Forum für Philosophie und Politik
Von Andrea Günter
Im zweiten Teil ihres Artikels zu Gerechtigkeit zeigt Andrea Günter auf, dass, um Gerechtigkeit zu denken, es nötig ist, Stereotype zu dekonstruieren und relational zu denken.
Es war auch schon Platon, der darauf bestand, Gerechtigkeit als eine spezifische Denktätigkeit zu verstehen, die sich prinzipiell von anderen unterscheidet. Dabei ist es wohl kein Zufall, dass er dazu paradigmatisch die Kritik an der Behauptung einer Geschlechternatur wählt. Im Gegenteil, er selbst markiert es als etwas Unglaubliches, dass seine Überlegungen über Gerechtigkeit ihn zu den Aussagen führen, Frauen können genauso Sport treiben, nämlich nackt, außerdem genauso einen Staat führen wie Männer. Nachdem er auf diese Aussagen gekommen ist, wollen seine irritierten, ihm grundsätzlich wohlgesonnenen Freunde genauer hören, wie er seine Position erklärt. Es ist diese Nachfrage, die Platon anfangen lässt, erkenntnistheoretische Zusammenhänge auszuführen. Zuvor hatte er schon angeführt, dass Verweise auf die Natur von Frauen und Männern willkürlich sind, ihre gesellschaftlichen Rollen entlang ihrer individuellen Begabungen zu bestimmen sind und hierfür darauf geachtet werden muss, welche Fähigkeiten sie ausbilden müssen, um die Zwecke (also nicht die Natur), denen sie sich widmen wollen und können, verfolgen zu können.
Neben der Kritik an Stereotypisierungen hat Platon für das Denken des Gerechten überdies herausgestellt, dass hierfür das Beziehungsgefüge richtig gedacht werden muss. So ist es unzureichend, von einem Individuum ausgehend Gerechtes bestimmen zu wollen, denn dies führt zur Zentrierung auf dessen Interessen, was Unrecht erzeugt. Stattdessen beschreibt Platon die Stadt als die soziale Figur, die zugleich dynamisch und stabil ist, was menschliche Pluralität in ihren Erscheinungsformen (individuelle und kulturelle Differenzen) und Notwendigkeiten (Formen der Arbeitsteilung) betrifft. Ferner zeigt er auf, dass jedes Individuum das Begehren hat, gut regiert zu werden.
Platon weiß, dass er seine Freunde mit seinen Ausführungen nicht überzeugen kann. Doch statt weiter inhaltlich zu argumentieren thematisiert er, was es überhaupt heißt, eine neue Idee von gerechteren Geschlechterverhältnissen zu haben. So führt er an, dass man selbst geblendet ist, wenn man eine neue Idee entwickelt hat. Außerdem ist diese für andere oft unverständlich. In dieser Spannung bewegt sich das Gespräch über etwas Neues.
In der Folge verdeutlicht Platon, dass eine neue Idee eine Art Mitte bildet. Dies führt dazu, sich von dieser aus in alle Richtungen zu bewegen: in vorhergehende Sichtweisen und ihre Denkweisen ebenso wie in neue Sicht- und Denkweisen. Von diesen Spannungspolen her wird die Gegenwart betrachtet. Als Kompass dient die Ausrichtung auf Gerechtigkeit.
Etwas neu sehen, ein Verhältnis gerechter gestalten zu wollen und Ideen dafür zu entwickeln, kann dazu führen, es als eine Mitte zu verstehen, von der man in alle Richtungen denkt, hin auf anderes, von anderem hin auf diese Mitte zurück. Diese Weise zu denken nennen wir Denken im Mobile. Platon nun führt genau aus, was es dazu braucht. Von der Algebra über die Astronomie und Harmonienlehre erörtert er ausführlich unterschiedliche bekannte Weisen, Relationen zu bilden und sich mit ihrer Hilfe hin, her, zurück, hin und her zu bewegen. Dabei betont er immer wieder, dass es nicht darum geht, diese bekannten Verfahren nun einfach anzuwenden. Bekannte Verfahren zu bedenken soll hingegen dabei helfen, den Sinn dafür zu schärfen, was Relationen zu bilden alles beinhalten kann. Beispielsweise hält er die Kunst der Algebra nicht deshalb für wichtig, um die Zahlen zu kennen und mit ihnen zu rechnen, sondern deshalb, um zu lernen, was es überhaupt heißt, eine Einheit zu bilden, etwas als 1,2,3,4 zu deklarieren, usw.
