Forum für Philosophie und Politik
Von Jutta Pivecka
Eine Home-Story in der Zeitschrift „Bunte“, so nehmen einige an, kostete den Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, Thorsten Albig, seine Wiederwahl. Im Interview äußerte sich Albig zur Trennung von seiner langjährigen Ehefrau. Er habe sich mit der Hausfrau und Mutter nur noch selten „auf Augenhöhe ausgetauscht“, so gab der SPD-Politiker an.
Obwohl Albig sich im Gespräch durchaus Mitschuld am Scheitern der Ehe gab, kam diese Passage nicht gut an. Albigs sprachlicher Missgriff müsste indessen kaum interessieren, offenbarte sich durch ihn, wie ich glaube, nicht ein grundsätzlicher Fehler im Denken der europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten, der sie auch in Zukunft Mehrheiten und Gestaltungsmöglichkeiten kosten wird. Und das mit Grund und Recht.
Das Denken der demokratischen Linken in Europa verharrt an diesem Punkt im 19. Jahrhundert, da es Emanzipation, individuellen und gesellschaftlichen Fortschritt, nach wie vor ausschließlich an Erwerbsarbeit koppelt. Das Leitbild bleibt der vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer, der jetzt gerne auch Arbeitnehmerin sein soll.
Nicht-professionelle Care-Arbeit kommt in diesem Modell bestenfalls randständig als bedauerliche Ausnahme vor, die schnellstmöglich zu überwinden ist. Freiheits- und Gerechtigkeitsbegriff werden von der Erwerbstätigkeit her gedacht. Beziehungsarbeit, die nicht professionalisiert werden kann oder sollte, und ihr Potential für die Entwicklung von Persönlichkeit und gesellschaftlichem Fortschritt bleiben undenkbar.
Auch wir, die Feministinnen der Differenz, die sich weigern, diesen männlich geprägten Leitbildern zu folgen, so empfinde ich, haben zwar bereits viele wichtige Fragen zu diesen Themen gestellt und Denkansätze entwickelt, jedoch noch keine schlüssigen Antworten gefunden, z.B.: Welche Rolle spielen Verantwortlichkeit, Verbindlichkeit und Pflicht in „neuen“ Familiengefügen? Und wie kann sich die Anerkennung von Arbeit ausdrücken, wenn deren Anerkennung bloß durch Geld geradezu zwangsweise erneut deren Entwertung bedeutet (s. „Mütterrente“, „Elterngeld“ oder „Herdprämie“). Wie kann das notwendig Bewahrende von Sorge-Arbeit in Balance gebracht werden, mit den sich gleichzeitig beschleunigenden (und gewollten?) Veränderungen traditioneller Beziehungsformen?
Zum Weiterdenken:
Antje Schrupp: Erkennen, was notwendig ist
Dorothee Markert-Knüfer: Fülle und Freiheit in der Welt der Gabe, Christel Göttert-Verlag 2006
Zum Trost: Es gibt auch paternalistische Frauen!
Auch unter Feministinnen gibt es engstirnige Lohnarbeitsfetischistinnen, die nur über die Lohnarbeit eine Emanzipation der Frau sehen …
Und auf den Jobcentern usw. gibt es viele Frauen die auch zu villfährigen MittäterInnen geworden sind. Wo bleibt da die kritische Auseinandersetzung?
Sehr guter Artikel! Und die richtigen Fragen.
