Forum für Philosophie und Politik
“Kollateralschäden durch Anti-Corona-Maßnahmen: Mehr Tote als durch das Virus selbst?” (Gérard Krause)
“Wir retten Menschen, die möglicherweise sowieso bald sterben.” (Boris Palmer)
“U.S. will see more death by keeping the economy shut than by Coronavirus.” (Donald Trump)
Der Wind wird rauer, ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken. Klar, es war von Beginn an davon auszugehen, dass der Wirtschaftssektor der Marktwirtschaft, der etwa 20% allen Wirtschaftens ausmacht, verbal massiv aufrüsten wird, denn ihm ist natürlich sehr daran gelegen, dass der alte weiße Mann Kapitalismus, auf den schon so oft halbseidene Abgesänge angestimmt worden sind, noch eine Weile weiterlebt. “Der Wirtschaftssektor” und “alter weißer Mann Kapitalismus”, das sind natürlich Personifikationen… ; denn “der Wirtschaftssektor” ist ja kein Lebewesen und kann deswegen auch nicht “verbal aufrüsten” und der Kapitalismus aus denselben Gründen auch nicht “weiterleben”… also… aber ihr versteht schon, was ich sagen will, oder?
Bereits ein oder zwei Tage nachdem Trump Ende März von den “more death” zu reden begann, fluteten hier in Deutschland “Wirtschaftsexpert*innen” und sogar “Wirtschaftsethiker*innen” (Dominik Enste) die Talkshows und Nachrichtensendungen, um diese Aussage für Deutschland in ähnlicher Form zu wiederholen. Nach ein paar Wochen der Corona-bedingten Schockstarre kommt der Kapitalismus in Gestalt all seiner von ihm profitierenden alten weißen Männer wieder hervorgekrochen und beginnt seinen Kampf ums Überleben. “Kampf ums Überleben”, “hervorgekrochen”: das ist… also das meine ich auch wieder… Kapitalismus ist ja kein… also… überleben und hervorkriechen können ja wie gesagt nur Lebewesen… ihr versteht mich schon, oder?
Seit ich diesen “more death”-Satz zum ersten Mal hörte, summt er in mir in den verschiedensten Tönen als Ohrwurm. Warum nur? Vielleicht, weil es für mich eine Herausforderung darstellt, mir vorzustellen, was genau – welche Tode oder Toten also – damit gemeint sind. Um den Satz nun nicht mehr nur in mir klingen zu hören, sondern um ihn auf einer “bodenständigeren” Ebene auch denken zu können, musste ich genauer verstehen, wer oder was diese Tode oder Toten sind. (Insgeheim wunderte ich mich nur, dass ich – also gefühlt – anscheinend die einzige war, die nicht genau wusste, welche Tode oder Toten damit gemeint sind.) Ich habe nun drei mögliche Bezüge gefunden:
1. Zunächst einmal stellte ich mir vor, “die Wirtschaft” höchstselbst erschießt, erwürgt oder schmeißt uns von der Klippe, wenn wir sie nicht sofort wieder hochfahren. Wie hat man sich “die Wirtschaft” dann vorzustellen? Darf ich mir von ihr ein Bild machen oder von wem oder welcher Institution bekomme ich dann Ärger? Automatisch – das heißt, ohne es zu wollen – war ich wieder 10 einhalb Jahre alt und stellte sie mir als eine Mischung aus Gott, also einen alten weißen Mann mit weißem Rauschebart und dem Weihnachtsmann vor (und natürlich mischte sich auch immer wieder ein Trump-Putin-Bolsonaro-etcpp.-Verschnitt mit rein in Gesicht, Statur und Haar, ob ich nun wollte oder nicht). Zugegebenermaßen, diese Vorstellung reizte mich zunächst sehr: denn dann gäbe es eine Person, (oder drei-vier Personen,) auf die ich all meinen Ärger und Frust projizieren könnte. Ich könnte diese Person Wirtschaft richtig gemein und egoistisch und raffgierig finden. Und ich würde unschuldig mit den Augen klimpern, wenn irgendwer mir Nähe zum Antisemitismus vorwerfen würde. Aber dann gewann die Vernunft. Dass der Weihnachtsmann Menschen mit seiner Rute verdrischt, bis sie tot sind, oder Gott Menschen von der Klippe schmeißt… nein… das konnte einfach nicht sein. Unvorstellbar.
Eine andere Möglichkeit war, dass es sich bei dieser “Wirtschaft” um eine Art abstraktes Monster handelt, so wie beispielsweise das Nichts in Die unendliche Geschichte von Michael Ende. Oder wie eine Computer-Höllenmaschine mit ganz vielen Schrauben und Ventilen und Schläuchen, die uns Menschen nur noch als Energiequelle nutzt und uns derweil immerhin den schönen kapitalistischen Traum träumen lässt á la Matrix. Aber irgendwie passte auch diese Version der Wirtschaft nicht so recht zu den Sprüchen der Männer zu Beginn des Artikels. Also warf ich diese Option aus meinem gedanklichen Klangkörper und versuchte, mein Hirn auf andere Denk- und Recherchierwege zu schicken.
