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Kairós: Die Gunst des Augenblicks ist ungleich

Von Lia Cigarini, Sandra Divina Laupper

In losem Abstand übersetzt Sandra Divina Laupper für uns wichtige Texte aus den ersten Jahren der Via Dogana, der Zeitschrift des Mailänder Frauenbuchladens. Hier ein Artikel von Lia Cigarini vom September 1991.

Hier geht es zum Beginn der Reihe von aus dem Italienischen übersetzten Texten mit den entsprechenden Links. Von Sandra Divina Lauper findet sich die Übersetzung von  Luisa Muraro,  Politisch ist… die Politik der Frauen (Juni 1991).

Vorbemerkung der Übersetzerin: Durch die Nr. 2 (September 1991) von Via Dogana zieht sich wie ein roter Faden die Überzeugung, dass es einen historisch bedingten Nachteil mit sich bringe, als Frau geboren zu sein, und dass es nicht gelte, diesen Nachteil einfach nur aufzuholen, sondern dass es möglich sei, ihn in einen Vorteil zu verwandeln und ihn als eine Gunst des Schicksals anzusehen. Darauf bezieht sich auch der Titel des von mir ausgesuchten und übersetzten Artikels von Lia Cigarini: „Kairós: l’opportunità è dispari”/„Kairós: Die Gunst des  Augenblicks ist ungleich”, der nicht zufällig der ganzen Zeitschrift den Namen verleiht. Denn „Kairós” heißt auf Griechisch „rechtes Maß”, „günstiger Augenblick oder Ort”, „Vorteil”.

Kairós: Die Gunst des Augenblicks ist ungleich

Ein wesentlicher Punkt des Bewusstseins, das viele Frauen teilen und das jene Bewegung ins Leben gerufen hat, die es seit mehr als zwanzig Jahren in Italien und in anderen Ländern gibt – ein  wesentlicher Punkt dieses Bewusstseins ist, dass wir nicht das Leben haben wollen, das die Männer haben, ein Leben, das die Gesellschaft, welche die Männer nach und nach aufgebaut haben, auch den Frauen aufzwingt.

Das hat für einen Teil von uns Frauen zur Folge, dass die Einforderung von Rechten völlig zweitrangig ist im Vergleich zur Suche nach einer Praxis, die dem Bewusstsein entspricht, das wir erworben haben, und die somit geeignet ist, die Wirklichkeit von unseren eigenen Erfahrungen ausgehend zu deuten. Für diesen Teil von uns besteht die Politik vorrangig darin, einen neuen Wirklichkeitssinn zu schaffen, das heißt, die Politik ist im Symbolischen kreativ. Für die anderen hat es hingegen zur Folge, dass die Einforderung von gleichen Rechten in Ordnung geht, sofern das nicht zu dem Zweck geschieht, jenes Leben zu führen, das die Männer führen. In der Tat, die Einforderung der Gleichheit zu dem Zweck, das Leben der Männer zu führen, tötet die Suche nach einem Symbolischen.

Wenn ich meine eigene Erfahrung hinterfrage, erkenne ich das Gefühl von Freiheit und Wohlbefinden, das mir der Übergang von einer Situation, in der ich unbedingt den Nachteil im Vergleich zu den Männern aufzuholen suchte, hin zu einer Situation, in welcher weibliche Autorität wirksam wird, gebracht hat. Außerdem weiß ich, dass diese Erfahrung auch viele andere Frauen  gemacht haben. Deshalb kann ich nicht akzeptieren, dass die Gesellschaft den Kampf der Frauen als einen Kampf um die Gleichheit mit den Männern registriert, und dass das heute im Namen der Differenz geschieht, ändert nicht viel. Das Gleichheitsdenken – das, geschichtlich gesehen, männlichen Ursprungs ist und das dann auf abstraktem Weg auf die Mann-Frau-Beziehung angewandt wurde – übergeht meine Geschichte und jene von sehr vielen anderen Frauen und neigt dazu, das symbolische Gewicht der Mutter zu löschen, zumindest auf der Ebene des Gemeinsinns in der Gesellschaft. Jenseits dieser Ebene des Gemeinsinns existiert hingegen ein Reichtum an original weiblichen Erfahrungen und an Wissen weiblichen Ursprungs, die noch allzusehr ignoriert werden.

Wie Gemma Beretta in einer Versammlung zum neuesten Gesetz für die Gleichheit zwischen Mann und Frau gesagt hat, gibt es nie einen Übergang zur oder einen Moment der Gleichheit: Entweder ist männliche Autorität wirksam oder eben weibliche Autorität. Es besteht stets ein Ungleichgewicht.

Ich bin der Überzeugung, dass das die zentrale Idee des neu erworbenen Bewusstseins der Frauen ist. Das Ungleichgewicht wird dadurch eingeleitet, dass es große Wünsche sind, die sich durchzusetzen suchen. Die Befreiung des Begehrens führt nämlich immer zu einem Ungleichgewicht. Die Rückkehr zu Ausgewogenheit und Gleichgewicht tritt ein, wenn man versucht, das Begehren und die großen Wünsche der Frauen in den so genannten „Maßnahmen zur Förderung der Frauen” einzufangen. Es sind Maßnahmen, die das von der Linken übernommene Muster wiederholen: Initiativen und Projekte zu verwirklichen, die von einigen wenigen entworfen worden sind, die aber für alle passen sollen.