Ja, finde ich auch; doch die Antworten habe ich nicht darauf …
Sprachlichen Entgleisungen gehen Gedankenentgleisungen voraus. Wie kommen wir endlich dazu, Fürsorgearbeit, die ja einen liebenden Blick auf Bedürftige voraussetzt, zu würdigen als Einsatz für das Leben? Wahrscheinlich muss die Robotik die Erwerbsarbeit noch überflüssiger machen, bevor diese notwendigen Neubewertungsprozesse, was einen Menschen adelt, allgemeiner ins Bewusstsein kommen.
sehr guter Artikel von Frau Pivecka! Danke. Eigentlich alles bekannt – doch immer noch keine Einsicht + Verantwortung bei den Verursachern + winzig Widerstand + Anklage seitens der Leidtragenden. Dieses Beispiel von Ungleichheit, Unfreiheit (inkl. folgende menschliche, ökologische Desaster)geschieht wie selbstverständlich immerfort im apathischen demokratischen System. Ohne aufgezwungene schmerzhafte Bewußtseinsarbeit mit folgenden kompromißlosen persönlichen Einbußen bei den von uns gewählten Entscheidern,demokratischen “Apparaten”, Partnern oder komplette Verweigerung (Karriere, Care-Arbeit, Lohnarbeit) …..wird sich NICHTS ändern!
Liebe Jutta, Du stellst wichtige Fragen und es reicht nicht, sie an die Politiker und Politikerinnen weiter zu reichen. Für die Antworten bedarf es kreativer Denkarbeit von uns allen. Und Hartnäckigkeit sowie Wachsamkeit, damit die Fragen immer wieder die notwendige Aufmerksamkeit bekommen.
vielleicht aber müssen wir nur unseren Blick in die andere Richtung wenden? Wieso kann der politisch oder werktätige Mann nicht “auf Augenhöhe” mit seiner in Fürsorgearbeit beschäftigten Frau kommunizieren? Vielleicht, weil ER den Anschluss verpasst hat? Er sagt ja nichts darüber aus, wer “oben” und wer “unten” denkt oder redet- es ist unsere Wahrnehmung, die das so interpretiert. Was sagt DAS denn nun über UNSER Denken aus?
An die Nase fassen sollten wir uns und der Frau dankbar sein, dass sie ihm bewusst gemacht hat – er hat den Boden unter den Füßen verloren und fliegt nun davon. Soll er doch. Sie wird allein klar kommen und muss nicht mehr immer beim Sprechen nach unten gucken
Obszöne Auswüchse und Brutalität der vorherrschenden Arbeitsideologie zeigen folgende Beiträge:
“Anzeige gegen Jobcenter Pankow: Berliner Mutter wehrt sich gegen Stelle in Sexshop
Frigga Wendt ist Mutter eines Kindes, hat an der Humboldt-Uni Physik studiert und arbeitet als Freiberuflerin in Vereinen, Lernwerkstätten und Schulen. Doch wenn es nach dem Willen des Jobcenters Pankow geht, steht die 36-Jährige künftig im Sex-Shop. Dort soll sie Erotikzeitschriften und Sex-Spielzeug verkaufen. Das Jobcenter hat der Frau jedenfalls ein Stellenangebot inklusive Aufforderung zum Vorstellungsgespräch in einem Erotik-Laden geschickt. Doch Frigga Wendt wehrt sich. Sie hat Strafanzeige wegen Nötigung erstattet.”
http://www.berliner-zeitung.de/berlin/anzeigejobcenterpankow-27033694
http://www.bg45.de/index.php/9870/bescheid-vom-jc-aufforderung-zur-prostitution/
Alles schön und gut! Doch nun einfach die Erwersarbeit madig zu machen, kanns wohl auch nicht sein oder?! Beide Formen von Arbeit sollten vereinbar sein, sind es tatsächlich jedoch nur schwerlich, da andere Kompetenzen gefordert sind und sie mehrheitlich andere Geschwindigkeiten haben. Doch ist gesellschaftlich gesehen halt die care-arbeitenden Frau des Ministerpräsidenten immer noch unter ihm und der Preis ihres Engagements, das auch nicht immer sehr sexy ist, schlägt sich dann in ihrem Alter einer geringeren Rente nieder.
Diese wichtigen Einsichten sollten auch an die sog. politischen Entscheidungsträger*innen heran getragen werden.
Selber schreibe ich mir schon seit Jahr und Tag ‘die Finger wund’ (kleine Übertreibung), und so werde ich dieses Beitrag
z.B. an Herrn Albig weiterleiten.