Forum für Philosophie und Politik
Von Andrea Günter
Sibylle Lewitscharoffs Bewertung der aktuellen medizinischen Reproduktionsmethoden in ihrer Dresdner Rede hat einige Empörung auf sich gezogen. Da ich erst vor kurzem ihren Essay „Vom Schönen, Wahren und Guten“ gelesen hatte, der eine erfrischende Verbindung zwischen Erstem Testament und literarischen Figurationen wie „Zeugenschaft“ und „Prophetie“ zog, war ich mehr als erstaunt. Verwundert hat mich ihr verstellter Blick auf das Erste Testament, was das Zeugen betrifft. Angefangen mit Sara ist die ganze Abfolge der Erzelternerzählungen beschäftigt mit der Frage der Elternschaft als Ergebnis des menschlichen Organisierens des Zeugenkönnens. Führen wir uns diese Geschichten nochmals genau vor Augen.
1. Sara wählt sich ihre Magd Hagar zur Leihmutter, als sie selbst nicht schwanger wird. Dass Hagars Setting zur Schwangerschafterzeugung nicht dem entspricht, das Gott dem Paar Sara und Abraham zunächst verheißen hatte, erfährt Sara, als sie dann doch noch im hohen Alter selbst schwanger wird. Dennoch wird nicht nur ihrem Sohn Isaak, sondern auch Hagars Sohn Ismael von Gott die Verheißung zugesprochen, ein Volk zu begründen. Während Isaak durch das Familiengefüge geschützt ist, schützt Ismael ein Engel. (Ismael ist in keiner Weise als „Halbmensch“ bewertet.)
2. Da sie keinen Zugang zu einem Mann hatten, machten Lots Töchter ihren Vater betrunken, um schwanger zu werden. Auf diese Weise erhalten sie die Genealogie und gründen Völker.
3. Welche Position nun Erstgeborene einnehmen, wird ferner variiert. Abrahams Sohn Ismael wird nicht als Erstgeborener anerkannt, weil er der Sohn einer Magd ist. Allerdings dreht Rebekka, Isaaks Frau, im Fall von Esau und Jakob die natürliche Geburtenfolge ihrer beiden ehelichen Söhne um, weil sie den zweitgeborenen Jakob als nachkommenden Führer für das Volk für geeigneter hält.
4. Die unfruchtbare Rahel wiederum tauscht mit ihrer fruchtbaren Schwester Lea eine Nacht mit Jakob gegen ein Heilkraut ein, das ihr zum Schwangerwerden verhelfen soll. Zwar wird sie dadurch nicht schwanger, erst Gottes Erbarmen wird ihr helfen. Rahels Versuch wird allerdings weder verpönt noch moralisiert. Sie muss lediglich erfahren, dass ihr Versuch, auf ein bekanntes medizinisches Mittel zurückzugreifen, nicht automatisch von Erfolg gekrönt ist. (Der Sohn Israel wird später seinen Sohn Ruben enterben, da er sich nicht bändigen konnte).
5. Die Tochter von Levi hält drei Monate lang die Geburt ihres Kindes geheim, der Vater wird nicht erwähnt.
6. Nachdem Judas Sohn gestorben ist, soll rechtsgemäß sein zweitgeborener Sohn Onan dessen Frau Tamar schwängern. Dieser schläft mit ihr, verweigert ihr aber die Schwangerschaft. JHWH lässt ihn sterben. Da Juda den dritten Sohn für zu jung hält, schickt er Tamar in ihr Elternhaus zurück, verweigert ihr also Versorgung und Witwenstatus. Tamar bringt ihn verschleiert dazu, mit ihr zu schlafen, wird schwanger und überführt ihn seiner Ungerechtigkeit. (Onan befriedigt sich nicht selbst, sondern schläft mit seiner Schwägerin, wobei er eine Zeugung vermeidet. Auch diese Position wurde schon hochgehalten: Sexualität ohne Zeugungsabsicht verstößt gegen den Willen Gottes. Dahin wollen wir wohl kaum wieder zurück.)
7. Moses wird ausgesetzt, verschiedene Frauen verhelfen ihm zum Überleben, indem sie Widerstand leisten; von der Königstochter wird er quasi als Pflegesohn aufgenommen. Ihr Engagement folgt nicht der Natur, sondern ihren sozialpolitischen Ansichten.
8. Die systemstörenden Tätigkeiten von Hebammen werden immer wieder hervorgehoben. Usw. usw.
Diese Geschichten können wir wissen und müssen wir beachten, wenn wir uns über das Zeugen im biblischen Kontext unterhalten, aber auch, wenn wir nicht allzu naiv über die Natürlichkeit des Zeugens sprechen oder diese Natürlichkeit als Zustand vor der Zeit der modernen Reproduktionsmedizin ansetzen wollen. Damit zurück zu Sibylle Lewitscharoff. Mit großer Wahrscheinlichkeit kennt sie, wie viele anderen auch, all diese Geschichten. Wie kommt es, dass der zeugungspraktische Gehalt dieser Geschichten trotz ihrer Bekanntheit übergangen wird?
