Forum für Philosophie und Politik
Von Liv Kägi
Als ich neulich meiner Mutter von der Frauentagung im RomeroHaus erzählte, hörte sie gut zu, nickte und meinte, dass das ja genau das sei, was sie schon immer mit ihren Freundinnen gemacht hätte. Und das sei also diese andere Politik? Ich denke schon, sagte ich noch etwas unsicher.
Dieselbe Frage, die meine Mutter mir stellte, stellte sich uns Frauen auch an der Tagung Ende Januar in Luzern im RomeroHaus. Die Tagung hatte den Titel «eine andere Politik» und war vom Denken der Diotima-Philosophinnen aus Verona angeregt. Diese Philosophinnengemeinschaft unterscheidet sich von anderen politischen Gruppen durch die Abwesenheit fester Strukturen: Es gibt weder eine formale Mitgliedschaft noch ein gemeinsames Programm noch für alle verbindliche Regeln oder irgendeine Repräsentanz. Diotima ist vielmehr eine Aktivität, «fare Diotima», Diotima machen. Diese Praxis nährt sich aus den persönlichen Beziehungen zu einer oder einigen Frauen, aus denen dann immer wieder konkrete Projekte, Begegnungen oder Veranstaltungen hervorgehen können. Diese Praxis verhindert, dass sich eine Gruppe isoliert – sie steht im Einklang mit dem Stil der politischen Frauenbewegung, einer Bewegung die im Fluss, offen ist und sich Augenblick für Augenblick am Geschehen misst; ohne ein im Voraus geplantes Projekt.
Und so wurde diese Praxis bereits am Eingang des RomeroHauses erkennbar. Die meisten Frauen kannten sich. Politikerinnen, Bloggerinnen, Pädagoginnen, Dichterinnen, Theologinnen, Philosophinnen und weitere aus dem deutsch- und italienischsprachigen Raum begrüssten einander. Viele waren langjährige Freundinnen. Einige kannten sich noch aus der ehemaligen Frauenbewegung der siebziger und achtziger Jahre. Die Veroner Sprachphilosophin Chiara Zamboni pflegt schon über Jahre hinweg einen politischen Gedankenaustausch mit Dorothee Markert, Antje Schrupp und Ina Praetorius. Studentinnen aus Berlin und Zürich kamen angereist, um die Diotima-Philosophinnen real kennenzulernen und sich zu vernetzen.
Die Frauen kamen aus ihren je eigenen Kontexten und mit ihren persönlichen Erfahrungen, um in der konkreten Anwesenheit durch-eine-andere weiterzudenken, das Zusammensein zu geniessen und Schritt für Schritt da hin zu gehen, von wo sie noch nicht wissen, wohin es sie aber lockt zu gehen.
Li Hangartner und Lisa Schmuckli, die beiden Organisatorinnen, haben der Tagung dann auch eine Form gegeben, die es ermöglichte, diese andere Politik gleich zu experimentieren: ein politischer Gedankenaustausch, Gespräche, die Raum zum Denken öffnen, um hin und wieder etwas Wahres zu sagen.
Das Gastmahl Das Gastmahl zu Beginn der Tagung erinnerte mit nur einem kleinen Unterschied an das Symposion von Platon, in dessen Werk die Teilnehmer eines Gastmahls Reden über den Eros hielten. Während nämlich in dem Werk die einzig namentlich erwähnte und zitierte Frau, Diotima, abwesend war, waren es an der Tagung die Frauen, die zugegen waren und miteinander redeten. Diotima war anwesend, hörte zu, lehrte und sprach. So diskutierten beim Gastmahl Frauen dreier Generationen miteinander über ihre Liebe zur Freiheit, über das Begehren nach einer Politik der Frauen und der Frauenbeziehungen, über das mütterliche Kontinuum, über die Geschlechterdifferenz und den lehrreichen Konflikt bei wirklichen Unterschieden.
Geschlechterdifferenz? Geschlechterdifferenz! Die Unterschiede zeigten sich bald auch nicht mehr in der Geschlechterdifferenz, also zwischen Männern und Frauen, sondern in der Differenz zwischen den Frauen selbst. Chiara Zamboni, Diotima-Denkerin und eine Hauptreferentin an der Tagung, stellte die Emanzipation der Frauen als ein Geschenk der Männer vor, welches den Frauen dieselben Rechte anbiete, wie sie die Männer hätten und damit die Gleichheit zwischen Männer und Frauen zum Ziel hätte. In diesem Emanzipationsdenken seien Frauen erst dann frei, wenn sie aus ihrer vorgegebenen Rolle ausbrächen und so würden wie die Männer. Innerhalb dieses Denkens werden die Frauen als Menschen, die noch nicht alles haben, als Mängelwesen, dargestellt. Zentral im Denken der Diotima-Frauen ist dagegen aber die Überzeugung, dass die Grundlage für weibliche Freiheit asymmetrische Beziehungen zwischen Frauen sind: Ich bin dann frei, nicht wenn meine Freiheit von Rechten und Möglichkeiten abhängt, die mir möglicherweise gegeben werden oder auch nicht, sondern dann, wenn ich mit Hilfe der Vermittlung durch eine Andere, einen Weg finde, meinem Begehren zu folgen. Die ganz und gar Andere ist also nicht die Grenze meiner Freiheit, sondern die Basis. Weil es Andere gibt, kann ich mich verändern und die Differenz zwischen dem, was ich bin, und dem, was ich begehre zu sein, überwinden. Somit sind die Unterschiede der Frauen kein Problem mehr, sondern die Grundlage einer weiblichen Politik.