2. Handelt es sich also vielleicht um eine Metapher? Ist das Runterfahren der Wirtschaft also tatsächlich gleichzusetzen mit dem Tod von vielen Menschen? In dem Falle müsste ich psychologisieren, oder? Weil es für manche Menschen, vor allem finanziell reiche und mächtige, schlicht “Tod” bedeutet, wenn das Wirtschaftssystem, aus dem sie all ihren Reichtum und ihre Macht schöpfen, zerbrechen würde: So wie es Alexander Dibelius ganz klar in einem Interview mit dem Handelsblatt äußert: eventuelle Fahrverbote ist gleich Löffel abgeben (seine Wortwahl); radikaler Kohleausstieg ist gleich Löffel abgeben und ein Stopp der Autoproduktion wäre natürlich auch gleich Löffel abgeben. Es handelt sich dann für Männer wie Herrn Dibelius um eine Art gefühlte Wahrheit, bei der sie nur sich und niemanden als sich selbst im Blick haben. “Die Autoindustrie verliert ihre Macht” ist gleich “Ich verliere meine Macht”, ergo “Ich bin ein Nichts”, ergo “Ich bin tot.” Und/Oder: “Ich bin (finanziell) am Ende”, ergo “Ich bin nichts mehr wert”, ergo “Ich bin tot.” Die Generierung abstrakten Reichtums durch Kapitalverwertung ist für diese Herren einfach Leben, das gilt es zu verstehen in dieser psychologisierten Lesart.
Ich weiß nicht warum, plötzlich sang ich öfter das Lied “Heidenröslein”. Das schöne Röslein wurde gebrochen. So wie Gretchen. Die Rose war die Metapher für ein Gretchenmädchen. Johann Wolfgang von Goethe verwandelte das Mädchen oder die Frau in eine Rose; anders hätte er selbst damals nicht über diese… ja um was handelt es sich hier… ja wahrscheinlich wie immer in Literatur und Poesie, um eine Mischung aus Realem, Fiktivem und Imaginärem… schreiben können.
Hätte er es nicht in eine schöne Metapher gepackt, würde es wohl ungefähr so klingen: “Sah ein Knab ein Mädchen steh’n, […] Und der wilde Knabe vergewaltigte das Mädchen auf der Heiden, obwohl sie sich wie verrückt wehrte und danach ihr ganzes Leben lang deswegen litt.” Klingt nicht so gut, nicht so romantisch, so rotwangig und nach Wildfang, oder? Sehr clever also mit der Metapher, denn nun singen die Mädchen und Frauen – sich selbst im Blick des Jünglings erkennend oder projizierend und somit auch immer und immer wieder reproduzierend als rotwangig, romantisch, duftend etcpp. – dieses “Geschichtenlied” selber auf den Heiden oder auch sonstwo. Warum? Ist die Kontiguität (in diesem Artikel erklärt Antje Schrupp den von Luisa Muraro in unser Denkspektrum gebrachten Begriff), die Verbindung zwischen Symbol und Bezeichnetem durch die Metaphorisierung derart zerstört, dass die Frauen sich selbst zwar als unwiderstehliches Ding, aber nicht als Opfer in dem Lied erkennen können, was sie dann wiederum befähigen könnte, zumindest gegen das Lied aufzubegehren? Oder erhalten sie die bedrohliche “Message” doch als eine Warnung auf der bewussten oder unbewussten Ebene? Und falls ja, was ändert es, was können sie überhaupt ändern? Was also dann damit tun? (Mit genau dieser Frage der in Kinder- und Volksliedern enthaltenen Warnungen beschäftigen sich auch Elsa und Honeymaren in Frozen II. Hier habe ich darüber geschrieben.) Einfach weitersingen, das Nachdenken darüber einfach sein lassen, weil es “eh nichts bringt”, da sich ja sonst einfach alles ändern müsste, wenn die Dinge tatsächlich bis zum Ende durchgedacht und durchfühlt würden?
Was hat das Heidenröslein nun zu tun mit den Toden oder Toten durch wirtschaftlichen Shutdown? In dieser Lesart kann das Nachdenken und Schlussfolgern von einer Metaphorisierung auf die andere übertragen werden: So wie die Rose für das Mädchen steht, so steht das Runterfahren der Wirtschaft für den Tod von “mehr Menschen als durch das Virus”. Und wie die Frauen ihr Lied vom Heidenröslein, so zwitschern auch wir das Lied von den “more death” bereits von allen Dächern. Wir glauben es bereits, wenn auch nur vielleicht ein ganz kleines bisschen. Und obwohl wir Trump, Palmer und Krause und wie sie alle heißen, natürlich weiterhin “gar nicht mögen”.
Und ganz plötzlich sind dann vor unserem inneren Auge doch nicht mehr die Männer allein Schuld, die solche Ungeheuerlichkeiten von sich geben, sondern nun ist es wieder “der Kapitalismus”, aus dem wir ja dann doch irgendwie nicht rauskommen (wollen). Den Kapitalismus statten wir eben nur mit menschlichen Eigenschaften aus (z.B. mit Sterblichkeit oder Gemeinheit), wenn es uns in den gedankenlosen Kram passt. Beispielsweise wenn… ja wenn auf Trumps Anordnung hin kleine süße Migrant*innenkinder ihren Müttern aus den Armen gerissen werden oder wenn er alle globalen Klima-Abkommen einfach so ins Meer kippt. Das Monster! Wir zählen eins und eins einfach nicht zusammen, wir können weder Trumps Handlungen in ihrem Zusammenspiel sehen, oder wollen es nicht, und wir wollen den Kapitalismus bitte sehr nur dann via Zauberkraft in leibhaftige Personen verwandeln, wenn wir das “Böse” in Gestalt vor uns sehen wollen. (Hauptsache ist immer, wir sehen es nicht in uns selbst, nicht wahr, wir wollen uns ja nicht selbst “gemein” und “egoistisch” und “raffgierig” finden.)
In Märchen gesprochen, stelle ich mir das folgendermaßen vor:
“Spieglein Spieglein an der Wand, zeig mir den, wegen dem alles grad an die Wand fährt!”
“Den einen Bösen gibt es nicht, das ist leider zu komplex, um das sehen zu können, um was es dir geht, müsste ich eine profunde Kapitalismuskritik vornehmen. Wir treffen uns von nun an auf unbegrenzte Zeit jeden Tag vier Stunden und beginnen auf S.49 des Kapitals…”
“Dafür habe ich keine Zeit und kein Hirn! Dann… zeig mir halt einfach einen bösen, sehr kapitalistischen Menschen!”