Das Problem besteht darin, wie wir ein Begehren positiv benennen wollen, wo es negativ aufscheint als Wunsch, nicht so zu leben wie die Männer. Wir haben gesagt, dass der Weg dahin über die weibliche Vermittlung geht. Für mich bedeutet das, dass die erste und größte Chance darin besteht, mit anderen Frauen in einer privilegierten Beziehung zu stehen. Mir ist es so ergangen, dass ich nur dann ein autonomes Denken entwickeln konnte – ein autonomes Denken, das mein Leben geprägt und die Rahmenbedingungen der Politik verändert hat –, wenn ich mich mit anderen Frauen auseinandersetzen konnte, und genauso ist es vielen anderen Frauen gegangen, in der Politik genauso wie in anderen Bereichen. Da ist die weibliche Vermittlung evident.

Allerdings ist es notwendig, zu differenzieren und zu betonen, dass nicht die Vermittlung einer jeglichen Frau gutzuheißen ist. Und dass mir in der Beziehung zu einer Frau die Freiheit zusteht, die Regeln meinen Wünschen gemäß festzulegen beziehungsweise die zur Diskussion stehenden Regeln zu akzeptieren, sofern sie meinen Wünschen entsprechen, wobei ich mich selbstverständlich mit dem Willen der anderen Frau messe. Sonst kann es vorkommen – wie es schon vorgekommen ist – dass Frauen Vereinbarungen als abgemacht erklären, die keine Frau diskutiert noch unterschrieben hat. Oder dass sie – vermittels der Gesetzgebung – alle Frauen in eine Darstellungsweise des weiblichen Geschlechts miteinbeziehen, die von vielen als abwertend empfunden wird.

Ein Beispiel für all das ist der neueste Gesetzesvorschlag Turco-Gramaglia, der darauf abzielt, jene Parteien zu belohnen, die in ihren Reihen Frauen zur Wahl vorschlagen, um auf diese Weise die (sehr geringe) Anzahl an Frauen im Parlament zu erhöhen. Die beiden Volksvertreterinnen erklären unter anderem auch, dass sie über die Aussicht auf Wahlen mit einer einzigen Vorzugsstimme besorgt sind, da sie darin eine Neuerung sehen, die für die Kandidatur von Frauen von Nachteil ist (wie schon die Abgeordnete Laura Conti betont hatte, die sich deswegen auch ihrer Stimmabgabe bei jenem Referendum, das zur Einführung einer einzigen Vorzugsstimme geführt hat, enthalten hatte). (Anmerkung: In Italien konnte man bei Parlamentswahlen bis 1991 neben die angekreuzte Partei zwei Namen von Kandidat_innen schreiben, die so genannten Vorzugsstimmen. 1991 hat es ein Referendum gegeben, durch das dies auf eine einzige Vorzugsstimme reduziert wurde.)

Aber – anstatt sich Gedanken über die Tatsache zu machen, dass die Frauen seit 45 Jahren sehr wohl wählen gehen (wenn auch ein bisschen weniger als die Männer), aber nicht Frauen wählen, haben die beiden Volksvertreterinnen sich daran gemacht, eine „positive Aktion” für genau jene Kandidatinnen vorzuschlagen, die … von den Frauen selbst diskriminiert werden! Wäre es hingegen nicht naheliegend gewesen, anzunehmen, dass es unter der weiblichen Wählerschaft Einwände gibt gegen diese Demokratie, die auf der Logik der Vertretung basiert, oder auch – genauer genommen – Einwände gegen eine geschlechtsspezifische Vertretung?

Die Unangemessenheit dieses Vorschlags (der meiner Meinung nach das Gesetz zur Chancengleichheit unglaubwürdig macht) darf uns aber nicht darüber hinwegsehen lassen, wie stark das Gleichheitsdenken auf jeden Fall wirkt. Angesichts des Unbehagens und des Leids, das es bedeutet, in dieser Gesellschaft zu leben, in der noch ein männliches Symbolisches überwiegt, hat eine Person, die sich im Parlament als diejenige stark macht, die sich für Gerechtigkeit für Frauen einsetzt, die Möglichkeit, sich eine langwährende politische Existenz auch ohne das Mandat der betreffenden Frauen zu sichern.

Aber es wäre eine armselige Existenz. Politik zu betreiben, indem man beim Muster der Gleichheit verbleibt, lässt die großen Visionen aus dem Spiel und zwingt zur Mittelmäßigkeit, wodurch ein Nachteil entsteht, der größer ist als jene Nachteile, die man aus dem Weg räumen wollte. Denn einer Frau, die im Parlament oder auch in sonst irgendeinem politischen Gremium sitzen würde, nicht weil die Wählerinnen und Wähler es so wollen, sondern wegen der Quoten, fehlte die notwendige Glaubwürdigkeit und Autorität und sie wäre in politischer Hinsicht geschwächt.

Ganz im Gegenteil denke ich, dass eine gelungene Vermittlung – wenn sie die Vorstellung eines unvermeidlichen Ungleichgewichts zwischen Frau und Mann in sich aufnimmt – bedeutet, vorläufig darauf zu verzichten, die Umstände und Situationen in eine vorgegebene Ordnung zu bringen und gemäß einer Logik der Angleichung einzurichten, um stattdessen die Entstehung von weiblicher Autorität zu fördern.

Dieser Verzicht darauf, die Frauen den Männern gleichzustellen, verhindert nicht das Wohlbehagen, an dem du dich dank der Beziehungen mit anderen Frauen erfreuen kannst, und er verhindert auch nicht die Möglichkeit, zugleich Kraft und Maß für die Verwirklichung deiner Wünsche zu bekommen. Er stellt sich dafür der Versuchung entgegen, die Wünsche der anderen Frauen zu reglementieren und sie ihrer Freiheit zu berauben. Wenn die Vermittlung eng ist, lässt sie nur kleine Dinge durch. Umgekehrt lässt die Größe der Vermittlung zu, dass unsere Politik groß wird, genauso wie unser Leben.

Autorin: Lia Cigarini, Sandra Divina Laupper
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 11.12.2015
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