Forum für Philosophie und Politik
Von Elfriede Harth
Seit einigen Jahren feiert sich das Frankfurter Bahnhofsviertel in der Bahnhofviertelnacht. Es handelt sich um den Stadtteil in Frankfurt mit der größten Mobilität. Nirgendwo wechselt die Bevölkerung so stark wie hier. Es ist unter vielem anderem das Banken- und Rotlichtviertel, und nirgendwo ist der Prozentsatz migrantischer Bevölkerung so hoch.
Dieses Jahr habe ich das Angebot des Vereins Doña Carmen e.V. wahrgenommen, an einer Bordellführung für Frauen teilzunehmen. Doña Carmen e.V. setzt sich seit vielen Jahren ein „für die sozialen und politischen Rechte von Prostituierten“. Wir taten gut daran, meine zwei Begleiterinnen und ich, schon eine gute Stunde vor Einlass anzukommen. Es war ein sehr großer Andrang. Beim Einlass hatte sich eine Warteschlange von mindestens 250 Frauen gebildet. Es durften jedoch nur immer zwanzig Frauen an einer vierzigminütigen Führung teilnehmen. Wir hatten Glück und wurden für die zweite Führung eingeteilt, was uns Zeit ließ, vorher noch was essen zu gehen.
Unter der Führung einer der Vereinsfrauen ging es zu einem der zahlreichen „Laufhäuser“ gleich um die Ecke. Ein fünf- oder sechsstöckiger Altbau, der so umgebaut wurde, dass alle Obergeschosse in mehrere Einzelzimmer jeweils mit Bad und Kühlschrank eingeteilt sind, die alle in eine zentrale Diele münden. Wenn eine Prostituierte Arbeit sucht, steht sie in der Tür zu ihrem Zimmer, sodass die Freier, die durch das ganze Gebäude laufen, sie sehen und diejenige ansprechen, die ihnen zusagt. Willigt die betreffende Frau ein, betritt der Freier das Zimmer und die Tür wird geschlossen.
Im Erdgeschoß des Gebäudes befindet sich das Management des Bordells. Wir schauten uns das „Casino“ an: ein karger, fensterloser Raum mit einem größeren Tisch und einigen Bänken, wo die Frauen ankommen, mit dem Verwalter alle geschäftlichen Dinge besprechen und dann ihr Zimmer angewiesen bekommen. Die Frauen erhalten hier ein Frühstück und können auch mal eine Pause machen und sich aus einem dort aufgestellten Automat ein Getränk holen. Essen tun sie in ihrem Zimmer, falls sie es nicht vorziehen, in eines der umliegenden Restaurants zu gehen.
Die Zimmer werden jeweils für 24 Stunden vermietet. Im Preis von 140 Euro sind das Frühstück, zehn Kondome, Küchenkrepp und Toilettenpapier inklusive. Manche Frauen nutzen ihr Zimmer nur einen oder wenige Tage am Stück, andere wohnen dort für eine längere Zeit.
Der offizielle Grundtarif für eine „sexuelle Dienstleistung“ beträgt 25 Euro für 15 Minuten. Jede Frau ist jedoch „frei“, einen anderen Tarif zu verlangen und je nach gefragtem/gebotenem Service auszuhandeln. Das Management – in unserem Fall bestehend aus drei Männern, von denen nur einer deutscher Staatsbürger war, und auch er mit Migrationshintergrund – kontrolliert nach eigener Aussage nichts und macht auch keinerlei Vorschriften. Er kassiert nur die Miete und ist gegebenenfalls zur Stelle, wenn ein Freier „Probleme macht“ und die Frau Alarm schlägt. „Probleme“ scheint fast immer Zahlungsunwilligkeit zu bedeuten. Damit die Frau Alarm schlagen kann, gibt es bestimmte Knöpfe in jedem Zimmer, die ganz unauffällig bedient werden können, so dass der Freier überraschend damit konfrontiert wird, dass plötzlich ein männliches Schwergewicht in der Tür steht.