“Na gut, dein Wunsch sei mir Befehl, Schneewittchen gab es ja auch nicht, also here we go.”
Um Punkt zwei nun abzuschließen… also auch wenn das Metaphernlied leicht singbar ist und sicher an der “more-death”-Erzählung mitwebt: auch in dieser Lesart bleibt ein Rest, etwas Ungelöstes. Es muss noch eine andere Erklärung geben.
3. a) Sind damit also – und beim Umhören in meinem Bekannt*innenkreis war dies die Hauptlesart – eher indirekte Todesformen durch Firmenpleiten und finanziellem Ruin gemeint wie etwa Suizide?
b) Oder folgendes Szenario: Firma am Ende führt zu Arbeitslosigkeit führt zu Armut. Wird man/frau in den USA zudem krank – ob durch das Covid-19-Virus oder durch etwas anderes, ist dann egal –, ist das sehr schlecht, denn dann haben sie keine Krankenversicherung mehr und kein Geld, den Krankenhausaufenthalt zu bezahlen; ergo, es wird viel mehr Tote geben.
c) Zudem lese ich so viel zu häuslicher Gewalt, zumeist ausgeübt von Männern. Die Zahl von Femiziden und auch Kindertötungen seien seit dem Shutdown in allen Ländern, in denen Covid-19 aufgetreten ist, stark erhöht.
d) Auch könnten die Hungertoten gemeint sein, die in Ländern auf dem afrikanischen und asiatischen und amerikanischen Kontinent durch die nochmals gesteigerte Armut durch Arbeitslosigkeit rapide ansteigen werden. Zudem wird es Engpässe in der Versorgung geben, aus denen Hungersnöte entstehen; ergo es wird mehr Tote geben. Aber meint Trump diese Toten? I doubt it.
e) Dann gibt es noch dieses Szenario: Die Kämpfe um die noch verbliebenen Ressourcen in einem zwar zusammenbrechenden, aber bis zum bitteren Finale materialeinsaugenden System, werden noch härter ausgefochten werden, es wird mehr Kriege – vielleicht sogar den einen letzten Krieg – geben, ergo es wird sehr sehr viele Tote geben.
Vielleicht klinge ich gerade sehr apokalyptisch und kalt und von oben herab. Dabei ist das ja gar nicht mein Denken, sondern es ist dem “more-death”-Denken inhärent, das ich hier versuche aufzudröseln! Und so komme ich einfach nicht umhin, mir bei all dem verwundert die Augen zu reiben und mich zu fragen…: Was sagt das über das Gesellschaftssystem aus, in dem wir leben? Aber eben auch: Was sagt das über uns und unser Denken aus?
Wie kann das Gefühl in einem Menschen entstehen, dass mit dem finanziellen Aus – ob selber Schuld oder nicht, ist dabei völlig belanglos – auch das Leben zu Ende sein muss? Ist das nicht in allerhöchster Form unfassbar?
Wie kann es sein, dass ein Mann eine Frau tötet, weil er zu Hause mit ihr rumhängen muss? Es scheint ja beinahe so, als ob wir – lösungsorientiert wie wir sind – insinuieren: Um die Femizide und Kindertötungen wieder runterzuschrauben, sollen halt die toxischen Männlichkeitsmänner ganz schnell wieder arbeiten, damit sie weniger Chancen haben, ‘ihre’ Frauen und Kinder zu töten”. Nochmal: Hören wir uns noch zu? Denken wir Gedanken zu Ende?
Wie kann es sein, dass es theoretisch und praktisch möglich wäre, Menschenleben zu retten, indem die Kranken medizinische Versorgung erhalten, aber dies wegen Fehlen finanzieller Mittel vieler Kranker einfach nicht getan wird? Wenn es theoretisch und praktisch möglich wäre, nahezu jeden Hungertod auf der Welt zu vermeiden, das aber nicht getan wird, weil… weil… ja weil es ja nicht UNS… also “uns”, damit meine ich jetzt gerade wieder nur uns “Westler*innen”… betrifft. Also… noch nicht. Checken wir dann eigentlich, dass diese prognostizierten und nun auch schon zu beklagenden Toten auch wieder zurückzuführen sind auf unser systeminhärentes Denken und Handeln, weil wir eben so umfassend umschlungen und gefangen sind in patriarchal-kapitalistischen Denk- und Fühlformen? Können wir uns jetzt ganz ehrlich nur Tote, erneuten und womöglich noch brutaleren Wachstumszwang, Krieg, Ausschluss, Grenzschließungen und den nackten Kampf ums eigene Überleben auf Kosten vieler anderer Menschenleben vorstellen?
Werden also all die Palmers und Krauses und Trumps auch diesmal mit ihrer neoliberalen “more death”-und “Alte-egal”-Erzählung durchkommen? Lassen wir uns eigentlich gern von neoliberalen Dystop*innen in Angst und Schrecken versetzen? Werden wir am Ende gar kuschen und sagen: “Okay okay, ich habe so viel Angst vor den ‘more death’; also bitte ganz schnell wieder die Wirtschaft hochfahren, mit welcher wir dann zwar unseren Planeten binnen weniger Jahrzehnte lebensunwert für uns Menschen und so viele anderer Mitlebewesen rocken werden, aber hey… es geht doch ums JETZT! JETZT, AKUT müssen wir handeln… oder so… ist doch so… oder? Also los, fahren wir hoch! Business as usual! Alle wieder aufgesessen! Jetzt wird wieder in die Hände gespuckt und das Gehirn auf dem Weg zur Arbeit ausgeschaltet und erst im Büro wieder angeschaltet, wenn es darum geht, die Frage zu beantworten, wie das Bruttosozialprodukt wieder gesteigert werden kann.”
