Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Vor zwanzig Jahren, 1999, erschien im Christel Göttert Verlag die „Flugschrift“, ein kleines Büchlein mit dem Titel „Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik“. Aus Anlass des Jubiläums wurde sie neu aufgelegt und wird hier im Forum auch erstmals online veröffentlicht.
Die Flugschrift war inspiriert von den italienischen „Sottosopras“, den Flugschriften des Mailänder Frauenbuchladens. Wir vier Autorinnen – Ulrike Wagner, Dorothee Markert, Antje Schrupp und Andrea Günter – hatten die Thesen an mehreren Wochenenden diskutiert und formuliert. Unsere Absicht war, einen neuen Impuls für feministische und frauenpolitische Debatten zu setzen, die in den 1990er Jahren entweder eingeschlafen waren, oder stark auf Gleichstellung, formale Rechte und Zugang zu Erwerbsarbeit fokussierten.
Stattdessen wollten wir die feministische Perspektive erweitern und fragten, wie sich die Freiheit der Frauen auch verändernd auswirken müsste auf Philosophie. In der Einleitung schrieben wir:
„Die Liebe der Frauen zur Freiheit hat die Welt verändert. Frauen glauben nicht mehr an das Patriarchat, sie lassen sich nicht mehr von der Vorstellung beirren, schwächer und weniger wert zu sein als Männer. Sie haben die Verantwortung für ihr Leben und für die Welt übernommen und die Herausforderung akzeptiert, die das bedeutet. In den letzten hundert Jahren, und vor allem in den letzten dreißig Jahren, erkämpften Frauen sich den Zugang zu allen gesellschaftlichen Institutionen, zu den Parlamenten, zu den Gerichten und Universitäten. Vor allem aber erkämpften sie sich den Zugang zum Arbeitsmarkt.
Frauen glauben aber auch längst nicht mehr daran, dass dies allein schon ihre Freiheit bedeutet. Und in Zeiten, in denen alle Bereiche der Politik sich dem Primat der Ökonomie unterwerfen, widersprechen sie energisch der Vorstellung, die Lösung der gegenwärtigen Probleme unserer Gesellschaft liege in der Sicherstellung einer vorgeblich „gesunden“ Wirtschaft. Frauen weisen die gegenwärtige Wirtschaftspolitik, die unter dem Vorzeichen des Mangels steht, als unrichtig zurück. Politik geht vielmehr von all dem, was schon da ist, und damit von der Fülle aus, denn sie wurzelt in der Verschiedenheit der Menschen.
In der politischen Debatte ist derzeit eine fatale Lähmung zu beobachten. Niemand traut sich aufzubrechen – in welche Richtung auch immer. Die alten politischen Analysen und Strategien taugen nicht dazu, dass wir beherzt die Aufgaben anpacken können, die sich uns stellen. Es sind neue Denkansätze notwendig, die von der längst veränderten Realität ausgehen. Die Herausforderung ist also, Politik neu zu erfinden, und das heißt, das Zusammenleben der Menschen neu zu organisieren.
Entgegen dem verbreiteten Lamentieren über die Resignation sozialer Bewegungen beobachten wir eine neue Lust auf frauenbewegte Politik. Diese Lust beruht nicht auf den alten Machbarkeitsmythen, sie lässt sich nicht davon lähmen, dass sich Teile der Frauenbewegung politisch nicht weiterentwickelt haben, und sie ist unbeeindruckt von der Langeweile, mit der die staatliche Gleichstellungs- und Frauenförderpolitik ihrer Pflicht nachgeht. Frauenbewegte Politik nährt sich vielmehr von der weiblichen Liebe zur Freiheit und dem Wunsch nach gelingenden Beziehungen, von der Freude an einer Politik mit Sinn, von der Lust, Neues in die Welt zu bringen und Dinge zum Besseren zu verändern.
Diese Flugschrift ist ein Diskussionsangebot an Frauen, die jenseits der alten Denkschemata zu einem neuen politischen Denken und Handeln finden wollen. Wir wagen mit diesem Text klare Stellungnahmen. Dabei sind wir uns der Gefahr bewusst, dass unsere Aussagen in die alten politischen Lager eingeordnet und im Rahmen der falschen Alternativen, die wir überwinden wollen, interpretiert werden könnten.“
Die Flugschrift war zugleich das erste Büchlein in der Reihe „kleine philosophische Bändchen“ im Christel Göttert Verlag. Da sie ausdrücklich nicht als fertiges Manifest, sondern als Diskussionsanregung und Denkanstoß gemeint war, richteten wir nach der Veröffentlichung auch eine Internetseite ein, auf der wir auch Diskussionen, damals – lange bevor es Blogs und Soziale Netzwerke gab – dokumentierten. Unter Flugschrift.de sind diese Diskussionen aus der Frühzeit des Internets bis heute nachlesbar.
Im Christel Göttert Verlag ist die Flugschrift jetzt aus Anlass des Jubiläums neu verlegt worden. Im Internet ist der Text jedoch bislang nicht verfügbar. Das möchten wir nun zum Jubiläum ebenfalls ändern und werden in loser Reihenfolge die einzelnen Kapitel hier im Forum veröffentlichen, um sie erneut zur Diskussion zu stellen.
Vieles von dem, was wir in dem Büchlein angesprochen haben, ist inzwischen in der Mitte des feministischen und teilweise auch gesellschaftlichen Diskurses angekommen. Andere Themen sind eher aus der Wahrnehmung verschwunden. Was könnte heute noch genauso geschrieben oder sogar noch klarer zugespitzt werden? Was sehen wir heute vielleicht anders?
Wir freuen uns auf eure Kommentare, Meinungen, Anregungen, Widersprüche!
Auf folgende Kapitel könnt Ihr gespannt sein:
1. Politik als Arbeit an der Kultur
2. Freiheit und in der Welt Sein: aus Beziehungen und vermittels Bindungen leben
3. Das Generationenverhältnis: Verschiebungen und Tradierungsbrüche
4. Mütter und Kinder: Mütterliche Autorität stärken
5. Der Beitrag von Vätern und Mit-Erziehenden und die Klage über die vaterlose Gesellschaft
6. Freundinnenschaften und Konflikte unterschiedlicher weiblicher Lebensmodelle
7. Beziehungsvielfalt und Engagement jenseits von Paar- und Familienstrukturen: Die „allein”lebende Frau
8. Abstrakte Beziehungen und formalisierte Rechte: wie Gesellschaft denken?
9. Geld als Symbol der Abhängigkeit und Mittel der Politik
10. Reichtum und Armut als Beziehungsfragen
11. Notwendigkeit und Wertschätzung der Familien- und Hausarbeit
12. Jenseits marktwirtschaftlicher Zweckrationalität: Care-Arbeit
13. Sinnvolle Arbeit, gelingende Beziehungen: Orientierungen von Frauen in der Erwerbsarbeit
14. Das innovative Potential des „Ehrenamts”
15. Zu wenig und zu viel: Arbeitslosigkeit und Arbeitsüberlastung
16. Die Öffentlichkeit, die Frauen und das männliche Imaginäre
17. Noch einmal: Politik und Wirtschaft
Dass die Diskussionen von 1999 noch online sind merke ich erst jetzt.
Das ist großartig!
Hat nichts an Aktualität verloren. Freue mich auf die Veröffentlichung in loser Reihenfolge. :-)