Das Erste Testament spricht unaufhörlich von den vielfältigen und wilden menschlichen Machenschaften des Zeugens und macht dabei die unterschiedlichsten Zeugungsvarianten deutlich. Auf „natürliche Weise“ keine Nachkommen zu bekommen ist ein Menschheitsthema, das weiß schon die Bibel. Die Menschen der Bibel haben alle Möglichkeiten ihrer Zeit genutzt, um Elternschaft – Vaterschaft und Mutterschaft – zu gründen: biologische, soziale, medizinische. Vor den Zeiten der modernen Reproduktionsmedizin verhandelt das Erste Testament dabei vor allem Sozialtechniken des Zeugens: Leihmutterschaft, Polygamie, Frauentausch, Männerbetrug, Vaterverführung ebenso wie Vaterignorierung und eben Medizintechnik. (Das Zubereiten eines Heilkräutertees ist eine Medizintechnik, die gerade auch genauen technischen Abläufen und physikalisch-chemischen Kenntnissen folgt, das englische Wort „infusion“ transportiert die Verbindung zu dem, was üblicherweise als moderne Medizintechnik abgegrenzt wird.)
Wenn Lewitscharoff wie viele andere diese Geschichten kennt, sie aber nicht in ihre Überlegungen einbezieht, dann fehlt es hier nicht an Bildung, dann muss man ihr Ideologie vorwerfen. Systematisch die nicht-bürgerlichen, die nicht-natürlichen Mann-Frau-Zeugungskonstellationen oder die Verzweckung der „natürlichen“ Mann-Frau- bis hin zur Töchter-Vater-Konstellation auszublenden, heißt, die bekannten, erzählten, sogar als Bibel tradierten Zeugungsrealitäten hinter etwas anderem zu verstecken.
Warum werden diese Geschichten so gerne übergangen, wenn es um menschliche Erfindungen in Bezug auf das Zeugen und Nachkommen haben geht? Ein solches Verschweigen schützt eine Technikfeindlichkeit, die sich dem Naturrecht verschreibt, weil technische Neuerungen neue Fragen ans eigene Selbstverständnis mit sich bringen können. Eine technikfeindliche Theologie des Ersten Testaments zu behaupten, lässt sich aber keinesfalls rechtfertigen, wie die Alttestamentlerin Ilse Müllner verdeutlicht.
Ferner hütet diese Verstellung ein romantisches Mann-Frau-Natur-Paar-Ideal, den Wunsch nach einer weltfreien Sexualität und Zeugung. Und sie korreliert darüber hinaus mit einer idealistischen Theologie, die, indem sie Lewitscharoffs Wertung „Halbwesen“ als Angriff auf „die Würde eines Menschen“ versteht, dieser Aussage mehr Ehre zuspricht als nötig. Denn einer solchen halbfertigen Aussage entgegenzustellen, dass ein jedes Wesen Gottes Geschöpf sei, wie Dirk Pilz es in der Frankfurter Rundschau am 8.3.2014 getan hat, ist ebenso „halbbildend“. Es vermeidet die Auseinandersetzung mit dem konkreten Thema – hier mit den biblischen Modalitäten der Techniken des menschlichen Zeugens – und verbleibt im selben romantisch-theologischen Idealismus.
Ein genauerer Blick auf diese Geschichten zeigt nämlich, dass das Tun der Frauen, die all die aufgeführten verschiedenen Reproduktionsversuche unternehmen, nicht moralisiert wird. Einige Kinder werden geschützt, die Verheißungen an sie nicht zurückgenommen, obwohl die gottgewollte soziale Ausgangszeugungskonstellation nicht stimmt, während bei anderen die selbstverständliche Position, „richtiger Erstgeborener“ zu sein, nicht anerkannt wird. Dass weltliche Techniken (Heilmittel fürs Schwangerwerden) ebenso wenig wie weltlich gewohnte Inanspruchnahmen des Natürlichen (Erstgeborenenrecht) nicht automatisch zum Erfolg führen – und theologisch gedacht: dem Willen Gottes entsprechen –, darin besteht die Erfahrung der einzelnen biblischen Figuren.
Aus solchen sozialen Rahmungen und Uneindeutigkeiten des Natürlichen leitet sich aber nicht das Verbot ab, dass Menschen ihre Fähigkeit, Möglichkeiten des Zeugens zu erfinden oder passgenauere Ableitungen aus Zeugungsfakten zu generieren (Erstgeborenes als Führer einzusetzen), nicht ausüben dürften. Dass sie das immer wieder tun, wird in der Bibel nicht als menschliche Hybris gebrandmarkt, sie stellen sich damit nicht über den Schöpfergott. Menschen können mit Hilfe solcher Aktivitäten durchaus den göttlichen Auftrag zum Wachsen und Mehren erfüllen. Der „Wille Gottes“ steht nämlich, wie gesagt, über all diesen menschlichen Möglichkeiten und Ansinnen. Er zeigt sich darin, ob der einzelne konkrete und situationsspezifische Versuch von Erfolg gekrönt ist oder gerade nicht.
