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Der Darm in seiner ganzen Schönheit

Von Elfriede Harth

Elfriede Harth empfiehlt Giulia Enders Buch „Darm mit Charme“ – oder: wenn Eva wissen will und das Wissen auf appetitliche Weise weiterreicht.

darm-mit-charme-089236488„Ich wurde per Kaiserschnitt geboren und konnte nicht gestillt werden. Das macht mich zum perfekten Vorzeigekind der Darmwelt im 21. Jahrhundert. Hätte ich damals schon mehr über den Darm gewusst, hätte ich Wetten abschließen können, welche Krankheiten ich mal so bekommen würde…..”

Mit diesen Worten beginnt die 24-jaehrige Giulia Enders ihr medizinisches Sachbuch, das es schon nach wenigen Wochen auf den ersten Platz der Sachbuchbestsellerliste geschafft hat. Sie erzählt, wie sich aus ihrer ganz persönlichen Betroffenheit das Begehren entwickelte, zu verstehen und zu wissen:

Eine nässende Hautwunde an ihrem Bein, die einfach durch keine ärztlich verordnete Therapie abheilen will. Enders sucht und experimentiert erfolgreich und erlebt „am eigenen Körper, dass Wissen Macht sein kann“. Und so studiert sie Medizin.

Sehr bald schon ist sie von dem Wunsch beseelt, ihr Wissen, das „Macht sein kann“, mit anderen zu teilen: „In charmantem Ton erklären, wie es so läuft im Darm, was die Forschung Neues bietet, und wie wir mit diesem Wissen unseren Alltag besser machen können.“ Dabei sieht sie sich als Vermittlerin eines Wissens, das sie durch ihre Einbindung in ganz unterschiedliche Beziehungen erworben hat. Ihre Schwester, die das Buch mit lustigen Zeichnungen illustriert, wird dabei als ganz besondere, weil liebevoll kritische Hilfe gewürdigt.

Giulia Enders nimmt ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise, die beim menschlichen Embryo beginnt, mit der Entdeckung der „drei Schläuche“, aus denen sich der gesamte Organismus ausbildet: Blutgefäßsystem, Nervensystem und Darmrohr. Während die ersten beiden einen edlen Status besitzen, führt der dritte ein Aschenputtel-Dasein. Er verdient es jedoch, in seiner ganzen Schönheit erkannt zu werden. Statt uns für unseren Darm und seine Funktionen zu schämen, sollten wir entdecken, wie bedeutsam und kostbar sie sind.

Als erstes erfahren wir: „Wie geht kacken? – … und warum es eine Frage wert ist“. So beherzt, wie Giulia Enders mit diesen Worten das erste Kapitel überschreibt, erläutert sie, warum „unser Klogang … eine Meisterleistung“ ist. Wir lernen unter anderem, dass die Hocke beim Kacken die physiologisch günstigste Stellung ist und allerlei Beschwerden wie Hämorrhoiden, Divertikeln, Krampfadern, etc. entgegenwirken kann. Praktische Abhilfe für das in unserem Kulturkreis üblichen Thronen auf dem Porzellanklo wird mitgeliefert: „Der Oberkörper wird leicht nach vorne gebeugt, und die Füße werden auf einen kleinen Hocker gestellt – et voila“.

Beginnend mit dem Mund als „Eingangshalle zum Darmrohr“ werden wir durch den gesamten Darmtrakt geführt und auf die vielen „Sehenswürdigkeiten“ in jedem Abschnitt hingewiesen. Wir entdecken die völlig unterschätzte Rolle des Darmes als Hauptsitz unseres Immunsystems. Wir erfahren, wie viel inniger wir als Organismus mit unserer Umwelt in Beziehung stehen, als wir es vermuten. Eigentlich sind wir ein kleiner Kosmos, der aus Milliarden von winzigen Lebewesen besteht, die alle im harmonischen Zusammenarbeiten den Zustand hervorbringen, den wir „Gesundheit“ oder Wohlbefinden“ nennen. Doch liegt hier auch die Wurzel für viele Leiden, sowohl physischer als auch psychischer Natur.

Eine kleine Abhandlung zu Bestandteilen, Farbe und Konsistenz des Kots schließt den ersten Teil des Buches ab.