Ist diese neoliberale Erzählung also weiterhin stark genug? Und dann? Ich sag nur Klimakatastrophe…. Und die ist schon jetzt mitten unter uns: April, April, er tut was er will, aber so wenig geregnet hat’s in diesem Monat noch nie… und zwar bereits in den letzten elf Jahren.
Sollten wir uns in dieser Phase, wo wir die Chance haben, die Krisen der Welt – vor allem die Corona- und die Klimakrise – als eine Krise zu erkennen, nicht regelrecht gezwungen fühlen, endlich über andere und neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken? Sollten wir nicht gerade jetzt jene, die bereits andere und neue Formen von gesellschaftlichem Miteinander entwerfen und dabei unseren verletzlichen Lebensraum Erde mitdenken, mal laut und zur Prime Time zu Wort kommen lassen?
Ob wir “Westler*innen” dann nicht mehr verlieren als gewinnen, fragen mich zaghafte Stimmen (unverkennbar in kapitalistischer Denkmanier) aus dem Off. Und: wenn wir uns nun in ein ganz anderes Gesellschaftssystem stürzen, das es ja noch gar nicht gibt, sterben dann nicht noch mehr Menschen? In einer Revolution oder so? Ich frage zurück: Möchten wir – oder lassen wir doch jetzt mal das einmummelnde “Wir”: möchtest DU, dass “noch mehr Menschen” sterben? Die Stimme flüstert zurück, das läge doch nicht in ihrer Hand.
Hier scheinen sich die Geister immer zu trennen. Es gibt diese Einstellung “Ich kann eh nichts ausrichten”, die dazu führt, dass die Träger*innen dieser Einstellung auch nicht mehr ein Denken und Fühlen für die Welt von sich selbst aus zulassen. Luisa Muraro nennt diese aber notwendige Form des Denkens und Fühlens im 6. Kapitel von Auf dem Markt des Glücks “in erster Person nach Worten suchen”. Und sie fährt fort: “Eine Moral, die nicht die Kraft der Vermittlung zwischen mir und mir und zwischen mir und der Welt hat, taugt nichts. Sie ist nicht praktikabel und überzeugend. […] Vermittlung findet statt, wenn die Worte, die ich finde, um meine Erfahrung auszudrücken, mich diese Erfahrung so wahrnehmen lassen, wie ich es vorher nicht konnte, mir ermöglichen, sie besser zu verstehen, als sie mir zunächst erschien, sie mich akzeptieren und annehmen lassen, wie ich es vorher nicht konnte. Die Vermittlung, genauso wie die Wiederaufnahme, reduziert sich nicht auf eine Reproduktion oder eine Wiederholung, sie aktiviert einen Kreislauf und erweckt ein Mehr.” (ebd.)
Wenn Worte wie “More death by keeping the economy shut than by Coronavirus” mit Ideologie derart vollgesogen sind, dass sie schwer wiegen, schwer wie Blei, schwer wie Beton, sollten wir das dann nicht im Körper spüren? Wenn wir ganz genau in uns hineinhören? Was sagt die Erfahrung? Ist das Lied dann noch zwitscherbar?
Vielleicht ist es für viele von uns erstmal beruhigend zu hören, dass der Beginn eines Nachdenkens über andere Formen des Zusammenlebens genau dann beginnt, wenn wir – jede/r für sich oder auch mal alle gemeinsam – Worte suchen für diese Erfahrung, und dass, wenn dieses Mehr, von dem Luisa Muraro spricht, erst einmal erweckt wurde, sehr viel Lust auf mehr macht.
Huch, immer dieses Schwarz-Weiß-Denken.
Der von den großen starken Männern autoritär verordnete Shutdown ist ja bei weitem nicht die einzige Möglichkeit, mit dem Virus umzugehen!
Japan hat über 125 mio Einwohner und unter 800 Tote laut Statistik und ist ohne autoritären Lockdown ausgekommen!
Es gibt auch medizinische Gründe dagegen, weil die Versorgung anderer Kranker in der autoritären Variante leidet und insbesondere die Vorerkrankungen, die ein großes Risiko darstellen, unbehandelt bleiben! Expert*innen fordern daher auch mehr Aufmerksamkeit für die Behandlung der chronischen Vorerkrankungen, die auch wieder die unteren Schichten mehr betrifft.
Auch sonst fällt auf, dass viele “Risikofaktoren” zu den Zivilisationskrankheiten der westlichen Indsutriestaaten gehören. Ebenso dürfte es den Faktor Luftverschmutzung und andere Umwelteinflüsse geben. Da bleiben die Mitursachen ebenso verdrängt.
Für das von den patriachalen Hindunationalisten regierte Indien werden mehr Tote durch medizinische Nichtversorgung befürchtet. Hier trifft es insbesondere die Armen, auch Frauen!
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)31089-8/fulltext
Ebenso Kinder!
Gerade in Bezug auf den Süden ist die Frage der sozialen Gerechtigkeit zu stellen!
https://www.thelancet.com/journals/langlo/article/PIIS2214-109X(20)30249-7/fulltext
Mit gutem Grund rät die WHO zu mehr Partizipation der Community!
https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(20)31054-0/fulltext
Oder medico: https://www.medico.de/ein-corona-manifest-17746/
Ein Virus, dessen Sterberate etwa 5 x Grippe entspricht und weil es neu ist (und sich daher schneller verbreitet) das Gesundheitssystem zu überlasten droht (darum gings eigentlich) ist nicht wirklich “das größte Problem” auf Erden.
Hunger und Krieg und viele andere Killer bekommen auffallend wenig Aufmerksamkeit, haben aber viel mehr Opfer zur Folge.
