Forum für Philosophie und Politik
Von Claudia Conrady
„Ich bin lesbisch“, sage ich und schaue meinen Eltern fest in die Augen. Es dauert nur einen Bruchteil einer Sekunde und meine Mutter wendet ihren Blick gen Boden, dann an die Wand über meinem Kopf, um schließlich zu meinem Mund zurückzukehren, aus dem dieser unfassbare Satz kam. Mein Vater räuspert sich in eine klebrige Stille hinein. In den Augen meiner Mutter bilden sich Tränen, die Erwartungen fortspülen, Vorstellungen von Enkelkindern und Hochzeiten im weißen Kleid, aber auch betrauern, dass ich von jetzt an nicht mehr dieselbe für sie sein werde. Ich spüre, wie auch mir Tränen über die Wangen laufen. Mein Mut, diesen Schritt zu wagen, meine Eltern an diesem Aspekt meines Lebens teilhaben zu lassen, löst sich in Wasser und Salz auf.
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„Ich bin lesbisch“, sage ich und schaue den anderen Studierenden reihum in die Augen. Es dauert nur einen Bruchteil einer Sekunde und Lisa schaut unvermittelt zurück, lächelt sogar. Ich erwidere ihren Blick mit einem verlegenen Grinsen. Ich fühle mich sicher genug in der schwul-lesbischen Hochschulgruppe um weiter zu reden, über meine Gefühle für, mein Verlangen nach, meine Liebe zu Frauen. Es ist mir allerdings wichtig klarzustellen, dass ich Menschen liebe und nicht Geschlechter.
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„Ich bin lesbisch.“ Diesen Satz werde ich hier nie laut sagen können. Homosexualität ist in meinem Land Sünde, mit dem Tode zu bestrafen. Würde ich mich offen dazu bekennen, wäre mein Leben in höchster Gefahr. Und obwohl mir dieser Sprechakt des Coming-Outs verwehrt bleibt, begehre ich Frauen. Solange ich dem sprachlichen Tabu Folge leiste, sind meine Handlungen nichts anderes als Handlungen.
Drei Situationen, in denen der Satz „Ich bin lesbisch“ eine zentrale Rolle spielt. Drei Situationen, in denen „lesbisch“ auf unterschiedliche Art und Weise aufgefasst wird. Drei Situationen, in denen das Prädikat „sein“ rekonstruiert werden muss. Was „ist“ „lesbisch“? Was meint „ich bin lesbisch“?
Zunächst möchte ich auf eine Beobachtung zu sprechen kommen, die Andrea Günter in ihrem Buch Geist schwebt über Wasser: Postmoderne und Schöpfungstheologie im Bezug auf die sieben Ich-bin-Worte Jesu aus dem Johannesevangelium macht: „’Ich bin’ ist nicht ‘ich bin’: ‘ich’ und ‘bin’ können auf unterschiedlichste Weise aufeinander bezogen sein. Sie können unterschiedliche Bedeutung annehmen. Je nach Akzentuierung kann das ‘ich’ leicht oder schwer werden, kann das ‘bin’ das ‘ich’ oder aber das ‘ich’ das ‘bin’ übertönen“ (Günter, 2008). Günter überträgt diese Überlegung auf das Prädikat, das zum Bindeglied zwischen Subjekt und Attribut wird. Dadurch entsteht eine Relationalität zwischen den Begriffen „ich“, „bin“ und „lesbisch“, die jedem dieser drei Worte – im räumlichen Sinne gedacht – mindestens drei Freiheitsgrade gibt. Die Logik „X = Y“, die absolut definiert, wird damit aufgelöst. Vielmehr entsteht ein Denkkonstrukt, das sich an drei Angriffspunkten transformieren lässt. Weder „ich“ noch „bin“ noch „lesbisch“ kann in diesem Mobile als gegeben vorausgesetzt werden. Die Begriffe beziehen sich aufeinander und müssen in verschiedenen Konstellationen neu gedacht werden.