Um im Bordell ein Zimmer zu mieten, brauchen die Frauen nur einen Ausweis vorzulegen, der dann kopiert wird. Sie müssen mindestens 18 Jahre alt sein. Sind sie noch keine 21 Jahre alt, werden sie außerdem ausdrücklich darauf hingewiesen, dass das Bordell keine Schule für Prostitution ist. Aber das Management ist durchaus – im eigenen Interesse – bereit, Frauen, die neu in das Gewerbe einsteigen wollen, mit den Gepflogenheiten desselben vertraut zu machen (was sie verlangen können, wie sie Alarm schlagen können, aber auch – wie eine Toilette benutzt wird, etc…, denn „manchmal kommen Migrantinnen an, die zum ersten Mal ein Klo mit Wasserspülung sehen“.) 94 Prozent der Prostituierten Migrantinnen sind, deshalb sei es von Vorteil, wenn die Manager selbst mehrere einschlägige Sprachen sprechen. So kann die Kommunikation mit den Frauen effizienter funktionieren.
Wir konnten auch die so genannte „Kommandozentrale“ besichtigen, den Raum, in dem der diensthabende Manager sitzt und über Kameras sämtliche Treppen und Etagen überwachen kann. Hier läutet es, wenn eine der Frauen Alarm schlägt. Außerdem gibt hier einen den Zähler, der die Personen zählt, die das Gebäude betreten. Bei voller Auslastung – was längst nicht immer der Fall ist – können in dem Laufhaus, das wir besuchten, 34 Frauen gleichzeitig arbeiten. Täglich kämen rund 1000 Personen in das Gebäude, aber nicht alle nehmen eine Dienstleistung in Anspruch, manche laufen auch nur durch. Ab und zu betritt auch eine Lesbe das Haus und fragt nach einer Frau, die bereit ist, auch für Frauen sexuelle Dienstleistungen zu erbringen.
Zum Abschluss der Führung gingen wir in den ersten Stock, um ein Zimmer zu besichtigen, das zurzeit unbewohnt ist. Es sieht aus wie ein Hotelzimmer mit abgedimmten Licht und hat einen blickdichten Vorhang, sodass man nicht von außen herein schauen kann. Das sei Vorschrift. Mir fiel ein Barhocker auf, sowie die verschiedenen verspiegelten Flächen. Die Frauen können das gemietete Zimmer je nach Wunsch durch persönliche Gegenstände ergänzen. Putzen müssen sie es selbst. Nur bei Auszug wird es einer gründlichen Reinigung unterzogen.
Drogen und Alkohol sind eigentlich verboten. Marihuana ist leicht zu kontrollieren, wegen des Geruchs, Heroin und Kokain allerdings nicht. Wenn betrunkene Männer das Gebäude betreten, werden sie meistens hinausgeworfen, um Problemen vorzubeugen.
Manche erfahrene Frauen bauen sich mit der Zeit eine Stammkundschaft auf. Sie können dann auch mehr verdienen. Die Freier seien sehr unterschiedlich und hätten ganz verschiedene Ansprüche. Auch da komme es auf die Erfahrung an, auf das Alter, auf die finanziellen Mittel, aber auch auf den kulturellen Hintergrund. Angehörige bestimmter Bevölkerungsgruppen seien „korrekte, pflegeleichte Kunden“, andere dagegen eher nicht. Wenn der Freier ankommt, führt ihn die Frau zunächst ins Bad und wäscht ihn. Und eine erfahrene Frau soll das so geschickt machen, dass der Mann bereits beim Waschen seinen Höhepunkt erreicht und damit die gesuchte Dienstleistung erbracht ist.
Nach der Führung wurde uns noch Gelegenheit geboten, in den Räumen von Doña Carmen Fragen zu stellen und uns auszutauschen. Hier waren auch Männer zugelassen und es kamen auch zahlreiche.
Zunächst erfuhren wir, dass in Frankfurt täglich zwischen 600 und 900 Frauen als Prostituierte arbeiten. 94 Prozent davon sind Migrantinnen aus 34 Nationen. Knapp die Hälfte von ihnen kommt aus Rumänien und Bulgarien. Früher waren es überwiegend Lateinamerikanerinnen – daher der spanische Namen des Vereins. Sie erbringen insgesamt weit über drei Millionen sexueller Dienstleistungen im Jahr.
