Forum für Philosophie und Politik
Von Claudia Kilian
Es gibt Bücher, da klopft mein Herz, wenn ich sie entdecke. „Mit der Linie 4 durch die Welt“ von Annett Gröschner ist so ein Titel. Die Welt beim Straßenbahnfahren entdecken! Was für eine schöne Idee!
Gefühlt habe ich meine halbe Schulzeit in der Straßenbahn bzw. mit dem Warten auf die Straßenbahn verbracht. Das Besondere an unserem Kaff war damals, dass die Straßenbahn in die nächste Stadt fuhr. Nur einmal in einer Stunde, aber immerhin.
Noch heute fahre ich gerne Straßenbahn. Auch U-Bahn, Bus und Zug, aber ich gebe zu, dass die Straßenbahn das beste aller Verkehrsmittel ist. Straßenbahnen und Busse sind jeweils ein kleiner Mikrokosmos des öffentlichen Raums und der Alltagskultur. Wer in der Straßenbahn sitzt, hat schon einmal ein Ziel. Weiß schon, wohin es geht.
Einen mehr oder weniger konkreten Plan gibt es auch noch dazu. Das macht es so verführerisch, sich einfach reinzusetzen und daraufhin hoffen, dass die Linie auch dem eigenen Leben einen Halt gibt.
Es klingelt. Achtung, sie fährt los.
Die Beiträge im Buch sind Reportagen und daher in sich abgeschlossen. Deshalb eignet es sich auch zum Blättern und zum Kreuz-und-Quer-Lesen. (Was übrigens eine unterschätze Form des Lesens ist.)
Annett Gröschners Kriterium an die Linie 4: Sie fährt über der Erde. Dadurch fallen die U-Bahnen raus, aber die Busse sind mit drin. In 34 Städten auf vier Kontinenten ist sie seit 2003 mit der Linie 4 gefahren, und herausgekommen sind mitreißende und lebendige Stadterkundungen.
Wir erfahren in den Stadtportraits zum Beispiel:
* In Aix-en-Provence ist Cézanne allgegenwärtig.
* Die älteste Straßenbahn in Afrika fährt durch Alexandria, und ihr erster Wagen ist den Frauen vorbehalten. Die anderen sind für beide Geschlechter. Einen Fahrplan gibt es nicht, sie kommt, wenn sie kommt. Sie ist lustig, bunt und laut, aber auch alt und schmutzig.
* Die Mitnahme von Fahrrädern in der Straßenbahn ist in Amsterdam verboten. Manchmal ist es schwierig, an das gültige Ticket zu kommen. Dazu muss eine erst das jeweilige Fahrscheinsystem verstehen. Und später darauf achten, sich wieder auszubuchen, damit das elektronische Ticket nicht endlos weiter Straßenbahn fährt.
* Eine ausgediente Jenaer Straßenbahn stellt eine Verbindung zu den beschämenden Morden des Nationalsozialistischen Untergrund her, indem sie Istanbul und Jena in einen Zusammenhang bringt.
* In Astana in Kasachstan kann eine sich am Bahnhof die Zeit am Schießstand mit nachgemachten Kalaschnikows vertreiben.
* Wo sich viele Menschen im Alltag begegnen, schlägt manchmal auch der Terror zu. Wie könnte es da Sicherheitsvorkehrungen geben? In Tel Aviv bleibt es nicht aus, über die Verletzlichkeit der Busse und Bahnen nachzudenken.
* Gezahlt wird bei der Schaffnerin oder am Hitec-Automaten, mit Münzen, Scheinen oder Karten.
* Wir hören traurige Treuhanderzählungen aus der Zeit nach der Wiedervereinigung und erleben die schlagfertigen Erziehungsmethoden der unterschiedlichen Kulturen.
Die Autorin wechselt die Eindrücke, Stimmung und Gedanken mit der Haltestellen. Oberflächliche Betrachtungen erhalten durch historische und zeitgenössige Zusammenhänge Tiefsinn. Zahlen, Daten, Fakten werden in den Fahrtwind geworfen und verschwinden wieder im Assoziationsfluss. Annett Gröschner sagt von sich, dass sie gerne recherchiert, und das merkt eine auf jeder Seite.
Wie in einer Kruschelschachtel tauchen plötzlich Fotos auf und je nach Stimmung lenken sie ab oder laden zum Nachdenken ein.
Die Reportagen ahmen den Rhythmus der Straßenbahn und der Busse nach. Sprachlich wird angefahren und wieder abgebremst. Es wird ausgeholt, um die Kurve rechtzeitig zu nehmen. Der Weg wird freibekommen, wenn es notwendig ist.
Annett Gröschner ist eine belesene und wissende Reisegefährtin, die ihre Kenntnisse unauffällig und sorgsam platziert. Unaufdringlich und trotzdem unterhaltsam.
Das Buch eignet sich auch hervorragend als Lesegeschenk für Globetrotterinnen oder Neugierige mit Bezug zur Alltagskultur.
Links:
Eine umfassende Besprechung mit einem kleinen Video mit Annett Gröschner findet sich beim CulturMag
Kleines Portrait zum Buch beim Deutschlandradio Kultur.
Vier Reportagen aus dem Buch auf der Autorinnenseite von Annett Gröschner