Die Wichtigkeit der Interpretationsleistung wird mir deutlich, wenn ich an das Zitat „A rose is a rose is a rose“ von Gertrude Stein denke. Zwar lässt sich diese Aussage als Plädoyer für den Satz der Identität verstehen, doch mir erscheint eine andere Sicht entscheidender. Die Tautologie entfaltet ihre Wirkung erst, wenn wir diesen Satz mit unterschiedlicher Betonung lesen, „a“, „rose“ und „is“ leicht oder schwer machen. Dann geschieht eine ähnliche Rekonstruktion dieser drei Begriffe. Ich kann jeden einzelnen nicht isoliert verstehen. Erst im Gesamtklang, im Verhältnis zu den anderen beiden eröffnet sich mir eine Deutungsebene. Worte, die nicht auf solche Weise interpretiert werden, bleiben leere Worte.
Gleichermaßen lässt sich der Satz „Ich bin was ich bin was ich bin“ verstehen. Die Leichtigkeit des Prädikats, ein Gedanke von Luisa Muraro, ermöglicht mir, einer Ontologisierung zu widerstehen und stattdessen Identität zu mobilisieren.
An dieser Stelle möchte ich zu den drei Geschichten vom Anfang meines Textes zurückkommen. Bereits in der ersten Situation lassen sich unterschiedliche Verständnisse von Metaphysik erkennen, unterschiedliche Akzentsetzungen bei der Interpretation des Satzes „Ich bin lesbisch“. Die Mutter denkt ontologisierend: „Meine Tochter = lesbisch“. Das schwerste Element dieses Gedankens ist das Prädikat. Es setzt das Subjekt nicht nur mit einem abstrakten Attribut gleich, das in diesem Fall für die Mutter negativ besetzt ist, es sorgt sogar dafür, dass „lesbisch“ den Teil „ich bin“ dominieren kann. „Lesbisch“ wird von der Mutter defizitär ausgelegt: keine Kinder, keine klassische Hochzeit, kein leichtes Leben. Für die Sprechende hingegen liegt der Schwerpunkt eher auf dem „Ich“. Der Sprechakt „Ich bin lesbisch“ ist für sie eine Emanzipation, aber gleichzeitig auch ein Ausstrecken der Hand nach den Eltern, ein Wunsch nach fortbestehender Relation zwischen dem ICH und den Menschen, die das ICH maßgeblich mitgeprägt haben.
Im zweiten Fallbeispiel akzentuiert die Sprechende das Wort „lesbisch“. Im Kontext einer schwul-lesbischen Gruppe, die einen sogenannten safe space, einen Schutzraum für alternative Sexualitäten darstellt, kann sie den Begriff öffnen, hinterfragen, rekonstruieren. Was kann und darf „lesbisch“ für mich bedeuten? Die Feststellung, dass das Begehren nach Menschen im Vordergrund steht und nicht eine ontologisierende, geschlechterstereotypengebundene Definition im Sinne von „Frau liebt Frau“, mobilisiert das Wort und stellt es in Relation zu Konzepten wie Begehren, Sexualität, Geschlecht.
Die dritte Geschichte führt mich zu der Problematik der Gewichtung der einzelnen Worte im Satz „Ich bin lesbisch“. Die Emanzipation alternativer Sexualitäten, die in vielen westlich geprägten Ländern in den letzten vierzig Jahren stattgefunden hat, basierte in großen Teilen auf dem Prinzip des Coming-Outs. Ein Sprechakt macht eine Identität möglich, die von nun an beansprucht werden kann. Im Zuge der Kritik der Queer Theorie, dass die Verknüpfung von Identitätspolitik und Aktivismus eine Hegemonie weißer schwuler Männer hervorgebracht hat, stellt sich die Frage, ob der Satz „Ich bin lesbisch“ immer als identitätsstiftender Sprechakt verstanden werden muss. Begehren lässt sich ohne Worte leben, kann in Kontexten, die andernfalls das Leben der Begehrenden bedrohen, sogar oft nur auf diese Weise gelebt werden. In anderen kulturellen Kontexten mögen alternative sexuelle Handlungen gar nicht auf diese enge Weise mit Identitätskonzepten verknüpft sein. Der marxistische Schluss „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“, der bedeuten würde, dass wer „lesbisch“ handle, auch von sich als „lesbisch“ denke, greift an dieser Stelle zu kurz.