Laut Doña Carmen kommen die meisten Frauen freiwillig nach Deutschland, mit dem ausdrücklichen Ziel, in der Prostitution zu arbeiten. Sie würden von anderen Frauen, die bereits als Prostituierte arbeiten, dazu ermuntert. Mitglieder von Doña Carmen haben dazu einschlägige Studien durchgeführt, und viele Prostituierte interviewt. Die Frauen sähen in der Sexarbeit eine Möglichkeit, ordentlich Geld zu verdienen und so sich oder ihren Familien zu helfen. Auch deutsche Frauen entschließen sich zur Prostitution, manchmal erst, wenn sie mit vierzig Jahren nach einer Trennung mittellos auf der Straße stehen und keinen Job finden, aber dennoch ihren Lebensstandard halten wollen. Dass es im Rotlichtviertel so wenige deutsche Prostituierte gibt, liege unter anderem daran, dass heute das Internet neue Kontaktmöglichkeiten bietet, die wiederum den Migrantinnen nicht so offen stehen wie Deutschen, allein schon aus sprachlichen Gründen.
Da die große Koalition zurzeit das Prostitutionsgesetz von 2002 überholen will, hat Doña Carmen einen eigenen Gesetzesentwurf vorgelegt. Ziel des Entwurfs ist, dass Frauen, die als Prostituierte arbeiten wollen, als mündige Bürgerinnen behandelt werden, die weder besonderen Schutz noch besondere Reglementierungen brauchen. Daher soll die Prostitution ein Beruf werden wie (fast) jeder andere. Jegliche Sonderregelung aufgrund von „Prostitution“ soll gestrichen werden, sowie auch die „Sittenwidrigkeit“. Sperrzonen sollen aufgehoben werden.
Zwangsprostitution? – Gibt es laut Doña Carmen praktisch nicht. Was aber oft vorkomme, das sei sexuelle Gewalt gegen Frauen. Diese Gewalt sei kriminell und müsse geahndet werden. Denn keine Frau kann gezwungen werden, sich zu prostituieren. Wird eine Frau gezwungen, eine ungewollte sexuelle Handlung zu vollziehen, handelt es sich um den Strafbestand der Vergewaltigung und der ist im Strafgesetzbuch bereits kodifiziert – nicht nur im Umfeld von Prostitution, sondern auch für den Fall, dass es innerhalb der Ehe stattfindet.
Kinderprostitution? – Laut Doña Carmen ist das schlicht Pädophilie und sexuelle Gewalt gegen Kinder, also bereits jetzt ein Straftatsbestand, der nichts mit Prostitution zu tun hat. Prostitution sei ausschließlich konsensueller Sex zwischen zwei Erwachsenen, der gegen Geld erbracht wird.
Das Phänomen des „Loverboys“? Also dass ein Mann sich die emotionale Bedürftigkeit junger Mädchen oder Frauen zunutze macht, um sie in ein romantisches Abhängigkeitsverhältnis zu versetzen, das ihm erlaubt, sie sexuell auszubeuten, also sie dazu zu bringen, dass sie sich prostituieren, aber nicht zu ihrem eigenen finanziellen Vorteil, sondern um ihm Geld zu verschaffen? – Dieses Narrativ sei eine Erfindung der Medien, um die Prostitution in ein schlechtes Licht zu stellen, zu kriminalisieren.
Warum wird Prostitution in unserer Gesellschaft in die Schmuddelecke verbannt und sogar kriminalisiert? Doña Carmen sieht die Ursache in der Tatsache, dass unsere (patriarchale) Kultur Sexualität mit Schmutz identifiziert und durch die Kontrolle der weiblichen Sexualität die Menschen (auch zum Teil die Männer) zu disziplinieren sucht.
Die herrschende sexuelle Norm verbindet Sexualität mit Liebe (insbesondere für Frauen), während Prostitution zwischen Sexualität und Liebe trennt. In der Prostitution geht es darum, Sexualität in einer Beziehung zu haben, in der keinerlei Bindung oder gegenseitige Verpflichtung besteht oder entstehen soll. Es geht um Sexualität, die reproduktionsfrei gelebt werden will. Männer seien beim Ausleben solcher Wünsche viel freier als Frauen. Ihnen wird zugestanden, ihre Sexualität außerhalb einer Liebesbeziehung zu leben. Für Frauen sei das jedoch ein Tabu.
Mit der zunehmenden Krise der Reproduktion im Kapitalismus, so die Analyse von Doña Carmen, ist die Diskriminierung, Marginalisierung und negative Besetzung von Prostitution ein weiteres Mittel, um insbesondere Frauen zu disziplinieren und durch die herrschende sexuelle Norm in Ehe und Familie (in der traditionellen Form) gefangen zu halten. Auf diese Weise sollen sie bereit sein, weiterhin kostenlose Care-Arbeit zu leisten, damit der Staat die Sozialleistungen kürzen kann.