Der zweite Teil befasst sich mit dem Nervensystem des Darms.  Es wird die jeweilige Rolle unserer Organe (Augen, Nase, Mund, Rachen, Speiseröhre, Magen, Dünndarm und Dickdarm) beim Transport unseres Essens erklärt. Wie geschieht sauer aufstoßen, was ist Erbrechen oder Verstopfung. Zum Abschluss wird der Zusammenhang von Darm und Gehirn erläutert.

Besonders beeindruckt war ich von der zitierten Hypothese eines Mediziners (Daniel Wolpert), der einzige Grund, ein Gehirn zu haben, sei die Bewegung. Giulia Enders kommentiert: „Bewegung ist das Außergewöhnlichste, was wir Lebewesen jemals zustande gebracht haben. Es gibt keinen anderen Grund, Muskeln zu haben, keinen anderen Grund, Nerven an diesen Muskeln zu haben, und vermutlich keinen anderen Grund, ein Gehirn zu haben. Alles, was jemals die Menschheitsgeschichte verändert hat, war nur möglich, weil wir uns bewegen können. Bewegung ist eben nicht nur das Laufen oder das Werfen eines Balles, Bewegung ist auch ein Gesichtsausdruck, das Artikulieren von Wörtern oder das Umsetzen von Plänen. Unser Gehirn koordiniert seine Sinne und kreiert Erfahrung, um Bewegung zu verursachen. Bewegungen des Mundes, der Hände, Bewegung über viele Kilometer hinweg oder Bewegung über wenige Millimeter. Manchmal können wir die Welt auch dadurch beeinflussen, dass wir Bewegung unterdrücken. Ist man allerdings ein Baum und hat keine Wahl zwischen zwei Optionen, braucht man auch kein Gehirn.“ (S. 131, f).

Bemerkenswert fand ich ebenfalls den Zusammenhang zwischen Darm und seelischem Zustand einer Person. Wie Gehirn und Darm zusammenarbeiten, um Stress zu bewältigen. Der Darm spielt den Part des „Gutmütigen“, der über lange Zeiträume hinweg dem „edlen“ Gehirn den Rücken frei hält, damit dieser in der Auseinandersetzung mit „feindlichen“ Ausnahmesituationen fertig wird. (Erinnert irgendwie an die Ehefrau, die ihrem Mann den Rücken frei hält, aber dabei völlig unsichtbar bleibt.) Bis irgendwann der Bogen überspannt wird und der Darm streikt. Aus solchen Erfahrungen bildet sich mit der Zeit das berühmte „Bauchgefühl“. Und der Darm leistet einen entscheidenden Beitrag dazu unsere Identität als Ich zu konstruieren.

Der letzte Teil befasst sich mit der „Welt der Mikroben“, die unseren Darm bevölkern. Der Mensch ist ein komplexes Ökosystem, das sich ab der Geburt als solches entwickelt. Als Ungeborene sind wir in der Regel völlig keimfrei. „Dieser Zustand ist außergewöhnlich. Wir werden nie wieder in unserem Leben so behütet und so alleine sein. Wären wir außerhalb der Gebärmutter dazu angelegt, keimfrei zu sein, wären wir anders gebaut. So aber hat jedes größere Lebewesen mindestens ein anderes Lebewesen, das ihm hilft und als Gegenleistung auf ihm wohnen darf.“ Eigentlich sind wir „zahlenmäßig nur noch zu zehn Prozent Mensch und zu 90 Prozent Mikrobe“. – Ist das nicht ein wunderbares Bild von der Unausweichlichkeit des Beziehungshaften, das uns zu Menschen macht? Von unserem Angewiesensein auf andere?

Auf etwa hundert Seiten wird der neuste Stand einer noch sehr jungen Forschung über Bakterien vorgestellt. Bakterien können dick machen und Cholesterin hängt mit Darmbakterien zusammen. Es gibt (für uns) schlechte Bakterien und Parasiten, was bewirken sie, wie und warum. Wie im Rest des Buches wird alles auf einer sehr anschaulichen und witzigen Weise vermittelt.

Zum Abschluss werden Sauberkeit, Antibiotika, Probotika und Präbiotika abgehandelt. Und es gibt einen Anhang mit zehn Seiten ausgewählter Bibliographie für Leserinnen und Leser, die einzelne Themen weiter vertiefen wollen.

Ein empfehlenswertes Buch!

Giulia Enders: Darm mit Charme, 2014, Ullstein, 285 S., 16.99 Euro

Autorin: Elfriede Harth
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 29.07.2014
Tags:

Weiterdenken

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