Auch die in Alten- und Pflegeheime abgeschobenen Alten erfahren keine Aufmerksamkeit, solange die “normale” Grippe die Sterbekapazitäten des “Gesundheitssystems” nicht überfordert und Schlagzeilen in den Sensationsmedien bringt.
Da gäbe es massive grundlegende Kritik über den Umgang mit Leben und Tod in der kapitalistischen Industriegesellschaft zu formulieren!
Großartig geschrieben und toll bebildert!
Vielen Dank für die positiven Rückmeldungen, liebe @Heike und @Sammelmappe. :)
@Martin Mair, Danke auch für die Ergänzungen, die vielen Links! Ich habe mich durchgeklickt und sehe nirgendwo einen Widerspruch zu dem, was ich geschrieben habe.
Ich glaube irgendwie auch nicht, dass das, was ich geschrieben habe, “Schwarz-Weiß-Denken” ist. Ich habe meinen Finger in einen Satz gebohrt, der von vielen Menschen meines Erachtens viel zu schnell ins eigene Denken übernommen wird, ohne dass dessen Aussage und Wirkmächtigkeit durchdrungen wurde. Sicher, ich hätte viel mehr ansprechen können, viel viel mehr gehört dazugedacht, aber das sprengt dann doch den Rahmen eines solchen Artikels; mir ging es auch darum, dass dieser Artikel eine Möglichkeit, vielleicht einen Anfang darstellt, sich selbst zu befragen und weiter zu denken, so wie Sie es im Grunde tun.
Sie haben recht: Das ganze Thema rund um die Folgen des Kampfes gegen die Corona-Pandemie im globalen Süden habe ich nur ganz wenig angetippt. Die ZEIT macht es diese Woche: https://www.zeit.de/2020/22/hungersnot-corona-pandemie-globaler-sueden. Die Überschrift hier, “Tödlicher als das Virus”, zielt auf eine ganze andere Form der Analyse hin; hier wird der Zusammenhang zwischen den Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie und den tödlichen Auswirkungen in den einzelnen Weltregionen (hier in Niger und einer Region in Indien) differenziert dargestellt. In dem Artikel, sowie auch in vielen, die Sie oben verlinkt haben, geht es um eine solche differenzierte Sichtweise, und es geht eben auch um das Anregen notwendiger Änderungen in der Gestaltung des globalen und lokalen (wirtschaftlichen) Miteinanders (siehe z.B. Ihr Link zum Corona-Manifest). Das finde ich gut, da sie mögliche Bedenken, Richtungen, Richtlinien und Wege aufzeigen je nach Region usw.
Wogegen ich letzten Endes angeschrieben habe, sind vor allem die zwei Kernpunkte, die mit dem neoliberal durchdrungenen “more-death”-Denken á la Trump, Palmer, Krause, Dibelius etcpp. verbunden sind: Dass zum einen das Hochfahren der Wirtschaft die einzige Lösung ist, um wieder… ja… um was… den Vor-Corona-“Normalzustand” wieder zu erreichen? Unseren (“westlichen”) Wohlstand zu erhalten? (DAS ist für mich Schwarz-Weiß-Denken: wenn es darum geht, um alles in der Welt “zurückzuwollen” ohne Rücksicht auf alle Warnungen aus dem Bereich Klima, Flüchtende etcpp.)
Und zum anderen, dass der Satz und seine größtenteils nicht durchdrungene Wirkmächtigkeit oft sehr leichtfertig ins eigene Denken übernommen wird, um das eigene Denken ja nicht wirklich beanspruchen zu müssen, weil wenn dies einmal entzündet würde, nicht selten – wie ich oben bereits schrieb – “alles”, und damit meine ich jetzt erstmal grob und verallgemeinernd unsere Gesellschaftsordnung, anders und neu gedacht werden müsste. Und das ist doch für viele – nicht ohne Grund! – überfordernd und abschreckend. Und ich will aber dennoch genau dazu anregen und Mut machen und entzünden! Das brauchen wir doch so dringend, denn ein back for good wird es – so sehr es sich viele sicher erhoffen – nicht geben, ob die Zusammenhänge (z.B. zwischen den Krisen) nun verstanden wurden oder nicht. Und noch haben wir etwas Zeit und Spielraum (Klimaforscher*innen reden von höchstens einer Dekade…), selbst in andere und neue Richtungen zu denken und dann auch andere und neue Wege zu gehen.
Liebe Anne, dein Text spricht Themen an, über die ich mich gerne mit dir unterhalten würde, auch weil du dir da offensichtlich auch einige tiefer gehende Gedanken gemacht hast. Aber die Form des Textes! Oh je! Durchwegs verwendest du dieses irritierende “wir”, das offensichtlich metaphorisch gemeint ist. Aber eine Metapher wofür?! Du thematisiert im Text teilweise die Metaphern, die verwendet werden, verwendest selbst aber ziemlich viele Metaphern auf ganz unüberlefte Weise. Was willst du mit diesem Artikel WIRKLICH sagen?! Es tut mir Leid, dass es aufgrund der geographischen Distanzen für mich wahrscheinlich nie möglich sein wird, das zu erfahren… Bitte, vermeide in Zukunft beim Schreiben von Artikeln dieses undifferenzierte “wir” !!! Ich hoffe, noch viel Interessantes von Dir zu lesen zu bekommen. Liebe Grüße, Sandra Divina Laupper
Liebe Anne!
