Forum für Philosophie und Politik
Von Michaela Moser
Die Geschichte ist so brutal wie bizarr und basiert auf wahren Begebenheiten: Zwischen 2005 und 2008 wurden in einer abgelegenen und sehr abgeschlossen lebenden mennonitischen Gemeinde in Bolivien insgesamt über hundert Mädchen und Frauen Nacht für Nacht in Bewusstlosigkeit versetzt und vergewaltigt.
Ihren Berichten darüber wurde lange nicht geglaubt, beziehungsweise erklärten die Männer des Dorfes das Geschehene zu Taten von Dämonen oder Geistern, die die Frauen für Verfehlungen strafen würden.
Erst als ein Mann ertappt wurde und die Tat gestand, wurde das Offensichtliche bekannt und eine Gruppe Dorfbewohner zur Verantwortung gezogen.
Die kanadische Autorin Miriam Toews, die selbst in einer Mennoniten-Gemeinde aufgewachsen ist, hat ausgehend von diesen grausamen Gewalttaten einen Roman geschrieben, der die Perspektive der betroffenen Frauen so radikal in den Mittelpunkt stellt wie deren Suche nach einer Zukunftsperspektive, die den Betroffenen wichtiger ist als Erklärungen oder Vergeltung.
„Die Aussprache“, im englischen Original noch treffender mit „Women talking“ betitelt, dokumentiert die Gespräche einiger der Frauen über die Frage nach dem „Wie weiter“ und berichtet über ihre Abwägungen zu möglichen und unmöglichen Schritten in ein zukünftiges Leben. Gleichzeitig ist der Roman eine großartige Erzählung über Weisheit, Witz und Widerstandskraft von Frauen, denen das zunächst wohl kaum jemand zutrauen würde.
Das ganze Setting und die Lebensumstände der Frauen sind so patriarchal wie skurril, und würden wahrscheinlich – wären sie erfunden – als zu phantastisch abgetan. Doch sie beruhen auf Realitäten. Irgendwo in Bolivien leben tatsächlich Gruppen von ursprünglich Russland-deutschen, Plautdietsch sprechenden, mennonitischen Christ*innen, ganz unter sich und in Abgeschiedenheit vom „Rest der Welt“, mit dem natürlich sehr wohl – von den Männern betriebene – ökonomische Beziehungen bestehen.
Die Frauen wissen vordergründig „nichts“ von der Welt da draußen, sie kennen maximal das Dorf der benachbarten ebenfalls mennonitischen Gemeinde, sie dürfen weder lesen noch schreiben lernen – Margareth Atwoods „The Handmaids Tale“ lässt grüßen – und haben noch nie in ihrem Leben eine Landkarte oder einen Globus gesehen.
„Wir wissen ja gar nicht, wo wir hingehen sollen“, meint an einer Stelle eine der Protagonistinnen, worauf eine andere lakonisch mit „Aber wir wissen ja auch nicht, wo wir jetzt sind“ antwortet.
Über mehrere geheime Treffen hinweg wägen die Frauen unterschiedlicher Generationen verschiedene Optionen für ihre Zukunft ab, während die Männer des Dorfes damit beschäftigt sind, ihre „Brüder“, die Vergewaltiger, mittels Kaution aus der Haft in der nächst gelegenen Stadt frei zu kaufen.
„Tun als ob nichts wäre“, „Bleiben und kämpfen“ oder „Gehen“, lauten rasch die drei Optionen, die in den mehreren Stunden dauernden teils verschlungenen Gesprächen diskutiert werden. Auch eine vierte Option, die einer gänzlich neu organisierten Gesellschaft, fällt den Frauen dabei ein.
„Es könnte doch ganz einfach sein“ meint Ona, eine von ihnen, Frauen und Männer würde zukünftig die Entscheidungen des Dorfes gemeinsam treffen, Mädchen und Frauen sollten lesen und schreiben lernen, die Schule müsste eine Weltkarte zur Verfügung stehen und „wir könnten beginnen zu verstehen, wo unser Platz auf der Welt ist“. Auch eine neue Religion würden sie entwickeln.
Bei aller Gläubigkeit der Frauen haben sich diese nämlich auch in Bezug auf erlernte Glaubenssätze und die damit verbundenen Autoritäten große Skepsis erhalten. Auch gegenüber dem das Dorf bestimmenden Bischof Peters, der schon längst mit Blick auf verbotene Uhren und Telefone, die er einsammelt, um sie dann selbst zu benutzen, der Heuchelei überführt ist.
Vom Bischof und den restlichen Männern, da sind sich die Frauen sicher, würden sie zur Vergebung der begangenen Taten aufgefordert werden. Und wenngleich ihnen diese als christlicher Wert biblischer Qualität vermittelt wurde, hindert sie ihr Glaube nicht daran, auch biblisch belegte Anweisungen zu hinterfragen.
Wie könnten sie denn überhaupt wissen, was wirklich in der Bibel stünde, fragen sie sich, wenn sie deren Inhalte doch immer nur über die Männer vermittelt bekommen haben? Die tatsächliche biblische Botschaft gelte es demnach erst zu entdecken.
Damit erweisen sich die Frauen auch als kluge Theologinnen, die genau das anwenden, was die große feministische Bibelwissenschafterin Elisabeth Schüssler-Fiorenza schon in den späten 1980er Jahren als eine „Hermeneutik des Verdachts“ nannte, nämlich die Grundannahme, dass biblische und theologische Interpretationen – und Texte – generell aus androzentrischer Perspektive und zu Ungunsten von Frauen verfasst und verbreitet wurden (vgl. Elisabeth Schüssler-Fiorenza, Brot statt Steine, Freiburg 1988).
Alles in allem lehren uns die wunderbaren Frauen dieses Buches, die man je länger die Lektüre währt je mehr ins Herz schließt, viel über gesunde Skepsis und auch über die Verbundenheit der Liebe zum Denken mit der Liebe zur Freiheit. Denn drei Dinge sind es, die sie schließlich als Eckpfeiler für ihr zukünftiges gutes Leben, wo immer dies auch stattfinden sollte, definieren:
„Unsere Kinder sollen sicher aufwachsen, wir wollen fest in unserm Glauben bleiben. Wir möchten denken können.“
Vor der unbekannten Zukunft müssten sie dabei nicht Angst haben. Das lehren die Erfahrungen von einer von ihnen, Greta, die erzählt, wie sie sich früher immer vor der engen Straße hin zum Nachbarort fürchtete, weil die Abgründe rechts und links so tief seien. Erst als sie lernte, sich auf einen Punkt in weiterer Ferne statt auf die unmittelbare Straße zu konzentrieren, fühlte sie sich sicherer.
Das Dorf zu verlassen, so ihr Fazit, „wird uns eine weitsichtigere Perspektive geben.“ Und als Leserin lässt sich diese Weisheit auch in viele andere Kontexte und Situationen mitnehmen.
Miriam Toews, Die Aussprache, 2019, Hoffmann und Campe, 256 Seiten, 22 Euro (engl. Original: Women Talking, 2018, Faber & Faber)
Die direkten Zitate sind eigene Übersetzungen aus der englischen Originalausgabe, die möglicherweise im Wortlaut von der deutschen Übersetzung abweichen.
Schön ist sie,die Perspektive, welche die Frauen im Roman von Miriam Toeuws für sich entwickeln können. Doch sieht die Realität anders aus: https://www.vice.com/de/article/yv4bgb/geister-vergewaltigungen-in-bolivien-0000549-v9n8
Und die Frauen leben nicht ‘rgendwo in Bolivien’,sondern im Chaco im östlichen subtropischen Tiefland dieses Landes.