Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Dieses Jahr im Juni wäre Emma Goldman 150 Jahre alt geworden, nächstes Jahr im Mai ist ihr 80. Todestag. Ein Anlass, sich noch einmal mit der anarchistischen Feministin und ihren Gedanken zu beschäftigen.
Emma Goldman ist so etwas wie die Sympathie-Botschafterin des Anarchismus: Sie ist eine Frau, damit widerlegt sie das Klischee vom Macho-Revoluzzer. Gleichzeitig ist sie radikal genug, um nicht das Etikett von „typischer Weiblichkeit“ aufgedrückt zu bekommen. Auch dass sie Feministin ist, entspricht heute (zum Glück endlich) dem Zeitgeist. Und dann ist da noch der oft zitierte, wenn auch bei Goldman gar nicht belegte Spruch, dass eine Revolution, auf der man nicht tanzen kann, nicht die ihre wäre. Wie nice!
Beim Versuch, sich revolutionären Frauen vergangener Zeiten zu nähern, liegt das Problem oft darin, dass von ihnen wenig überliefert ist, kaum eigene Texte zum Beispiel. Bei Emma Goldman ist das anders: Es gibt sehr viele Texte von ihr, aber gerade die Fülle an Material scheint eine Auseinandersetzung mit ihrem Denken zu erschweren. Denn es findet sich leicht irgendwo eine Stelle, die im Sinne der eigenen Vorlieben ausgelegt werden kann: Ist es denn wirklich Emma Goldman, die bei der Revolution tanzen will – oder sind das nicht eigentlich wir?
Goldman selbst gibt uns die Mittel an die Hand, die Geschichte der anarchistischen, der sozialistischen Bewegungen als eine der Debatten, der Auseinandersetzungen zu erzählen. Kaum ein anderes Buch gewährt so offen Einblick in die damalige anarchistische Bewegung, in ihre internen Konflikte und ihren Alltag, wie Goldmans umfangreiche Autobiografie „Living My life“. Sie hat sie im Alter von 60 Jahren geschrieben, nicht mit leichter Feder, sondern als sorgfältige historische Schilderung, für die sie eine Fülle von Material, Briefen, Erinnerungen von Weggefährt*innen sichtete.
Über Jahrzehnte hinweg war Emma Goldman eine zentrale Figur des internationalen Anarchismus, bei ihr liefen viele Fäden zusammen. Unermüdlich machte sie „Propaganda“ für die Idee einer herrschaftsfreien Gesellschaft, hielt hunderte von Vorträgen im Jahr, gab die Zeitung „Mother Earth“ heraus, reiste kreuz und quer durch die USA und immer wieder auch nach Europa, um für ihre Ideen zu werben und Beziehungen zu knüpfen zwischen den verschiedenen lokalen Gruppen. Goldman ist auch ein Bindeglied zwischen den Vertreterinnen und Vertretern des „klassischen“ Anarchismus des 19. Jahrhunderts – Johann Most, Peter Kropotkin, Louise Michel, Errico Malatesta traf sie noch persönlich – und seiner Fortentwicklung im 20. Jahrhundert. In ihrer Person verbindet sie zudem die europäischen Wurzeln, denen sie durch ihre russisch-jüdische Herkunft verbunden war, und die US-amerikanische Kultur, in der sie sich politisch sozialisierte.
Die besondere Stärke Emma Goldmans liegt darin, dass bei ihr die Trennung zwischen Theorie und Praxis ihren Sinn verliert. Natürlich verfasste sie auch „theoretische“ Werke, aber sie war sich immer darüber im Klaren, dass politische Ideen nicht am Schreibtisch entstehen, sondern im Austausch mit anderen, als Reaktion auf tagespolitische Notwendigkeiten, im konkreten Leben und Handeln. Klarsichtig bestand sie jederzeit darauf, anarchistische Weltanschauung nicht nur zu postulieren und theoretisch auszuarbeiten, sondern Antworten auf die konkrete Lebensrealität von Menschen zu suchen und die eigenen Positionen für die Welt und die Anderen plausibel zu machen.
Dabei – und das ist durchaus nichts Nebensächliches, was hinter dem Bild der sympathischen Tänzerin verschwinden könnte – befürwortete Emma Goldman ausdrücklich Gewalt als eine Möglichkeit, diese Vermittlungsarbeit zu leisten. Als sie 22 Jahre alt ist, verübt ihr damaliger Geliebter, der erst 20 Jahre alte Alexander Berkman, einen Mordanschlag auf den Industriellen Henry C. Frick, der allerdings misslingt. Fricks brutales Vorgehen gegen Streikende hat mehrere Arbeiter das Leben gekostet, und die „Propaganda durch die Tat“ soll deutlich machen, wie existenziell die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus ist, dass es dabei buchstäblich „ums Ganze“ geht. Goldman unterstützt den Anschlag ohne Wenn und Aber. Berkman muss 14 Jahre ins Gefängnis, die er größtenteils in Einzelhaft verbringt.