Welche freudige Überraschung, als ich vorgestern gemerkt habe, dass du mir geantwortet hast, und noch dazu so ausführlich! Da habe ich mir gedacht, bevor ich Dir wieder schreibe, sollte ich mich mit dem Thema ein bisschen genauer auseinandersetzen und vor allem Deinen Text genauer lesen. Denn ich habe ja das letzte Mal recht spontan reagiert. Wenn ich Dich gefragt habe, was Du WIRKLICH mit diesem Text meinst, dann liegt das v.a. Daran, dass Du Dich darin so lang damit aufhältst, eine Aussage wie jene von Trump, dass der Lockdown mehr Leute umbringt als das Corona Virus, irgendwie verständlich und plausibel zu machen. Wozu? Das ist doch offensichtlicher Non-Sense, was bei so jemandem wie Donald Trump, der sich ständig in Lügen und Unwahrheiten verfängt, nicht weiter verwunderlich ist. Ich habe mir diesen Teil noch einmal genauer angesehen, aber es bleibt mir ein Rätsel. Ist es ein intellektuelles Divertissment, das Du Dir da erlaubst, oder ist es Sarkasmus?
Dabei irritiert mich auch, dass Du das Heidenröschen mit dem Gretchen aus dem Faust gleichstellst, wo doch Gretchen im Unterschied zum Heidenröschen nicht vergewaltigt, sondern von ihrem Geliebten verlassen wird. Das ist einfach nicht das Gleiche.
Ich könnte Dir noch mehr schreiben, z.B. zu den Metaphern und zum “Wir”. Aber ich tu’ mich echt schwer mit diesem Kommentar – Format! Könnten wir unsere “Unterhaltung” nicht via Mail fortsetzen… Ich würde mich freuen!
Liebe Grüße,
Sandra
Liebe Anne, also dann versuche ich es noch einmal via Kommentar. Ich bitte euch nur,mir die Fehler nachzusehen, die mir bei diesem System noch leichter unterlaufen als in den Mails!
A propos Metaphern stört mich bei Deinem Text, dass Du meiner Meinung nach übersiehst, welche Metapher es ist, die in der Aussage “U. S. will see more death by keeping the economy shut than by Coronavirus” so irreführend ist, weil sie einen Vergleich zwischen Nicht-Vergleichbarem ermöglicht. Er setzt eine heruntergefahrene Wirtschaft mit einer toten Wirtschaft gleich, genauso wie wir (wohl nicht nur im Deutschen) von einer Stadt, deren Häuser von den Einwohnern insgesamt verlassen worden sind, sagen, dass es eine “tote Stadt” sei. So weit so gut. Das Problem ist, dass es einem zwar Leid tun kann, wenn eine Stadt (eine Wirtschaft) “stirbt” , aber dass der “Tod” einer Stadt oder einer Wirtschaft nie gleichzusetzen ist mit dem Tod eines Menschen. Denn im Unterschied zu einer Stadt oder einer Wirtschaft stirbt der Mensch wirklich. Deshalb ist diese Metapher “tote Wirtschaft” (tot, weil heruntergefahren) so irreführend : sie verführt dazu, zwischen dem Tod von Menschen und dem “Tod” der Wirtschaft einen Vergleich zu ziehen, der freilich eben einem “Vergleich zwischen Äpfeln und Birnen” gleichkommt, wie man so schön sagt!
Gute Nacht, Anne, ein anderes Mal vielleicht noch etwas zum “Wir”…
Anstatt “Er setzt eine heruntergefahren Wirtschaft…” sollte stehen: “Donald Trump setzt in dieser Aussage eine heruntergefahren Wirtschaft…”
Ich fürchte, sonst ist es missverständlich!
Hallo liebe Anne!
Jetzt habe ich auch Deinen Gedankenaustausch mit Antje zu dem Science Fiktion-Film gelesen. Und ich muss sagen: Deine überquellende Begeisterung und daraus folgende Argumentationsweise hat mich gleichzeitig zum Schmunzeln und zum Kopf Schütteln gebracht…
Als erstes wollte ich Dir sagen, dass es wirklich kein guter Ansatz ist zu meinen, Du müsstest Deine Leserinnen mit irgendwelchen eigentlich überflüssigen Widersprüchlichkeiten in Deiner Ausdrucksweise (z. B. “wir” in unterschiedlicher, teilweise bewusst missverständlicher Weise verwendet) irritieren, um sie zum Nachdenken zubringen. Wenn Dein Text eine Wahrheit enthält, wird sie es sein, die die Leserinnen zum Nachdenken bringt – oder eben nicht, wenn die Wahrheit die Leserinnen, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht.
Wir philosophieren hier, und ich habe, als ich jung war, gelernt, ein bestimmtes Bemühen als “philosophieren” zu bezeichnen, nämlich das Bemühen um Worte, die die Sagbarkeit des Wahren ermöglichen. Luisa Muraro erklärt das sehr anschaulich in dem Text “Lingua e verità” aus der Reihe der “Quaderni di Via Dogana”, der im September 1995 erschienen ist.
Diejenigen Personen, die mir zuhören oder mich lesen, muss ich als Verbündete in diesem Bemühen betrachten, denn allein schaffe ich das nicht. Ich stehe nicht über einer schon fertigen Wahrheit, über die nachzudenken ich andere anregen will. Ganz im Gegenteil vertraue ich darauf, dass der/die andere, die mir zuhört, das Bemühen um die Sagbarkeit des Wahren weiterführt, vervollständigt, mir in einer bereicherten Form zurückgibt. Das bedeutet in Beziehung denken, wie wir es ja von diesem Forum kennen.
Verstehst Du, wie kontraproduktiv es ist, da irgendwelche “pädagogischen” oder “didaktischen” Tricks verwenden zu wollen? Deine Leserinnen zum Stolpern bringen zu wollen?! Eine stolpernde Leserin wird nicht sehr hilfreich sein für Dich!
In Beziehung denken bedeutet ja u.a. auch, von der eigenen Erfahrung auszugehen, eben auch, um sich von dieser Erfahrung als ein ganz subjektiv als “Absolutes” Erlebtes zu verabschieden. Da ist es notwendig, “ich” zu sagen, wenn ich “ich” meine. Das eigene Ich auf ein undifferenziertes “Wir” auszuweiten, hilft nicht, von der eigenen Erfahrung auszugehen, ganz im Gegenteil. Es hilft auch den Leserinnen nicht, mit Deinem Denken von der eigenen Erfahrung ausgehend in Beziehung zu treten. Sprich: Es hilft der Arbeit an der Sagbarkeit des Wahren nicht weiter.