Prostitution zu verteufeln oder unzulässig zu reglementieren geschehe aber auch aus Fremdenfeindlichkeit heraus. Migrantische Frauen sollten daran gehindert werden, nach Deutschland zu kommen. Die Prostitution als Beruf und eine Möglichkeit, sich ihre Existenz hier in Deutschland zu sichern, solle ihnen möglichst versperrt und erschwert werden.
Die Bordellführung und die anschließende Diskussion machten mich sehr nachdenklich. Ich will nur einige der Fragen auflisten, die ich mir stelle:
Da ist einmal die Frage der Definition von Begriffen: Was verstehe ich unter einer durch einen Begriff benannten Sache oder Sachverhalt, was wird gemeinhin darunter verstanden? Was ist für mich „Prostitution“? Was klingt für mich alles in diesem Wort mit?
Dann die Frage der Definitionsmacht: Wer bestimmt, was unter einem Begriff („Prostitution/Zwangsprostitution“) zu verstehen ist? Sind das die Betroffenen selbst? Die Freier? Die „restliche“ Gesellschaft?
Schließlich die Macht des Begriffes an sich: Wie wird die Wirklichkeit durch einen Begriff und ein Gefüge von Begriffen in meinem Bewusstsein „geschaffen“? Was klingt so alles bei einem Begriff noch mit, also im Fall von „Prostitution“ zum Beispiel Sex als Ware, Frauenkörper und Markt, männliches Begehren, und so weiter?
Selbst, wenn ich ganz konkret etwas an meinem eigenen Fleisch und Blut erlebe, wird es für mich in meinem Bewusstsein erst wirklich, wenn ich es deute und ihm einen Sinn gebe. Wenn ich es benennen kann und diesen Begriff und das damit Benannte/Erfahrene in einen persönlichen Zusammenhang einordne. Wenn ich es einfüge wie ein neues Stück des Puzzles in ein Netz von Vorstellungen und Ideen, die mein Denken ausmachen. Und das ist erst recht so, wenn ich Sachverhalte nicht am eigenen Leib erfahre, sondern „nur“ durch darüber Erzählen vermittelt bekomme. Wie sehe ich meine eigene Sexualität, wenn ich mich mit „Prostitution“ auseinandersetze? Wirkt diese Auseinandersetzung damit nicht wie eine neue Brille?
Sprache ist wichtig. Worte und Bezeichnungen sind wichtig. Manchmal verändern sie ihre ursprüngliche Bedeutung so stark oder nutzen sich derart ab, dass sie inadäquat werden.
Es geht bei Prostitution, bei käuflichem Sex, um Beziehungen. Welche Beziehungen zwischen welchen Menschen setzt die Prostitution voraus und wie werden durch die Prostitution Beziehungen zwischen Menschen gestaltet? – Laut Doña Carmen soll Prostitution Beziehungen ermöglichen, die keine gegenseitige Verpflichtung und/oder Bindung schaffen. Es soll lediglich eine Dienstleistung erbracht und konsumiert werden, „so wie man ja auch in ein Restaurant geht und dort isst“.
Sind es gleichberechtigte Beziehungen? Das heißt, ist die Machverteilung zwischen den Beteiligten gerecht und ausgewogen? Es geht um Tausch (Geld gegen Sex). Wie wird der Wert der getauschten Dinge bestimmt? Von wem? Wie ist die Verhandlungsmacht der Prostituierten dem Freier gegenüber? Wie findet diese Verhandlung überhaupt statt, wenn sich zwei Menschen gegenüber stehen, die gar nicht dieselbe Sprache sprechen? Vielleicht gibt es „vorsprachliche“ Codes? Warum stelle ich mir all diese Fragen im Zusammenhang mit Prostitution, während ich sie mir nur sehr selten stelle, wenn ich in ein Restaurant essen gehe?
Wie würde die Existenz eines Bedingungslosen Grundeinkommens die Verhandlungsmacht einer Prostituierten beeinflussen?
