Forum für Philosophie und Politik
Von Wanda Tommasi
Die Diotima-Philosophin Wanda Tommasi organisierte im September 2013 an der Universität in Verona eine Konferenz zum Thema “Mystik und Politik”. Dazu hat sie in der aktuellen Ausgabe der Via Dogana (der Zeitschrift des Mailänder Frauenbuchladens) einen Artikel geschrieben, den wir hier auch veröffentlichen. Antje Schrupp hat ihn ins Deutsche übersetzt.
Normalerweise denkt man, Mystik sei etwas Außergewöhnliches, etwas, das nur wenige Menschen im Rahmen einer religiösen Erfahrung betrifft. Diese Auffassung von Außergewöhnlichkeit ist auch eine Weise gewesen, die Mystik zu marginalisieren und ihr Erbe unzugänglich zu machen, selbst in Epochen, die, wie das Mittelalter, sehr viel mehr als die unsrige für religiöse Fragen empfänglich waren.
Und dennoch: Wenn die Mystik aus diesem abgelegenen Ort, auf den sie begrenzt wurde, herausgeholt wird, kann sie uns etwas lehren. Auch heute noch, oder vielleicht sogar erst recht heute, in einer Zeit, wo die revolutionären Ideologien untergegangen sind und die Gefahr besteht, dass die Frage nach der Gerechtigkeit und wie man auf Ungerechtigkeiten reagieren kann, keinen Ort mehr hat, an dem sie sich festmachen kann.
Die Mystikerinnen und Mystiker haben ihre Gotteserfahrung zum Ausgangspunkt dafür genommen, die Rahmen und Koordinaten, in denen sie sich verorteten, neu zu definieren. Genau da liegt ihre wichtigste Lehre, die auch eine politische Lehre ist: Es ist die Einladung, sich auf die eigene (Gottes)Erfahrung zu stützen, um die geltenden Ordnungen, die Institutionen (und nicht nur die religiösen) anzufechten; die Einladung, sich in einem Anderswo zu verwurzeln und von dort die Autorität zu beziehen, um die geltende Ordnung, die Dispositive der Macht und die normativen Codes anzufechten. In dieser Hinsicht kann eine Politik, die diesen Namen verdient, etwas von der Mystik lernen.
Zunächst einmal kann uns die Mystik dabei helfen, den Sinn wach zu halten für das, was unabdinglich ist, ohne vom Gewicht der Dinge erdrückt zu werden, die die Seele verschlingen. Ich denke zum Beispiel an den wachsenden Druck einer sinnlosen Bürokratie und die Dokumentationspflichten in allen Arbeitsbereichen des öffentlichen Sektors: Viel Zeit und viele Energien werden von diesen Prozeduren aufgesaugt, und es ist nicht leicht, den Sinn für das, was für uns wirklich zählt, wach zu halten. Meiner Ansicht nach ist ein politischer Austausch notwendig, der von diesem Unbehagen ausgeht, damit der Sinn für ein Anderswo wachgehalten wird, wo man sich verwurzelt und so vermeidet, dass wir in blinder Akzeptanz des Existierenden oder auch im sterilen Kampf dagegen verarmen.
Den zweiten Gewinn, den die Politik aus der Mystik ziehen kann, möchte ich in einer Formulierung von Teresa von Avila zusammenfassen: Das tun, was von uns abhängt, und für den Rest sich anvertrauen. Aber wem oder was? Teresa vertraute sich Gott an; für uns geht es darum, sich einer Form von Transzendenz anzuvertrauen, die zum Beispiel in der Politik der Frauen „weibliche Freiheit“ genannt wurde.
Beides ist unverzichtbar, sowohl das Tun dessen, was von uns abhängt, als auch das sich Anvertrauen: Denn wenn wir das Tun dessen, was in unserer Macht steht, unterlassen, bezahlen wir das in jedem einzelnen Moment mit einem Verlust an Wirksamkeit in der Gegenwart und mit einer Hypothek auf die Zukunft. Und wenn wir uns nicht irgendeiner Form von Transzendenz anvertrauen, einem primären Ort, der leer bleiben muss, riskieren wir, allen Raum selber auszufüllen, auch jenen Raum, der offen und frei bleiben muss für andere.
Schießlich – und hier komme ich auf das anfangs Gesagte zurück – lehrt die Mystik, sich in einem Anderswo als der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung zu verwurzeln, und so ans Licht zu holen, was in der Realität noch latent und unsichtbar, erst im Entstehen begriffen ist. Simone Weil verwendet den Ausdruck „unendlich Kleines“ für dieses Atom des reinen Guten, das in uns wohnt, und das auf das Gute und die Gerechtigkeit hofft, auch wenn der ganze sonstige Rest von uns der Macht des Stärkeren gehorcht. Unendlich klein ist auch die Möglichkeit, dass die historisch-gesellschaftliche Realität nicht vollständig den Mechanismen der Macht unterworfen ist, sondern dass sie sich für etwas Anderes öffnet, hin zu einer Ordnung, die weder einen Namen noch eine Form hat, und die wir nicht definieren, an der wir uns aber dennoch orientieren können. Im Zusammentreffen zwischen dem unendlich Kleinen, das in uns wohnt, und der ersehnten möglichen Realität verläuft die Linie zur Transzendenz der gegebenen gesellschaftlichen Ordnung: zu ihrer Überwindung, die auch in Bezug auf die bereits in die Zukunft gelegten Gleise ein Anderswo-Hingehen ist.
Die Politik der Frauen, die sich der Praxis anvertraut und am Begehren orientiert, hat viel mit den mystischen Wegen gemeinsam, die im Realen den Übergang zu etwas Anderem als dem bereits Gegebenen öffnen. Das Wort Gott oder was auch immer dem in unserem eigenen Leben entspricht, dient dazu, ein unendlich Kleines anzuzeigen, das der Logik der Stärke entzogen ist: ein unendlich Kleines, fast ein Nichts, das aber einen entscheidenden Unterschied macht.
Simone Weil nennt das auch übernatürliche Freiheit oder übernatürliche Liebe: aber es ist ein Übernatürliches, dessen Wirksamkeit in dieser Welt wir feststellen können. Den Baum erkennt man an seinen Früchten. Und das ist ein guter Ausgangspunkt für die Politik.
Übersetzt von Antje Schrupp.
Aus: Via Dogana, Nr. 107, Dezember 2013.
Zitat:…ein unendlich Kleines anzuzeigen,fast ein Nichts,das aber einen entscheidenden Unterschied macht.Zitatende.Genau,dafür danke ich.
Schöner Artikel, danke für die Übersetzung!
Finde den Artikel eine wunderabre Anregung, weiterdenken würde ich in die Richtung, dass Teresa die Verbindung zu Gelehrten als wichtig erachtete und Johannes vom Kreuz z.B. nicht nur in seinen Sprüchen dem Verstand hohe Bedeutung beimaß, z.B. bei religiösen Gefühlen und Erfahrungen …
Danke
Hanne