psychotherapeutischen Praxis.
Der Erste enthält die vielen Originalmanuskripten und Folder der abgehaltenen Seminare und Workshops. Mein Gott, war ich fleißig und engagiert! Ordner mit Projektideen im zivilgesellschaftlichen Bereich und über angedachte Seminare und Workshops; Mitschriften der Therapiesitzungen, Befunde für die Krankenkassen; Honorarnoten, etc. Ich weiß nicht, von wie vielen hunderten von Klient*innen in den 25 Jahren. Die vielen Dankesschreiben. An die meisten habe ich keine Erinnerung mehr. Ich sehe die Anzahl der Therapiestunden – und sehe, wie viel ich gearbeitet habe. Welch’ Energie ich hatte!
Ordner mit den Lehrunterlagen, meinen Seminararbeiten, von den zwei Semestern an der Sigmund-Freud-Privatuniversität. Zwei Semester fehlen noch, dann hätte ich den akademischen Titel Bachelor. Zurzeit meines Studiums der Psychotherapie vor Jahrzehnten gab es noch keinen akademischen Titel.
Aufgehört hatte ich, als ich meine Mutter in den letzten zwei Jahren ihrer Krebserkrankung begleitete. Heute ist es mir nicht mehr wichtig. Doch ich erinnere mich gerne – lerne ich doch mit viel Neugier und Begeisterung Neues.
Die ungeliebtesten Ordner – die Unterlagen meines Steuerberaters. Darüber legt sich der Mantel des Schweigens. Ich bin eine Frau der Worte. Zahlen bereiten mir Unbehagen.
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Viel Trauer ist in mir – aber ich spüre auch die Last der Vergangenheit.
Das Mitschleppen.
Erleichterung wird folgen.
So wie es mit dem Auslichten der Tagebücher auch war.
Es ist gut.
Es ist gut so, wie es ist.
Dies alles passierte in den letzten Wochen und jetzt?
Ob mich die Rückschau auf meine Lebenserinnerungen auch stolz macht, fragte eine meiner Herzensfreund*innen, und ich schrieb ihr:
„Ja, ein bisschen. Aber vor allem macht es mich dankbar. So viele Menschen – da bin ich noch immer sprachlos – es macht mich unendlich dankbar den Menschen gegenüber für ihr Vertrauen, sich mit mir auf die tiefen Prozesse in den Therapien eingelassen zu haben; und ehrfürchtig und demütig für die viele unendliche Energie, die ich hatte.”
Ich staune, wundere mich über die Wunder meines Lebens und erfinde mich wieder einmal neu …
Dieser Artikel erschien auch auf dem Blog von Monika Krampl.
Liebe Karin Spangler, freue mich über den Kommentar, und dass Cambra Skades Wort “Auslichten” Anklang findet – klingt doch ganz anders als ausmisten oder entsorgen, nicht?
Licht ins Dunkel bringen – dazu habe ich gestern die aktuelle Erzählung über das innere Auslichten auf meinem Blog veröffentlicht.
Bei Interesse: https://monikakrampl.wordpress.com/2020/08/30/die-frau-oberlehrerin-meine-igel-bucher-und-hermann-hesse/
Mit lieben Grüßen und weiter viel Freude beim Auslichten
Monika
Liebe Monika Krampl, was doch ein Wort verändern bzw. „anrichten“ kann. Ich war bisher am ausmisten und jetzt am auslichten. Ich danke ganz herzlich. Ein bisschen Stolz und viel Dankbarkeit, das geht mir auch so. Freu mich schon, wenn meine Regale, gerade auch die inneren, aufgeräumt sind.
Liebe Grüße
Karin Spangler