Leider kamen wir nicht mehr dazu, das „Geschäftsmodell Prostitution“ zu betrachten. Mich hätte sehr interessiert, zu erfahren, wie sich die Prostitution auf das Bruttosozialprodukt in Deutschland auswirkt. Es ist ein legales Gewerbe, das – zumindest in der Variante „Laufhäuser“ – laut Angaben von Doña Carmen sich wirtschaftlich mit dem Taxigewerbe vergleichen lässt. Wie sind die durchschnittlichen Verdienstmöglichkeiten einer Prostituierten? Wie sieht es mit Rentenversicherung, Altersvorsorge, Arbeitslosengeld, etc… aus? Wie hoch ist der Verdienst der Bordellbesitzer? Wieviel Steuern nimmt der Staat aus dieser Dienstleistungsbranche ein? Gibt es Schätzungen über den Sektor der Schwarzarbeit in der Prostitution?
Denn man darf nicht die „illegalen“ Prostituierten vergessen, die – zum Beispiel minderjährig oder drogenabhängig – auf dem Straßenstrich Sex gegen Geld anbieten. Die nicht über den Komfort eines Einzelzimmers mit Bad und Bodyguard in einem Bordell verfügen, sondern womöglich schutzlos der Willkür irgendwelcher Freier in einem fremden Auto oder sonstwo ausgeliefert sind. Es wird eindeutig Sex gegen Geld getauscht. Aber kann hier immer noch von „konsensuellem Sex“ gesprochen werden? Und wenn nicht, wie soll dann dieses Phänomen genannt werden?
Hat die Legalisierung und Banalisierung der Prostitution irgendeine messbare Auswirkung auf die Gewalt gegen Frauen allgemein? Mit anderen Worten: Wenn „Sex ohne Liebe“, also unverbindlicher Sex, stärkere Verbreitung in der Gesellschaft findet, lässt sich dann eine Abnahme oder Zunahme der Gewalt gegen Frauen feststellen, oder besteht keinerlei Zusammenhang? Und, Zwischenfrage: Gehört die Bezahlung unbedingt dazu, um Sex „unverbindlich“ zu machen, sozusagen als „Barriere“?
Bei Prostitution geht es um Sex. Die Nachfrage kommt von den Männern, bis auf die wenigen Fälle, in denen eine Lesbe nach dieser Dienstleistung sucht. Das Angebot kommt von Frauen oder homosexuellen Männern. Auch einige Transfrauen arbeiten als Prostituierte und bieten ihre sexuelle Dienstleistung Männern an. Warum ist das so? Liegt die Wurzel wirklich an der Sozialisation der Geschlechter, die – nach Christine Delphy – Frauen von Geburt an darauf abrichtet, bereit zu sein, Männern bestimmte Dienstleistungen zu erbringen, sei es „aus Liebe“ (und kostenlos) oder gegen Geld?
Die italo-amerikanische Feministin Silvia Federici hat versucht, 1975 in einem Aufsatz mit dem Titel „On Sexuality as Work“ die Frage zu beantworten, was Sex als Reproduktions-Arbeit im sozialen und psychologischen, nicht im biologischen Sinn, für Frauen bedeutet. Es geht ihr um Sex, der nicht gegen Geld getauscht wird, sondern innerhalb von Beziehungen gelebt wird. In der heterosexuellen Beziehung, so sagt sie „sind es immer die Frauen, die an dem schizophrenen Charakter der sexuellen Beziehungen leiden, nicht nur, weil sie am Ende des Tages müde ankommen von der größeren Last an Arbeit und Sorgen, die sie zu bewältigen haben, sondern auch, weil Sex für uns Arbeit ist, eine Pflicht. Die Pflicht, zu gefallen, ist derart tief in unsere Sexualität eingeschrieben, dass wir es gelernt haben, Lust zu empfinden, weil wir Lust verursachen, weil wir einen Mann erregen“. Erschöpft sich darin das weibliche Begehren?
Hallo Ute, ja, das ist genau das was ich meinte, jetzt weiß ich irgendwie, dass es genau das richtige war, das so ehrlich zu schreiben. Vielleicht weil es anderen auch so ging, dass das Thema sehr emotional und subjektiv geprägt ist und es hilft, wenn ehrlich geredet wird.
Weil, im Grunde glaube ich, wollten hier alle das gleiche, es kam mir so vor. Es haben ja im Grunde alle versucht zu diskutieren, wie die Gesellschaft aufgebaut sein müsste, damit alle geschützt sind und aber frei und ernst genommen werden. Es ist nur eben so, dass das Thema,natürlich, auch viele verletzt, aber das könnte genau die Chance sein mal Dinge zu sagen, die sonst nicht so gesagt werden, auch ehrliche Worte. Hab ich ja gemerkt:).