Ich wünsche Dir noch weiter so viel philosophische Begeisterung, aber die Begeisterung von allein schafft es nicht zu vermitteln. Was vermittelt, ist stets die Beziehung!
Liebe Grüße,
Sandra
Oha, erst jetzt sehe ich deine Kommentare, liebe Sandra, es tut mir sehr leid, dass ich nicht mehr reagiert habe. Es fehlt eine Art Klingel, mit der ich sofort erfahre, dass ein neuer Kommentar da ist. Nun sind viele Monate
ins Land gezogen…
Ich antworte trotzdem, das Internet hat Zeit , vielleicht findest du ja auch nochmal den Weg hierher.
Ich beginne bei deinem letzten Kommentar: ich kann dir da nur recht geben. Sicherlich ist es mir – sichtbar an deinen Kommentaren – nicht gelungen, dir zu vermitteln, was mir wichtig war zu vermitteln. Und du hast auch recht, dass ein gewisser didaktischer Unterton mitschwingt, wenn ich sage: denkt einfach mal ein bisschen mehr mit, und zwar um die Ecke rum! Nun hast du mir ebenfalls sehr schön didaktisch aufbereitet , warum mein Text “kontraproduktiv” war. Naja, nun kann man aber darüber streiten, ob das, was wir beide hier tun, nicht auch schon “in Austausch kommen” bedeutet, und wir zumindest sehr an einer Vermittlung interessiert sind. Das ist ja immerhin auch schon mal was, oder? Es muss ja nicht immer das Ziel sein, sich dann vollumfänglich zu verstehen; ich finde, Vermittlung darf – wenn sie denn intendiert war – auch scheitern, dann müssen wir eben weiter in Austausch bleiben, Vermittlung ist ja nie abgeschlossen, oder?
Ich gehe kurz über ein Beispiel: Ich empfehle sehr oft Menschen, das ZDF Magazin Royal zu schauen. Dann schauen es sich die Leute also an, und oft bekomme ich die Rückmeldung: Das ist total zynisch, wie der Böhmermann da spricht von den Menschen”, oder “ich verstehe nicht, was er da macht”. Das heißt, sie finden gar keinen Zugang zu seiner, dieser Form der Vermittlung. Ich aber fühle mich in dieser Form der Vermittlung sehr zu Hause, ich verstehe alles, ich teile fast alles. Aber gelingt es dem Fernsehformat, alle Menschen abzuholen und ihnen zu vermitteln, was vermittelt werden sollte? Nein. Wenn ich von mir aus spreche, ist doch klar, dass nicht alle verstehen, was ich sage. Ich kann dann selbstkritisch einräumen und sagen: ja schade, Vermittlung gescheitert. Aber stimmt das? Du wurdest nicht abgeholt. Aber wurde niemand abgeholt? Kann ich überhaupt mit einem Text alle abholen? Ich habe das Gefühl, es trifft dich persönlich, dass ich es nicht vermocht habe, dich mit meinem Text abzuholen. Du siehst dich nicht im Kreise der Verbündeten, in dem du gerne wärst. Nun ist aber ein Text erst der Start einer Vermittlung, er ist lediglich ein Angebot, um in Austausch über ein Sujet zu kommen. Du kannst gleich danach sagen: “Yyessss, abgeholt, danke dir!” Oder du sagst: “Sorry, aber mich hast du nicht erreicht.” Und dann hängt es von uns ab ob wir weiterhin daran interessiert sind, weiterhin eine Verstehensbasis zu finden.
Was macht es uns beiden zu schwer, unsere Basis zu finden? Was du schreibst zu der heruntergefahrenen Wirtschaft, das ist es ja eben NICHT, was da gemeint ist mit den Toten, und genau DAS ist doch der Inhalt meines Begehrens, meines ganzen Textes! Ich zähle dann — wie viele? – drei plus einige Unterpunkte lang auf, was mit den Toten gemeint sein könnte. Du aber sagst klipp und klar: Gemeint ist hier nur die “heruntergefahrene Wirtschaft”, und punkt. Das heißt, das Nachdenken, das ich anregen wollte, ist gar nicht bei dir durchgedrungen, du stehst am Anfang da wie am Ende. Und klar, da ist meine Vermittlung aber richtig fett gescheitert. Eine Lösung habe ich nun dahingehend auch gerade nicht wirklich. Das war halt meine Form der Vermittlung. Das war eine Unruhe, die ich gespürt habe, die du nun aber gar nicht hast, und zu der ich dich auch nicht anstiften konnte. Welche weiteren Gründe gibt es? Meine Verwendung des “Wirs”. Nun gut, darüber können wir streiten. Ich selbst bin mit dem “Wir” wie gesagt in einem produktiven Austausch, was mein Denken angeht, und das ist einfach auch in sich widersprüchlich. Ich bin da noch nicht d’accord, ich bekomme ja nicht nur von dir Kritik für das “Wir”, lasse es in mir wirken, aber aktuell gehe ich mit dem “Wir” so und nicht anders um, das heißt nicht, dass ich nicht unentwegt darüber nachdenke oder dass ich die Kritik nicht anhöre. Aber ich habe meinen eigenen Kopf, und wenn kein Argument mir bisher schlüssig erscheint, von meiner Verwendungsweise abzusehen, dann ist das halt so. Da kann und will ich doch niemandem etwas vormachen. Das ist nicht gar nicht so didaktisch gemeint, das ist mein Stand der Dinge. Und an dem Stand, an dem ich stehe, da stehen halt auch ein paar Widersprüche rum, die packe ich mit ein – deswegen die Kennzeichnung im Text – und das ist mein Umgang mit ihnen. Ich sehe das sehr relaxt. Es ist eine Baustelle, die ich mir gern immer wieder beschaue. Sie hat für mich ein Recht da zu sein, auch wenn ich grad nicht dran rumbaue.
