Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Schlafen, Anziehen, Essen besorgen, Putzen, Kinder versorgen. Das machen Menschen jeden Tag. Aber auch: ein Schwätzchen halten, Nachrichten hören, die eigene Meinung äußern, Spielen, Spaß haben. Das passiert überall auf der Welt, selbst unter den widrigsten Umständen.
Sobald man einmal aus der vertrauten Umgebung in eine andere katapultiert wird, wird schnell klar, wie ungeheuer komplex das Wissen ist, das Menschen brauchen, um diese ganz normalen Angelegenheiten des täglichen Lebens zu erledigen. Zuhause geht das alles ja quasi automatisch, aus Gewohnheit, ohne groß darüber nachzudenken: Dort ist die Bushaltestelle, hier der Supermarkt, so funktioniert die Spülmaschine. Woanders muss man sich all das erst aneignen.
Zum Beispiel habe ich in China neu lernen müssen, wie man mit dem Fahrrad links abbiegt: Man darf nicht, wie ich es aus Deutschland gewohnt bin, anhalten, Handzeichen geben und auf eine Lücke warten, denn diese Lücke kommt nie. Vielmehr muss man sich nach und nach, langsam fahrend, quasi parallel zu den entgegenkommenden Autos einfädeln und so zur gegenüberliegenden Straßenseite vorarbeiten. Das klingt für Menschen, die gewohnt sind, auf deutsche Weise Fahrrad zu fahren, beängstigend. In der Praxis ist es aber gar nicht so schwer, wenn man es selbst ausprobiert und übt. Alltagswissen erwirbt man nicht durch Lesen oder Theoretisieren, sondern durch Beobachtung, Nachahmung und Wiederholung. Und natürlich durch Fragen: Wie machst du das? Kannst du mir zeigen, wie das geht?
Den allergrößten Anteil unseres Lebens verbringen wir in alltäglichen Situationen. Trotzdem hat die westliche Philosophie dem Alltag kaum Beachtung geschenkt, ganz im Gegenteil: „alltäglich“ ist fast schon gleichbedeutend mit „von keinem besonderen Interesse“. Den Grund dafür legten die antiken griechischen Philosophen, die den Unterschied zwischen Wissenschaft (Episteme) und Meinung (Doxa) einführten und überwiegend der Ansicht waren, dass Alltagswissen nichts mit Wissenschaft zu tun habe, sondern in den Bereich der Meinungen falle. Platon zum Beispiel schreibt, dass die Wahrheit von „Doxa“ – also Alltagswissen – begrenzt und disputabel sei, weil sie nie von der praktischen Handlung getrennt werden könne. Er gab zwar zu, dass Alltagswissen einen praktischen Nutzen habe, aber eben einen sehr begrenzten, denn es sei nicht verallgemeinerbar, sondern immer nur für eine jeweilige Situation gültig.
Tatsächlich: Das meiste Alltagswissen – zum Beispiel, wie Linksabbiegen mit dem Fahrrad funktioniert – ist nicht verallgemeinerbar, da hat Platon Recht. Ich kann es in China nicht auf deutsche Weise tun, und in Deutschland nicht auf chinesische, ohne Kopf und Kragen zu riskieren. Aber daraus zu schließen, das Alltagswissen sei „bloße Meinung“ und damit, philosophisch gesehen, nicht von Belang, ist ein Fehler.
Die italienische Diotima-Philosophin Wanda Tommasi entwirft in ihrem Buch „Heute ist ein anderer Tag“ eine Philosophie des Alltags, die den Dualismus von „universaler Wissenschaft“ und „kontextbezogenem Erfahrungswissen“ bestreitet. Ihr Argument: Ständige Wiederholung und punktuelle Neuerfindung stehen nicht, wie das dualistische Denken behauptet, in einem Gegensatz zueinander, sondern in einem wechselweisen Zusammenhang.
Es sei falsch, zu glauben, dass der Alltag eine ständige Wiederholung desselben sei, schreibt Tommasi. Auch wenn es vom Elfenbeinturm aus betrachtet so scheinen mag: In Wahrheit ist nie „ein Tag wie der andere“. Sondern jeder Tag ist anders als der vorherige. In jedem Alltag geschieht ständig Neues und Unvorhersehbares.
Zwischen Wiederholung und Erfindung besteht eine Spannung. Einerseits sind wir auf Wiederholungen angewiesen, denn der Alltag ließe sich gar nicht bewältigen, wenn wir über jeden einzelnen Handgriff immer wieder neu nachdenken würden. Wiederholungen sind etwas Gutes. Aber gleichzeitig gibt es auch im Alltag immer wieder Modifikationen, manchmal nur ganz kleine, und damit Kreationen von Neuem: ein neues Kleid, ein neuer Schlenker beim Arbeitsweg, ein neues Rezept, ein Widerspruch, wo man bisher immer stillschweigend zugestimmt hat.