Gemeinsam nach Wegen für ein gewaltfreies Leben zu suchen, das finde ich gut zusammengefasst!
Genau, das ist es!
Liebe Elfriede Harth,
erstmal vielen Dank für diesen Bericht. Ich stelle es mir nicht ganz leicht vor, ihn zu verfassen. Dass “Dona Carmen” sagt, es gebe praktisch keine Zwangsprostitution, finde ich ungeheuerlich. Ich hoffe, Lea Ackermann von SOLWODI liest diesen PBordell-Bericht auch. Sie wird anderes zu erzählen haben.
Zum Thema Bruttosozialprodukt, bzw. BIP/Bruttoinlandprodukt kann ich etwas beisteuern. Ende Mai war ich in Italien, Südtirol. Dort las ich in der Zeitung, dass die Prostitution, seit sie als “normaler Beruf” gelte, auch – genauso wie Drogenhandel und Schmuggel – ins BIP einfließe. Sie mehrt also angeblich den Wohlstand eines Landes, genauso wie jeder Unfall, AKW-GAU … EU-weite Praxis. Sex-Dienstleistungen erhöhen also das BIP. Und da u.a. die Verschuldungsquote der Länder prozentual ans BIP gebunden ist, können die Länder durch die Prostituion und den Drogenhandel “legal” mehr Schulden machen. (Dass sie das sowieso mittlerweile alle machen, nicht nur Griechenland, ist eine andere Sache …)
Ich schreibe das, weil ich annehme, dass dies möglicherweise der eigentliche Grund ist, warum EU-Staaten Prostitution als “normalen Beruf” einstufen. Bei uns hat das m.W. die damalige rot-grüne Regierung schon gemacht. Welch ein Fortschritt!
Übrigens: Die häusliche Erziehung und Pflege samt Hausarbeit, also die Familienarbeit, ist bis heute nicht im BIP, trägt also angeblich nicht zur Wohlstandsmehrung bei.
Beste Grüße
Gesa Ebert
PS: Meine Recherchen im Internet gerade sagen mir, dass wohl Griechenland mit der Einbeziehung der sogenannten Schattenwirtschaft ins BIP angefangen hat …
@Antje Schrupp.
Bezüglich der Frage, ob Bulgarinnen und Rumäninnen Anspruch auf Hartz IV haben, habe ich folgendes durch Manuela Schon, tätig bei der Hartz-IV-Beratung, rausgefunden. Ich darf das mit ihrer freundlichen Genehmigung hier zitieren:
“Es ist etwas kompliziert: Nach EU-Recht haben sie den Anspruch mit hoher Wahrscheinlichkeit. Da gibt es sogar SGB-Kommentierungen zu. Die Sache ist jedoch seit ewigen Zeiten beim EUGH anhängig weil die Bundesregierung einen (mit hoher Wahrscheinlichkeit) europarechtswidrigen Leistungsausschluss verhängt hat im SGB II. Die Sozialgerichte entscheiden überwiegend zugunsten der Betroffenen mit der Argumentation, dass der Leistungsausschluss wahrscheinlich vom EUGH gekippt werden wird. Ist aber in der Tat Bundesland abhängig und wenn sie niemand Fachkundigen zur Seite haben kaum möglich. – Solidarität würde jedoch das bedeuten was wir zum Beispiel in der Beratung machen (und meines Wissens Solwodi und Karo bspw. auch): Nämlich die Betroffenen bei diesem Klageweg unterstützen. Mein erstes Verfahren dauerte noch fast ein halbes Jahr, inzwischen hat das SG Wiesbaden und das LSG Hessen eine Position und es dauert weniger als einen Monat bis die Betroffenen ihre vorläufige Leistungsbewilligung durchhaben. Ich hatte Fälle in Rheinland-Pfalz, die verliefen leider anders. Naja wir haben die Leute dann nach Wiesbaden geholt. 