Mein Text enthält keine Wahrheit, sondern eine Unruhe und bearbeitet ein tiefes Unbehagen in mir, der Text ist meine Form, mich diesem Unbehagen zu stellen und Sprache dafür zu finden. Ich kann dabei leider nicht alle Widersprüchlichkeiten aus dem Wege räumen, und anscheinend kann ich es auch nicht vermeiden, neue Widersprüchlichkeiten aufkommen zu lassen. Soll ich deswegen nicht darüber schreiben? Ich kann nur vermitteln, was ich selber als Unruhe in mir verspüre und über Sprache in die Welt bringen will. Meine Art der Auseinandersetzung ist dann die Form. Ich kann nicht schreiben, und an alle Menschen da draußen denken, und wie sie am besten das Problem verstehen können, ich muss es auch erstmal für mich aufdröseln. Insofern ist ja jeder Text ein Angebot, weiter mit mir daran rumzudenken, gemeinsam. Der Text selbst ist erstmal mir allein entsprungen, ja, so ist das.
Ich habe weiterhin das Gefühl, dass du dich von meinem Text in irgendeiner Weise attackiert fühlst. Ich fühle mich ein bisschen wie als wenn ich eine Seminararbeit von meiner Professorin wiederbekommen habe mit einem “Ungenügend”, und dann erzählt sie mir breit, was mir alles nicht gelungen ist. Dabei hat sie noch nicht mal verstanden, was mein Begehren war. Verstehst du, was ich meine? Das Problem, das ich sehe, siehst du gar nicht. Du meinst von Vornherein zu wissen, was und wer die Toten sind. Also verstellst du dich und dir und mir – indem du dich nicht auf die Reise mit mir in meine Unruhe machst – auch einer Vermittlungsmöglichkeit. Verstehst du, was ich meine? Und ich meine, also mir ist dann relativ klar, warum es so viele Missverständnisse zwischen uns gibt.
Weiterhin frage ich mich halt, dass wenn du das Problem, das ich bei der Frage sehe, wer diese Toten eigentlich sind, gar nicht hast oder siehst, was dich dann so an dem Text .. ja… “hält” oder triggert. Wenn mich was nicht interessiert, dann sage ich, “Leider nicht meine Problemstellung, das Problem ist für mich längst gelöst, ich brauche da keine Vermittlung oder Austausch mehr, also nicht für mich von Interesse, ich bin dann mal weg und lese den nächsten Artikel, in dem ich für mich Interessanteres und in mir Andockbareres finde.” Aber das hast du nicht getan. Warum nicht?
Also mal so gefragt: Wenn ich den Inhalt für irrelevant halte, ist es mir dann überhaupt möglich, die Form in Frage zu stellen? Weil ja beides miteinander zutiefst verwoben ist? Weil auch in meiner Form zeigt sich ja der Inhalt… und ich würde meinen, dann ist es wahrscheinlich wirklich so, dass die Form losgelöst vom Inhalt einfach nicht verständlich ist und auch nicht werden kann.
Ja hallo, Anne, eben erst bin ich zufällig auf deine Antwort gestoßen!
Aus diesem langen Text, den du geschrieben hast, möchte ich folgende Worte hervorheben: “Ich habe das Gefühl, es trifft dich persönlich, dass ich es nicht vermocht habe, dich mit meinem Text abzuholen. Du siehst dich nicht im Kreis der Verbündeten, in dem du gern wärest.”
Allerdings! So ist es. Da hast du mich besser verstanden als ich mich selbst.
Hingegen fühle ich mich mit folgendem Satz missverstanden: ” Das war eine Unruhe, die ich gespürt habe, die du nun aber gar nicht hast, und zu der ich dich auch nicht anstiften könnte.”
Dein Text hat mich zutiefst beunruhigt und irritiert! Sonst hätte ich mich ja gar nicht so intensiv damit beschäftigt…
Dass du diesen Text geschrieben und auf bzw. weiterdenken gestellt hast, hat unseren Austausch überhaupt erst ermöglicht. Also Hut ab!
Freilich kannst du damit nicht alle erreichen und freilich hätte es auch keinen Sinn, wenn du dir das vorgenommen hättest.
Aber der Satz “Der Text selbst ist erstmal mir allein entsprungen, ja, so ist das” bringt bei mir eine Alarmglocke zum Klingeln. Erstens glaube ich nicht, dass ein Text anders als aus der Beziehung zwischen der Autorin und zumindest einer immaginären Leserin entstehen kann. Zweitens lese ich aus diesem Satz heraus, dass du selbst diesen Text nur als unverbindliches Angebot an potentielle Leserinnen siehst. Genau das irritiert mich! Wie kann ich mich im Kreis der mit dir verbündeten Leserinnen (und Leser) sehen, wenn von deiner Seite der Text nur als unverbindliches Angebot gesehen wird!
Ich erwarte von einer schriftlichen wie von einer mündlichen Aussage nicht, dass sie eine fertige Wahrheit enthält, aber doch ein Bemühen um Wahrheit, das von sich selbst ausgehend und ohne Vorbehalte sein Bestes versucht, um sich verständlich zu mache – so wie du in deinen Antworten.
Aber dein Text ist mir nicht wirklich um Verständlichkeit bemüht, sondern streckenweise allzu selbstbezogen vorgekommen – auch weil ich ein paar Sachen missverstanden habe, wie ich aus deiner letzten Antwort lese.
Danke für deine Antworten!
Danke Anne, sehr inspirierender Artikel!