Ein Verhältnis neu gestalten, dabei beachten, wie es sich auf ein komplex aufgestelltes Beziehungsgefüge auswirkt und den Sinn für die Kunst, Relationen zu denken, wach zu halten: Gerechtigkeit verkörpert eine Art und Weise, relational zu denken. Damit zeigt sie Gemeinsamkeiten mit Denkweisen an, die die postmoderne Philosophie stark macht. Statt Phänomene isoliert, vereindeutigt, absolut und universell aufzustellen, rücken mit der Suche nach Gerechtigkeit ihre Pluralität, Kontextualität, Räumlichkeit, Zeitlichkeit ins Zentrum.
Demgegenüber wird formuliert, dass ein relationales Denken keine Verbindlichkeit, Verlässlichkeit, Orientierung mehr gibt, dass es relativiert. Glaubt man, für Orientierung seien eindeutige, absolute und universelle Bestimmungen nötig, scheint die Angst vor Relationalität berechtigt. Allerdings darf man nicht übersehen, dass Pluralität, Kontextualität, Räumlichkeit, Zeitlichkeit ebenfalls geradewegs Zusammenhänge thematisieren. Außerdem stellt die Gerechtigkeit selbst diejenige orientierende Größe dar, die Beziehungen zwischen Menschen stiften soll. Allerdings sind im Falle der Gerechtigkeit als relationalem Denkgefüge diese Beziehungen nicht schon anderweitig normiert, sondern diese müssen wie beschrieben immer wieder entlang der Bedeutungen für die einzelnen und die verschiedenen menschlichen Relationen durchgearbeitet werden. Gerechtigkeit entsteht aus einer Initiative, oftmals zunächst hervorgerufen von einer einzigen Stimme, die sagt „das ist ungerecht“.
Gerechtigkeit verlangt also eine aufgeklärte Sichtweise auf Relationalität. Nimmt man Relationalität als eine Grundform des Denkens und als eigene Kunst des Kategorisierens und Zusammenhänge Bildens erst einmal genauer in den Blick, fällt auf, wie sehr Menschen relational denken und handeln, oft ohne dass ihnen dies bewusst ist. Claudia Conrady wird dies an den Beispielen „Gesetz“ und „Familie“, Andrea Günter an Beispiel „Bindungstheorien“ entwickeln. An dieser Stelle sei zunächst Grundsätzliches über relationales Denken festgehalten.
Statt also falschen Ängsten aufzusitzen, ist es wichtig zu verstehen, was relationales Denken überhaupt beinhaltet. So wird in Bezug auf die Gleichheit/Differenz von Frauen und Männern deutlich, dass Gleichheit/Differenz Relativa sind: Weisen, wie Frauen und Männer gedanklich in Beziehung gesetzt werden. Bleibt man dabei kategorial sauber, kann aus der Relation Gleichheit/Differenz nur erfahren werden, was etwas im Verhältnis und Vergleich zu etwas anderem gleich bzw. different ist. Aus dem Vergleichen von Frauen und Männern kann also nur etwas über die Relationalität von Frauen und Männern erfahren werden, darüber, wie sie sich zueinander verhalten. Eine isolierte weibliche oder männliche Identität von Frauen bzw. von Männern kann daraus nicht abgeleitet werden. In diese bliebe immer die bestimmte Relation eingeschrieben, die den Vergleich anleitet. Diese Relation regiert die Identitätsaussage. Relationales Denken besteht also darin, Vergleichspunkte zu entwickeln. Identitätsaussagen sind damit logischerweise immer relativ. Ihr Erkenntnisbeitrag gilt zunächst nur im Hinblick auf die jeweils gestiftete Relation und ihren jeweiligen Beziehungspunkt.
Aber auch Vergleichspraktiken müssen reflektiert werden. So kann für Geschlechterfragen statt Gleichheit/Differenz auch die Relation „mehr oder weniger“ herangezogen werden, um über Frauen, Männer und ihr Verhältnis zu sprechen. „Mehr Frau als Mann“[1] oder auch „früher Frau, später Mann“ bzw. „erst Mann, dann Frau“ sind ungewohnten Relationen für Geschlechterdiskurse. Die Irritation, die durch diese Formulierungen entsteht, weist darauf hin, wie eingeschliffen es ist, bezüglich der Geschlechterverhältnisse die Relation Gleichheit/Differenz anzusetzen.
Es muss demnach auch überprüft werden, nach welchen relationalen Gesichtspunkten welche Relationen gebildet werden. Außerdem muss diskutiert werden, inwiefern es zu welchen Aspekten erforderlich und nützlich ist, Frauen und Männer zu vergleichen, diese Relation also überhaupt zu bilden. Für Aristoteles selbst schon war es einmal selbstverständlich, dass Habitus, Zustand/Haben, Wahrnehmung, Wissen und Lage Relativa sind. Sie sagen immer ein „von“ an, bilden daher niemals eine eigenständige Größe bzw. ein Seiendes.