30 km weiter und es funzt. Also es ist nicht einfach aber es geht. – Beratungsstellen warten verzweifelt auf die EUGH-Entscheidung, aber alle Fälle die bisher dort gelandet sind waren Individual- und keine Grundsatzentscheidungen. Es wurden andere Gründe gefunden um sich, sagen wir mal, vor der Grundsatzfrage zu drücken. Zum Beispiel war die eine Klägerin schwanger von nem Italiener mit Daueraufenthaltserlaubnis. Tja und dann wurde eben argumentiert, dass die Frau ja nach der Geburt eh über die Familienzusammenführung einen Anspruch hätte…. Sie lassen sich halt auch ewig Zeit da. Aber das Plädoyer des Generalbundesanwalts wurde schon gehalten und es sieht nicht schlecht aus. Ansonsten gäbe es auch noch andere Möglichkeiten Betroffenen zu helfen. Nämlich gucken, dass sie einen ArbeitnehmerInnenstatus erhalten. Die Hürden dafür sind recht niedrig. Es reicht schon ein bezahltes Praktikum mit 20 Stunden im Monat und 200 Euro Lohn. Nach einem Monat hat mensch den ArbeitnehmerInnenstatus für 6 Monate. Viel Zeit um bspw. einen Minijob oder ein neues Praktikum zu finden. Nach einem Jahr Beschäftigung zu den genannten Bedingungen (nicht selbstständig, mind. 20 Stunden/Monat, mindestens 200 Euro Gehalt) verliert mensch den ArbeitnehmerInnenstatus nicht mehr sondern sofern man das Land nicht länger verlässt bleibt der für immer erhalten. Selbst EIn-Euro-Jobs zählen (auch wenns nicht ganz 200 Euro sind an Aufwandsentschädigung). “Meine” Leute erhalten ja jetzt schon fast alle seit mehr als 2 Jahren vorläufig durch das Gericht bewilligtes SGB, normal gucke ich das Leute nicht in Ein-Euro-Jobs gesteckt werden. Aber nun ja bei denen ist dadurch jetzt (9 Monate Ein-Euro-Job plus freiwillige Verlängerung) der ArbeitnehmerInnenstatus gebongt. Ich bin mir ziemlich sicher dem Jobcenter ist das nicht bewusst, weil die immer noch den vorläufig Vermerk da drauf machen. Ich werds ihnen auch nicht sagen.”
Demnach trifft weder deine noch meine Annahme komplett zu, sondern es gibt eine unklare Rechtslage, deren Interpretation abhängig ist vom guten Willen der Sozialgerichte und/oder Unterstützung von sachkundigen HelferInnen.
zur Prostitution:
Ich wiederhole: das Nordische Modell kriminalisiert die Frauen *nicht*. Freier und Zuhälter sollen kriminalisiert werden. Und bei völliger Entkriminalisierung, wie du sie befürwortest, sinken die Chancen auf Ausstiegsprogramme ganz gewaltig. Auch das ist durch Studien inzwischen nachgewiesen. Und wie Gesa Ebert ja erwähnt, ist Prostitution für den Staat profitträchtiger als Ausstiegsprogramme. Es ist naiv und/oder fahrlässig, die Augen davor zu verschließen, dass ganz handfeste finanzielle Interessen den Umgang mit einem der profitträchtigsten (Schatten-)Wirtschaftszweige bestimmen.
Dass du in deinem letzten Kommentar klar die Verantwortung für Minderjährige auf Seiten der Gesellschaft siehst, ist ja schonmal was. Zuvor hattest du ja Rachel Moran als 15jähriges Mädchen als Beispiel dafür genommen, dass manchmal eben nur Prostitution als Möglichkeit übrig bleibt. Und in deiner Argumentation bleibt ein Widerspruch: du sprichst bei Minderjährigen von existentiellen Notsituationen und bei Erwachsenen plötzlich von “Optionen”, die “durchgezählt” werden. Eine existentielle Notsituation bleibt eine existentielle Notsituation, und da hat die Gesellschaft die Pflicht zu helfen, egal wie alt die betreffende Mensch ist. Es gibt ein Recht auf Leben. Prostitution als “Option” zu handhaben, wirft Frauen der Sexindustrie in den Rachen, die keine anderen Optionen mehr haben.
Was sagt weibliche Prostitution über das Geschlechterverhältnis aus? Was ist, wenn weibliche Körper zum männlichen Lustgewinn gekauft werden? Blöde Fragen: Wir sind doch alle so liberal!
@Sabrina, kann ich gut nachvollziehen was du schreibst, und ich verstehe dich so, dass die eigenen (Gewalt)Erfahrungen nicht der Bewertungsmaßstab sein können für Erfahrungen die andere machen, sondern dass es darum gehen sollte gemeinsam nach Wegen für ein gewaltfreies Leben zu suchen.
Wünsche dir noch einen schönen Sonntag. :-)