«Anwesendsein» als lebendiges Element der Politik der Frauen Der zweite Tag begann mit einem Referat von Chiara Zambonni (hier im Wortlaut nachzulesen), in dem sie die konkrete Gegenwart, das «Anwesendsein» als lebendiges Element der Politik der Frauen beschreibt. Beginengemeinschaften im dreizehnten Jahrhundert, Frauenklöster und zahlreiche Lesegruppen oder feministische Diskussionsgruppen von heute im Netz pflegen die Praxis des Denkens unter Frauen. Dabei handelt es sich um wesentliche Momente des politischen Gedankenaustauschs, die zu tiefen Veränderungen geführt haben. Bei diesem gemeinsamen und mündlichen Denken sei die Anwesenheit wesentlich. Die Kultur der Frauen habe den lebendigen Leib und damit auch sein Fühlen zum Zentrum gemacht. Der Leib nehme die Gegenwart der Anderen und der Umgebung wahr. Dieses Wahrnehmen und Fühlen helfe dabei, dem Geschehen einen Sinn zu geben und unser mündliches Denken zu nähren.
Um diesem mündlichen Denken von Frauen Raum zu geben, habe Luisa Muraro, auch eine Diotima-Denkerin, beim Beginn mit Diotima eine einfache aber wirkungsvolle Praxis vorgeschlagen: kein gelesenes Buch, keinen Philosophen und keine Philosophin zu zitieren, sondern nur auf die Worte derer Bezug zu nehmen, die vor ihnen das Wort ergriffen hatten. Warum? Weil dadurch die andere, die mit ihnen diskutierte, zur authentischen Quelle eines im Beginn begriffenen weiblichen Denkens wurde. Dadurch waren sie alle unversehens gezwungen, nach Worten zu suchen, weil sie sich nicht mehr auf ein Denken stützen konnten, das andere sehr gut vor ihnen gedacht hatten und das bis zu diesem Augenblick als Geländer gedient hatte. Doch diese Praxis ermöglichte ihnen, einen unabhängigen Weg für das weibliche Denken zu finden.
Später haben sie Bücher geschrieben und natürlich auch Denkerinnen und Denker zitiert, aber inzwischen war ein weibliches Denken entstanden und hatte sich konsolidiert, und die Autorität blieb an den gemeinsam entwickelten Diskurs gebunden, der nie nur eine einzige Autorin hatte. Ebenso wie die von Luisa Muraro eingebrachte Praxis, besteht die Autorität in der Aufmerksamkeit, die wir den Worten der Anderen gewähren, wie sie in diesem Moment in unserer Gegenwart ausgesprochen werden, um eine flüssige Autorität entstehen zu lassen. Und so sind es auch immer mehrere Frauen, die die Diskussion leiten.
Autorität in der Aufmerksamkeit, die wir den Worten der Anderen gewähren In unterschiedlichen Workshops zu Themen wie Guerilla-Verbindlichkeit, Care-Ökonomie, Politik der Beziehung, Politik als Vermittlung, Politik, die frei macht für Neues, Theologie in der Muttersprache und Revolution der Grossmütter wurde genau diese Autorität praktiziert. Dabei bestand die Herausforderung vielleicht weniger in den Themen selbst, als vielmehr darin, all den unterschiedlichen Stimmen im Moment Aufmerksamkeit und somit Autorität zu geben. Genau das war auch der Genuss der ganzen Tagung! Eine Studentin sagte mir im Nachhinein, wie sie das Zusammensein all der Frauen fasziniert hätte und wie viel Denken bereits da sei. Eine andere Studentin war beglückt ab der Grossmütter-Revolution, bei der sie so viel Kraft und Leidenschaft spürte. Andere wiederum diskutierten darüber, wie das weibliche Begehren kontinuierlich werden könnte und schrieben auf ein Plakat: Mach eine Anstrengung, dich zu erinnern wie es war, als du keine Sklavin warst. Erinnerst du dich nicht … dann erfinde!
«Ist das Politik?» Ja, weil sie die Beziehungen der Frauen als Grundlage hat und also intensive Gemeinschaft zwischen ungleichen kultiviert und dadurch das Begehren der Frauen durch ihre Differenzen Wege finden lässt. «Ist das Politik?», fragte meine Mutter. Ja, das ist Politik!
Wir liessen uns «anstecken», um das Bild einer Diotima-Philosophin zu gebrauchen. Die Ansteckung nicht mit einer bestimmten «Theorie», sondern vor allem mit einer Praxis: dem Vertrauen auf das Gespräch zwischen zwei Frauen, in dem das Begehren der einen auf die Autorität der anderen trifft. In der Liebe zur Freiheit auf der Suche nach Wahrheit gehen wir weiter, im Austausch mit den Anderen, jede für sich. Schritt für Schritt.
Dieser Text erschien zuerst in den Neuen Wegen