Diese Bestimmung kann wiederum für das Denken und Sprechen über Geschlechterverhältnisse dazu führen, den Vergleich komplexer anzusiedeln. So erlaubt die genealogische Konturierung der Geschlechterbeziehungen eine mehrfache Positionierung, die die Relationalität zugleich deutlicher zur Sprache bringt: Frauen- und Männerrelationen werden als Mutter-, Tochter-, Sohn-,Vatergefüge markiert. Damit wird deutlich, dass eine Tochter immer eine Tochter von ist, also eine Mutter hat, eine Mutter immer eine Mutter von ist, also ein Kind hat usw. (dieses Beispiel führt Aristoteles auch an, es ist eine der wenigen Punkte in seiner Metaphysik, an denen er in seinem ansonsten sehr abstrakten Ausführungen konkrete menschliche Eigenarten thematisiert.) Diese Bestimmungen sind Relativa, die als solche und in ihrer Zweiseitig- und Wechselseitigkeit praktiziert werden müssen (Hegel hat dies genutzt, um die Geschlechterverhältnisse der bürgerlichen Gesellschaft zu benennen, der französische Diskurs der Geschlechterdifferenz setzt des Gleichen hier an).
Ein anderes Beispiel für Relationalität ist das Phänomen „Freiheit“. Auch Freiheit ist immer mit einem „von“ zu denken. Freiheit besagt, wie eine Person zu etwas in Beziehung steht, nämlich „frei“ oder „unfrei“. Auch wenn die Endung „-heit“ eine Verdinglichung vorgaukelt, Freiheit ist kein Gegenstand und damit auch kein Ziel. Es behält seine kategoriale Bedeutung bei, eine Eigenschaft zu sein. Genauer gesagt ist Freiheit die Eigenschaft einer Relation. Ebenso wie Gerechtigkeit markiert es eine spezifische Qualität menschlicher Relationalität. Des Gleichen gilt für „Weiblichkeit“ trotz des Affix „keit“, dass es kein Seiendes ist, sondern eine Eigenschaft, die sich nur in Unterscheidung von „männlich“ und damit nur relativ bestimmen lässt.[2]
Gerechtigkeit und Freiheit sind Beispiele dafür, dass Ethik und Politik von Relationalitäten handeln und die Diskurskunst des relationalen Denkens pflegen müssten. Aber vielleicht wird gerade die Ethik und insbesondere die Auseinandersetzung mit Gerechtigkeit derzeit so wichtig, weil unsere Zeit nach einem aufgeklärten Umgang mit dieser Kunst verlangt.
[1] So der Titel einer etwas anderen Analyse des Geschlechterverhältnisses, die die Frauen des Mailänder Frauenbuchladens vorgenommen haben (Libreria delle donne di Milano (1995): Sotto sopra. Mehr Frau als Mann, in: Jürgens, Gisela/ Dickmann, Angelika (Hg.): frauen-lehren, Rüsselsheim: Christel Göttert Verlag, S. 45-66).
[2] Günter, Andrea: Sich selbst denken. Frau sprechen. Feministische Überlegungen zu Identität, Politik und „weiblich“ als Relativum, in: dies., Politische Theorie und sexuelle Differenz. Feministische Praxis und die symbolische Ordnung der Mutter, Königstein 1998, S. 219-241; dies.: Wie eine strukturelle Rede von „Frau“ und „Weiblichkeit“ von ontologischen Zuschreibungen befreit, in: dies.: Feministische Theologie und postmodernes Denken. Zur theologischen Relevanz der Geschlechterdifferenz, Stuttgart
Ich verstehe nicht, dass in unserem Jahrhundert lebende Philosophinnen, Platon u.a.als den grossen Denker und das Vorbild der Philosophie überhaupt, darstellen. Wie wir wissen, war Platon der Schüler von Sokrates und Sokrates war Schüler von Aspasia. Und Beide benutzten auch die Weisheit Diotimas zu ihren (männlich denkenden) Gunsten. Der Ruhm der Platon für seine Dialog-Kunst zugeschrieben wird, gehörte in Tat und Wahrheit den griechischen Frauen/Philosophinnen. Diese Frauen dachten ganzheitlich.
Doch genau in der Antike wurde die Ungerchtigkeit zementiert in dem z.B.die weisen Frauen/Philosophinnen im Symposion ausgeschlossen und diffamiert wurden, so konnten sie weder Einspruch erheben noch den Schüler korrigieren.
Sind wir Frauen heute nicht endlich selbstbestimmt Denkende?
Wir könnten doch die Ursache benennen und die Symptome nicht nur philosophisch d.h. unter Einfluss der grossen Philosophen (männliches Denken), erklären…
(Siehe z.B. “Die Quellen der Philosophie sind weiblich” von Ingrid Straube. Und: Philosophinnen von der Antike bis zur Aufklärung” von Marit Rullmann. etc.)