Unterdessen entwickelt Goldman sich zu einer gefragten Rednerin und politischen Agitatorin. Zigtausende wollen ihre Vorträge hören, sie wird berühmt und einflussreich. Es ist klar, dass die beiden nach Berkmans Freilassung nicht einfach wieder ihre Liebesbeziehung aufnehmen können, und sie sind klug genug, es gar nicht erst zu versuchen. Sie erhalten ihre Verbundenheit, indem sie sich nur hin und wieder einmal sehen. Wenn Emma Goldman, wie viele andere einflussreiche politische Denkerinnen auch, so oft als Teil eines heterosexuellen Paares wahrgenommen wird, dann ist das Unsinn: Genauso wenig wie Sartre für Beauvoir oder Heidegger für Arendt der wichtigste Mensch im Leben war, war es Berkman für sie.
Es gibt viele andere wichtige Menschen in Goldmans Leben; allerdings leidet sie darunter, dass es tatsächlich nicht viele Männer gibt, die gleichzeitig ihre Ideale teilen und an einer Liebesbeziehung interessiert sind. Genau das hatte sie als Jugendliche mit Berkman erlebt – und das war es, was sie wollte. Die meisten Männer nehmen sie aber entweder als asexuelle Kämpferin für die Sache wahr, oder als Geliebte oder potenzielle Mutter ihrer Kinder. Beides zusammen können sie sich kaum vorstellen. Für Goldman ist die Liebe aber so eine Art Lebenselixier, auch politischer Hinsicht. Ben Reitman etwa, ein junger und faszinierender, allerdings aus revolutionärer Sicht wenig standfester Liebhaber über viele Jahre: Während die beiden ein Paar sind, hält Goldman besonders viele Vorträge, wird von der Polizei verfolgt und von den Medien angefeindet. Sie stellt fest, dass ihre Verliebtheit ihr Kraft und Energie gibt, um die Strapazen und wiederholten monatelangen Gefängnisaufenthalte durchzustehen. Anders als männliche Revolutionstheoretiker, die sich in ihrem Engagement natürlich ebenfalls auf persönliche Liebesbeziehungen stützen, reflektiert Goldman diesen Zusammenhang, macht ihn zum Teil ihrer Theorie.
Für eine, der Beziehungen so wichtig sind, war es eine Herausforderung, dass immer wieder enge Weggefährt*innen, mit denen sie sich ideologisch verbunden glaubte, in konkreten Tagesfragen zu diametral anderen Einschätzungen kamen: Johann Most verurteilte politische Attentate. Peter Kropotkin rechtfertigte den Ersten Weltkrieg. Die meisten männlichen Genossen hielten den Einsatz für Geburtenkontrolle und sexuelle Freiheit für nebensächlich wenn nicht gar für kontraproduktiv.
Allein Alexander Berkman stand, was ihre politischen Überzeugungen betraf, verlässlich an ihrer Seite. Die beiden vertrauten sich in ihren Urteilen gegenseitig – oft gegen den Rest der Welt, und auch gegen den linken, den anarchistischen Mainstream. Das bewährte sich besonders in der wohl größten Krise antikapitalistischer Bewegungen, der bolschewistischen Revolution in Russland. Ende 1919 werden Goldman, Berkman und 250 andere aufgrund von „Anti-Anarchismus-Gesetzen“ aus den USA ausgewiesen und nach Russland abgeschoben. Trotz anfänglicher Begeisterung für die Revolution brauchen sie nur ein gutes Jahr, um zu verstehen, dass die Sowjetunion eine politische Katastrophe ist. Diese Einsicht wurde damals in der europäischen Linken noch von kaum jemandem geteilt, und sie machten sich unter Kommunisten und Sozialdemokratinnen damit sehr unbeliebt.
Zu ihrem 150. Geburtstag und 80. Todestag ist es höchste Zeit, Emma Goldman nicht länger als Pin-Up-Girl der Revolution zu verheizen, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit ihr zu suchen; die Originalität einer Denkerin zu würdigen, an der man sich reibt und von der man lernt, anstatt sich in ihr zu sonnen.
(Diesen Text schrieb ich für den SyndiKal, einen anarchistischen Kalender, 2020.)
Danke, Antje, diese Emma Goldman gefällt mir!