Die Überlegung, dass ein Outing den Schlüssel zum Glück alternativ liebender Menschen darstelle, hinterfragt Carolin Emcke in ihrem Buch Wie wir begehren. Sie schildert die Geschichte von Ibrahim, einem schwulen Palestinenser, der aus Gaza nach Europa geflohen ist: „Ich nahm an, es müsse ihn beglücken zu sehen, wie selbstverständlich [Homosexualität] ist und wie leicht, ich dachte, es müsse ihn freuen, endlich sich ausdrücken zu können, ohne Angst […]. Doch Ibrahim war entsetzt. Es sei oberflächlich, indiskret, die offensive Lust, […] Ibrahim schauderte, das war gewiss Freiheit, er war froh, sich seiner Homosexualität nicht schämen zu müssen, aber musste er deswegen gleich schamlos sein? […] [D]as Glück war nahbar, aber gehört ihm nicht“ (Emcke, 2012). Obwohl Ibrahim nun geoutet ist, fühlt er sich fremd, als Araber unter Europäer, deren Freizügigkeit seinen kulturellen Vorstellungen widerspricht. Dieses Beispiel zeigt, welche unterschiedlichen Interpretationen entstehen, wenn das Prädikat „homosexuell“ Schwere bekommt. Emcke schildert in ihrem Buch, dass Ibrahim noch in Gaza zu ihr sagt: „Ich bin schwul“. In einer ontologisierenden Metaphysik bekommt diese Aussage eine kategorisierende Qualität. Die daraus resultierende Identitätslogik führt dazu, dass, wie im ersten Beispiel, das Wort „schwul“ die Aussage dominiert. Ibrahims Verständnis des Satzes scheint mir einen eher bekenntnishaften Charakter zu haben. Dies könnte sein Unwohlsein in der europäischen Schwulenszene erklären, da er sich nicht mit deren Angehörigen identifiziert. Sein „bin“ muss demnach anders gelesen werden, im Sinne einer mobilisierenden Metaphysik, die dem Prädikat „lesbisch“ Spielraum gibt.
Allen drei Geschichten ist gemeinsam, dass sie aufzeigen können, wie fruchtbar es sein kann, die einzelnen Worte einer Aussage wie „Ich bin lesbisch“ zueinander ins Verhältnis zu setzen, ihnen unterschiedliche Akzente zu geben und mit dem so aufgespannten Deutungsraum zu spielen. Die Mobilisierung des Sprechakts „Ich bin lesbisch“ nimmt die Starre aus diesem politisch aufgeladenen Satz und macht ihn flexibler, intensiver und vielseitiger. In Anlehnung an das Stein-Zitat hätte der Titel dieses Essays auch heißen können: Eine Lesbe ist eine Lesbe ist eine Lesbe. Meiner Meinung nach kommt in dieser Formulierung die identitätslogische Lesart, die den Sinn der Aussage verengt. „DIE Lesbe“ an und für sich bildet dann eine Schablone, die im Sinne einer ontologisierenden Metaphysik ungerechtere Verhältnisse schafft.
Um dieser totalitären Logik zu entgehen, bedarf es der Denkweise Gerechtigkeit, die fordert, ins Spezielle, ins ICH zu schauen und damit das Prädikat „lesbisch“ leicht macht. Nur eine mobilisierende Metaphysik erlaubt mir die drei Worte des Satzes „Ich bin lesbisch“ in Relation zu setzen und miteinander zu bewegen. Gerechtigkeit als Denkweise zu verstehen bedeutet an dieser Stelle, Prädikate leicht zu verstehen, wie die Bindungsenergien zwischen den Atomen eines Moleküls.