Forum für Philosophie und Politik
Von Dorothee Markert
Dieses Kapitel wurde von zwei Frauen gemeinsam verfasst, „mit vier Händen und zwei Herzen“ (S.79). Die eine ist Maria Livia Alga, die in dem Diotima-Buch „Das Fest ist hier“ davon erzählte, wie der Gay Pride ihre Herkunftsstadt Palermo verändert hat, die sonst immer mit der Mafia und üblen Verbrechen in Verbindung gebracht wird. Abschnittsweise schrieben sie und Sara Bigardi dieses Kapitel, während sie immer wieder das Gespräch mit Frauen von Diotima suchten, vor allem mit Chiara Zamboni und Giannina Longobardi. Es sollte eine „autoethnologische“ Untersuchung ihres Weges heraus aus der alten Ordnung werden, unter der Fragestellung, wem jede von ihnen „die Frau verdankt, die sie geworden ist“. Sie widmen ihren Text ihren Großmüttern Celestina und Paola. Von Paola hat Maria Livia gelernt, dass der Kapitalismus der größte Fehler überhaupt ist, Celestina unterstützte Sara immer in der Verwirklichung ihres Begehrens.
Die Frage, „To whom do I owe the woman I have become?“ stammt aus einem Gedicht von Audre Lorde, deren autobiographischen Roman Zami die beiden Frauen hören, während sie ihre Wohnung sauber machen. Inspiriert von Audre Lordes Vorgehensweise, betrachten sie ihre jeweiligen biographischen Ursprünge und untersuchen, welche Hilfe genealogische Hintergründe bieten können, um mit den Ungerechtigkeiten, den Widersprüchen und mit dem Zuviel im Leben jeder Einzelnen zurechtzukommen.
Maria Livia Alga beginnt mit einem Abschnitt über die Praxis des Streitens im Feminismus. Sie berichtet über die Erfahrung, dass durch Konflikte untereinander der politische Aspekt ihrer Beziehungen verlorenging und jede nur noch ihre Ohnmacht spürte. Während Alga solche Auseinandersetzungen früher nur im Hinblick auf die Beziehung oder den Kontext interpretiert hatte, sieht sie darin nun das Zeichen für eine Gegenwart im Umbruch, vergleichbar mit der Häutung einer Schlange.
Der Ausgangspunkt ihrer Suche ist das Gefühl, dass der separatistische Feminismus gescheitert ist, dass er vor allem seine verändernde Kraft verloren hat. Es kam unter den Frauen zu einer Entfremdung durch etwas Ungesagtes, das aber auch nicht aufgelöst werden konnte, wenn es angesprochen wurde. Auf der Suche nach den Ursachen der lähmenden Konflikte beschreibt Alga zunächst den Umgang mit den Unterschieden hinsichtlich der Positionen in der sozialen Ordnung, der materiellen Bedingungen und der Herkunftskultur. Sie stellt fest, dass die Beziehungen untereinander oft nur an der Oberfläche der jeweiligen Lebensgeschichte, der Unterdrückungserfahrungen und der Widersprüche blieben, ohne lebendige Verbindungen und neue Praktiken zu erschaffen. Dann untersucht sie die Frage, ob es am Begehren lag, daran, dass das Begehren mancher anderen Frau Angst macht, oder daran, dass es schwer ist, überhaupt zum eigenen Begehren zu finden. Und dass in diesem Zusammenhang weibliche Autorität oft mit Macht verwechselt wurde. Sie kommt zu dem Schluss, dass keine der beiden Perspektiven verabsolutiert werden darf, weder die symbolische noch die soziale, dass über die erlebten und erlittenen sozialen Widersprüche so gesprochen werden sollte, dass keine Frau auf eine vorgegebene Position festgelegt wird und es zwischen den Erfindungen im Bereich der symbolischen Ordnung und denen in der sozialen Ordnung eine spiralförmige Bewegung gibt.
Am Ende dieses Abschnitts betont sie, wie wichtig es ist, gerade in sogenannten „gemischten Räumen“ und im ganz normalen Alltag weibliche Autorität zirkulieren zu lassen. Ihrer Erfahrung nach strahlt dort die Kraft der Beziehungen unter Frauen aus, hier bekommt das unerschöpfliche feministische Versprechen auf Veränderung wieder Sinn.