Genau in dieser Spannung von Wiederholung und Erneuerung entstehen nachhaltige Veränderungen. „Revolution is not a one time event“, wie Audre Lorde sagte. Veränderungen vollziehen sich nicht so, dass jemand an seinem Schreibtisch sitzt, unbehelligt von alltäglichen Notwendigkeiten (um die sich andere kümmern, Hausfrauen oder Sklaven zum Beispiel), und dann durch eine geniale Denkanstrengung oder theoretische Deduktion etwas „Neues“ erfindet. Neues entsteht immer aus einem Zusammenspiel von Alltagswissen und Theorie, von Tun und Denken, und fast immer sind daran mehr als einer beteiligt.
Die Frauenbewegung hat genau auf diese Weise das Geschlechterverhältnis in Europa nachhaltig umgekrempelt: nicht durch die eine große Revolte, sondern durch beständige Modifikationen des Bestehenden. Es gab natürlich auch theoretische Texte und originelle Ideen Einzelner, aber die wurden dann am Küchentisch und im Frauenzentrum diskutiert, woraus manchmal neue Texte und Ideen hervorgingen, viel öfter aber konkrete Veränderungen, die nach und nach im persönlichen Alltag Realität wurden: Frauen trennten sich aus unguten Beziehungen, führten neue Verhandlungen über die Aufteilung der Hausarbeit, wechselten ihren Kleidungsstil, suchten sich andere Berufe… alles kleine Modifikationen, die in der Summe eine enorme gesellschaftliche Veränderung bewirkt haben.
Doch wie genau funktioniert dieses alltägliche Zusammenspiel von Innovation und Wiederholung, von Meinung und Erkenntnis, von implizitem Wissen und expliziten Schlussfolgerungen?
Der entscheidende Punkt ist, dass einzelne Erlebnisse zu einer Erfahrung gebündelt werden, die ihnen Sinn gibt. Etwa – um beim Beispiel der Frauenbewegung zu bleiben – indem private Erlebnisse von häuslicher Gewalt oder Beobachtungen von männlichem Redeverhalten als Teil einer gesellschaftlichen Struktur interpretiert werden und nicht als persönliche Probleme Einzelner. Um von einer Ansammlung isolierter Erlebnisse zu einer „Erfahrung“ zu gelangen, ist es notwendig, diese Erlebnisse miteinander und mit der bereits vorhandenen Erfahrung zu verweben, den Faden zu finden, der sie miteinander verbindet, schreibt Wanda Tommasi. Genau das zu tun, ist revolutionäre Politik.
Heute haben wir mit dem Internet sogar ein Massenmedium zur Verfügung, das einen solchen Austausch nicht nur im privaten, sondern im öffentlichen oder halböffentlichen Raum erlaubt. Soziale Netzwerke und Blogs sind schließlich eine Fundgrube an Alltagserlebnissen, auch wenn die Food- und Katzenbilder von vielen noch (ganz in der Tradition der alten Männerphilosophen) als banal und unpolitisch belächelt werden. Tatsächlich ergibt sich ihr politischer Charakter auch nicht von selbst. Wenn die Stimuli der Erlebnisse allzu schnell und überbordend aufeinander folgen, bleibt nämlich keine Zeit, um sie zu Erfahrungen zu verarbeiten.
Diese Gefahr besteht aber nicht nur angesichts der Flut an Informationen, die das Internet bereitstellt, sondern sogar mehr noch durch die Hektik im vollgepackten Tagesablauf, die uns dauernd von hier nach dort treibt. Die Erlebnisse des Alltags rauschen so einfach an uns vorbei, und wir kommen gar nicht dazu, über das Erlebte auch „nachzudenken“, weil gleich schon wieder etwas Neues, etwas Anderes passiert.
Damit aus dem erlebten Alltag relevantes Wissen gewonnen werden kann, ist es notwendig, innezuhalten, einen Schritt zurück zu treten, das Geschehene zu interpretieren, ihm eine Bedeutung zu geben, es bewusst mit dem eigenen Leben zu verbinden. Zum Beispiel, indem man es aufschreibt oder es anderen erzählt und darüber spricht.
Besonders in Zeiten der Krise, wenn die alten Sinngebungen nicht mehr funktionieren und sich deshalb ein Gefühl von Sinn- und Ratlosigkeit breitmacht, sei diese Praxis wichtig, schreibt Tommasi. Politischer Aktivismus bedeutet, das, was man konkret im Alltag erlebt, unvoreingenommen und unabhängig von althergebrachten Deutungsmustern und Theorien zu durchdenken und ihm eine Bedeutung zu geben, die mehr Freiheit und Gerechtigkeit hervorbringen kann als die überlieferten Narrative – idealerweise gemeinsam mit anderen, die ähnliche Sehnsüchte und Wünsche für eine bessere Welt haben.
Das ist die Grundlage, die notwendig ist, damit Revolutionen geschehen können. Nicht als one-time-events, sondern genau da, wo wir ohnehin die meiste Zeit des Lebens verbringen: im Alltag.
Danke Antje. Gut auf den Punkt gebracht. Unsere Lyrikgruppe ist so ein Ort des Nachdenkens und des Buendels.
Und hier noch ein Link zum Buch: http://www.femminileplurale.net/?p=385