Was nun die Natürlichkeit der Erzeugung eines Kindes selbst betrifft: Die Zeugung in Form dessen, dass Eizelle und Samen im Körper einer Frau zusammentreffen, diese Form zu ersetzen war in biblischen Zeiten wohl kaum möglich. Den geliebten Mann einer anderen Frau ins Bett schicken, den eigenen Vater unter Drogen zu setzen, um trotz des Männermangels schwanger zu werden, oder sich wie Tamar abends am Stadttor ihrem ignoranten Schwiegervater zu prostituieren, belegt, wie weit einzelne Frauen sozialtechnisch zu gehen bereit waren, um schwanger zu werden. Angesichts der heutigen und berechtigten Befindlichkeiten von Frauen scheint sozialtechnisch eine Zeugung im Reagenzglas dagegen als weniger belastend.
Fangen wir also an, historisch zu denken. Blicken wir etwa hundert Jahre zurück auf die verschiedenen Konstellationen, in denen die Kinder in unseren eigenen Familiengefügen einerseits gezeugt und andererseits als Erben eingesetzt wurden, dann weitet sich unserer Horizont, was das Wissen um den Zusammenhang zwischen Weltlichkeit, Zeugen und Nachfolger_innen-Finden betrifft. Da müssen wir uns nicht weit zurück auf die Adoptionen der römischen Kaiser besinnen, die in dieser Form adäquate Nachfolger einzusetzen versuchten. Da sind zeitnäher unendlich viele Varianten zu erzählen. Wie sehr außerdem gerade Ehen eine bloße, oftmals gewaltförmige Instrumentalisierung von Frauen und Männern für die Zeugungs- und Erbsicherung waren, könnte außerdem eigentlich jeder halbgebildete Mensch im Kopf haben.
Eheschließungen aus familienfinanzpolitischen Gründen führte einzelne Frauen und einzelne Männer dazu, miteinander Sex zu haben, wenigstens um Kinder zu zeugen und für Nachkommen – Erben – zu sorgen. Was werden solche Paare miteinander verabredet haben, was das Zeugen und was Sexualität betrifft? Und was hat es für die einzelnen Frauen und Männer bedeutet, wenn sie aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage waren, über die instrumentelle Seite ihrer Ehe und ihrer Fortpflanzungssexualität zu sprechen? Wie „natürlich“ ist ein solcher Zeugungskoitus? Außerdem: Was ist an der Instrumentalisierung von „Natürlichkeit“, die einzelnen Menschen Unheil in Form von Zwang zum Zeugungssex bringt, besser als eine Instrumentalität, die für die betroffenen Personen Sinnhaftigkeit zu erzeugen und zu heilen vermag?
„Was nun die Natürlichkeit der Erzeugung eines Kindes selbst betrifft: Die Zeugung in Form dessen, dass Eizelle und Samen im Körper einer Frau zusammentreffen, diese Form zu ersetzen war in biblischen Zeiten wohl kaum möglich. Den geliebten Mann einer anderen Frau ins Bett schicken, den eigenen Vater unter Drogen zu setzen, um trotz des Männermangels schwanger zu werden, oder sich wie Tamar abends am Stadttor ihrem ignoranten Schwiegervater zu prostituieren, belegt, wie weit einzelne Frauen sozialtechnisch zu gehen bereit waren, um schwanger zu werden.“
Entschuldigung, aber ich musste bei dieser Passage echt lachen. Ich lese die Bibel nicht als einen Bericht über die ehemaligen sozialen Tatsachen oder „Soll-Ansagen“ an mich selbst, sondern als einen Bericht über die Denkweise der Bibel-Verfasser!
Mir haben sich die Widersprüchlichkeiten der Schilderungen von Sarah, Hagar, Tamar usw. in der hebräischen Bibel und ihren angeblichen Wegen, schwanger zu werden, bzw. dem Mann zu einem (männlichen) Kind zu verhelfen, erst durch die Forschungen von Gerda Weiler erschlossen. Für mich einleuchtend belegt sie vor allen Dingen in den Büchern “Das Matriarchat im alten Israel”, Stuttagrt 1989 und “Ich brauche die Göttin”, Königstein, 1997 den Versuch der patriarchalen Redakteure der hebräuschen Bibel, die Texte zur Kultpraxis der matriarchalen Heiligen Hochzeit(u.a. zum Wiederaufblühen der Natur) zu verschleiern und daraus bis dahin unbekannte Familiengeschichten zu konsturieren. Ich meine, es ist erhellend, diese Bücher zu kennen. In der Fernleihe gibt es sie noch auf jeden Fall.