Maria Livia Alga erzählt nun, wie sie aus Sizilien weggegangen ist und eigentlich nie wieder zurückkehren wollte. Wenn ihr neugierige Fragen zu ihrer Herkunft gestellt wurden, trug sie eine aufgesetzte Gleichgültigkeit gegenüber dem Ort ihrer Kindheit zur Schau. Eine Freundin, deren Großeltern einst aus Istrien emigriert waren, kritisierte diese Haltung. Denn solche Fragen könnten eine eigene Suche nach Wahrheit über das Erlebte in Gang setzen und Sprachräume eröffnen, wo vorher nur Schweigen war. Maria Livia Alga verstand durch diese Kritik, dass sie mit ihrer Suche bei den Unterdrückungserfahrungen und Ungerechtigkeiten anfangen musste, wegen derer sie Sizilien verlassen hatte. Es ging darum, jenen erlittenen Widerspruch, mit dem sie nichts mehr zu tun haben wollte, weil sie sich darin nur als Opfer gefühlt hatte, in einen lebendigen Widerspruch zu verwandeln. Und so arbeitete sie mit der Freundin und anderen Frauen zusammen an dem Schweigen im Grunde ihrer Seele, an der aufgesetzten Gleichgültigkeit, die keine eigenen Worte hatte. So kam sie zur geschichtlich-genealogischen Arbeit, die sich auf mehrere Ebenen erstreckte. Durch diese Arbeit gelang ihr schließlich der Übergang von den existentiellen Widersprüchen zu einem neuen Gefühl der Fülle.
Sara Bigardi trägt im nächsten Abschnitt zusammen, was sie von den Diotima-Denkerinnen und anderen über die geschichtlich-genealogische Arbeit gelernt hat. Ein grundlegend wichtiger Schritt war es, in eine lebendige Beziehung zur Mutter zurückzukehren, was bewirkte, dass aus den vormals von Hass und Undankbarkeit geprägten Beziehungen zu den anderen Frauen ausgestiegen werden konnte. Dazu gehörte es, der Triade Großmutter-Mutter-Tochter mehr Aufmerksamkeit zu widmen als den Vater-Sohn- und allenfalls noch Mutter-Sohn-Geschichten der patriarchalen Tradition. Verwurzelt in der weiblichen Genealogie, konnte nun auch der Verbindung mit der kollektiven Geschichte ein neuer Sinn gegeben werden. Denn unsere persönliche Geschichte ist untrennbar mit der Geschichte von allen verbunden und definiert durch diesen kleinen Anteil deren Sinn und Qualität. So hätten die Autorinnen beispielsweise verstanden, „dass es keinen Sinn hat, allgemein über die kulturellen Differenzen zu arbeiten, deren Trägerin jede Einzelne ist, sondern dass es sinnvoll ist, auf historische Weise an der Genealogie jeder Person zu arbeiten sowie an den Vorstellungswelten, die aus ihr hervorgegangen sind“ (S. 90). Ebenso mache es keinen Sinn, über Multikulturalismus und Mehrsprachigkeit zu arbeiten, dagegen solle über die jeweiligen Muttersprachen und ihre Vermischungen gearbeitet werde, denn von dort aus werde die Gegenwart neu formuliert, um von sich selbst ausgehend Gerechtigkeit zu schaffen.
Maria Livia Alga schreibt nun darüber, wie ihr im Alter von zehn Jahren erstmals ihr Verbundensein mit der kollektiven Geschichte bewusst wurde. 1992, nach einem Blutbad der Mafia – es war das letzte dieser Art – spürte sie die Stärke auf den Straßen und Plätzen, als die Stadt von zahlreichen Bürgern und Bürgerinnen eingenommen wurde. Mit weißen Laken, die sie an die Häuser hängten, und mit kleinen Ansteckern aus demselben Stoff zeigten sie ihre Gegnerschaft zur Mafia. Mit dem Symbol des weißen Lakens wandten sie sich sowohl gegen die blutverschmierten Laken, mit denen die Ermordeten zugedeckt worden waren, als auch gegen den Brauch, nach der Hochzeitsnacht das blutbefleckte Laken als Beweis für die Jungfräulichkeit der Braut zu zeigen. Die weißen Laken waren auch ein Zeichen für den Verlust an Legitimität von Institutionen und Parteien und für die Erkenntnis, dass es nötig war, von sich selbst ausgehend Verantwortung zu übernehmen für den eigenen Lebenskontext und das eigene Lebensumfeld.
Während Maria Livia Alga an allen Anti-Mafia-Aktivitäten teilnahm, bis sie aus Palermo wegging, blieb ihre Mutter zuhause. Sie fand, dass sie genug zu tun hatte mit Büroarbeit und Haushalt und damit, sich um die Kinder zu kümmern. Anfangs schämte sich die Autorin für ihre Mutter, doch später wurde ihr bewusst, dass die Zugehörigkeit zur Anti-Mafia-Bewegung nicht zum Leben aller Bewohner der Stadt gehörte, sondern hauptsächlich zu dem der Mittelschichten. Diese Erkenntnis bewahrte sie davor, sich darauf zu verlassen, dass diese Bewegung in der Lage sein müsste, gegen alle Ungerechtigkeiten anzugehen, die es gab. Denn dafür waren immer wieder neue Erfindungen nötig, jede von sich selbst ausgehend, damit die Bewegung nicht zu einer neuen Institution oder einem institutionsähnlichen Gebilde wurde.
Die horizontale Achse der Fülle entdeckte Maria Alga durch den Feminismus. Dank der Beziehungen zu einigen Frauen konnte es gelingen, dass sie nicht zu einer Insel wurde, sich nicht mit der Geschichte einer Insel identifizierte, sondern ihren Platz im Bild eines Archipels finden konnte. Auf das Bild des Archipels kam sie im Gespräch mit anderen Frauen, als sie nach etwas suchten, das die Geografie ihrer Beziehungen repräsentieren könnte. Sie sahen darin den Übergang von der Verlassenheit und Einsamkeit des „Insel“-Seins zu einem geopolitischen Zusammenschluss des „Archipel“-Werdens. Ein Archipel zu bilden heißt, in Verbindung mit der jeweiligen Geschichte der anderen Inseln zu sein. „Man könnte sagen, dass ein Archipel ein System von fest vertäuten Bezügen ist, die in der Zeit fortdauern, so wie ein System von Leuchttürmen die Schifffahrt ermöglicht und dafür sorgt, dass Ortsveränderungen nicht zu einem totalen Schiffbruch führen. In diesem System gibt es gegenseitige Verantwortlichkeiten, denn wenn eine Insel aufhört, für Licht zu sorgen, gibt es gefährliche dunkle Stellen. Die Leuchttürme sind keine Metapher für die einzelnen Frauen, sondern es sind die Bezugspunkte, die jede individuelle Geschichte liefern kann. Eine Geschichte aus solchen Leuchttürmen, die jeder Einzelnen Orientierung bietet, glaubt an die Kraft des Archipels“ (S. 94).
Mit diesem Text beende ich die Serie über das Diotima-Buch „Femminismo fuori sesto“. Drei Kapitel habe ich ausgelassen, da mich der jeweilige Inhalt nicht genug interessierte, um mich in den Wortschatz und den fachlichen Kontext so weit einzuarbeiten, dass ich eine mir sinnvoll erscheinende Zusammenfassung zustande bringen konnte. Damit sage ich nichts über die Qualität dieser Texte aus, nur über mein (nicht ausreichendes) Interesse. Vielleicht möchte ja eine unserer Leserinnen sich gerade mit diesen Themen befassen? Die Titel der ausgelassenen Kapitel sind: Lucia Bertell, „Tu che ti nasconi dentro tutti i nomi“; Alessandra Allegrini, „Vita senza esseri umani, tecnoscienza senza differenza“ und Antonietta Potente, „Ricostruire senza fondi: misticopolitica della creatività femminista“.
Diotima: Femminismo fuori sesto. Un movimento che non può fermarsi. Napoli, Januar 2017
(Feminismus außerhalb jeglicher Ordnung. Eine Bewegung, die nicht zum Stillstand kommen kann)
Leuchtturm sein…
Danke Dorothee Markert.