Forum für Philosophie und Politik
Von Claudia Conrady
Mit den Ethikkonzepten zur Geschlechterdifferenz arbeiten
Die TeilnehmerInnen von Andrea Günters Seminar hatten die Aufgabe, zu den einzelnen Seminarsitzungen Lerntagebücher zu schreiben. Damit konnten sie aufgreifen, diskutieren und entwickeln, was ihnen zur Sitzung am Herzen lag. Passend zu dem Themenschwerpunkt der Seminarberichte werden aus diesen Lerntagebüchern Texte ergänzt.
Aus dem Lerntagebuch von Claudia Conrady
Platons Verständnis der Geschlechterverhältnisse dem des Aristoteles zu kontrastieren hilft zu verstehen, wie metaphysische Vorstellungen die ethische Beschäftigung mit Geschlechterfragen leiten. So hatte ich mich zuvor in einem Seminar zu Queer Theory bereits mit der Frage beschäftigt, wie die in unserer Gesellschaft so tief verankerten Binärstrukturen (Mann – Frau, heterosexuell – homosexuell, schwarz – weiß, …) aufzubrechen sind. Dabei überlegte ich mir eine Form von Visualisierung dieses Prozesses. Wir sprachen über einen Text, in dem deutlich wurde, dass die Protagonistin sich in Grenzgebieten verschiedener Kategorien im Bezug auf Sexualität, Genderzugehörigkeit, Ethnie, … befand. Mir kam die Idee, dass die Binäre als solche in Form von Geraden dargestellt werden könnte, die jeweils entgegengesetzte Pole besitzen. Entlang dieses Spektrums wäre die Einordnung der Person möglich.
Um der Mehrdimensionalität eines Menschen gerecht zu werden, wollte ich ein Koordinatensystem kreieren, in dem jede Achse einer Kategorie entspricht, der wir uns zugehörig fühlen können. Durch die große Anzahl an Achsen wird es zwar schwierig, sich vorzustellen, wie ein so entstehender Punkt im n-dimensionalen Raum aussehen würde, aber das Prinzip sollte es möglich machen, die Identität der Protagonistin (oder generell eines Menschen) in Grenzgebieten zu zeigen.
Der Wunsch, in binäre Strukturen einzudringen, lässt sich auch in Platons Text wiederfinden. Im letzten Teil des Fünften Buches hebt er hervor, dass die Meinung in der Mitte zwischen Unkenntnis und Erkenntnis liege. Damit stellt er klar, dass er sich im Zentrum eines Spektrums sieht, welches er aber nicht als starre Gerade erkennt, sondern als ein dynamisches Verhältnis zwischen den rechts und links liegenden Polen. Nur aus der Mitte heraus können Verbindungen zu beiden Enden des Spektrums überhaupt entstehen und sich anschließend immer neu definieren.
Eine bildliche Vorstellung, die wir im Seminar zu Platons Konzept entwickelt haben, ist die eines Mobiles. Der Schwerpunkt eines Mobiles liegt in der Mitte der verbundenen Elemente. Wird ein Element bewegt, bewegen sich alle anderen mit, auch der Schwerpunkt verschiebt sich. Der dynamische Aspekt kommt hier stark zum Tragen. Einzelne Teile des Mobiles können als Kategorien oder „Größen“ aufgefasst werden, die den Zusammenhang von Ethik und Geschlechterverhältnissen aufbauen.
Im Kontrast dazu bietet der lineare Ansatz von Aristoteles kein echtes Potenzial. Egal, ob an einen Zahlenstrahl mit eindeutigem Anfang gedacht wird oder an eine Gerade mit zwei entgegengesetzten Polen, die Richtung ist stets streng vorgegeben. Daher frage ich mich, inwiefern sich die Komplexität von Geschlechterfragen im Speziellen und ethischen Fragen im Allgemeinen mit Hilfe des von mir bereits gedachten Konstrukts eines Koordinatensystems modellieren lässt.
Die Erweiterung der eindimensionalen Geraden zu einem mehrdimensionalen Koordinatensystem wäre zwar gerechtfertigt, da so die Vielzahl an „Größen“ oder Kategorien mit denen argumentiert wird, eingeführt werden kann. Zum Problem werden nun aber die Punkte, die durch das Positionieren anhand der Achsen entstehen. Ein Punkt ist in diesem Konstrukt nichts Dynamisches, er ist festgelegt durch seine Koordinaten. Zwar können wir ihm immer neue Koordinaten zuweisen und uns so im mehrdimensionalen Raum bewegen, aber das entspricht nicht der Dynamik, wie sie in einem Mobile zu finden ist. Ich möchte daher zunächst die Punkte festhalten und eher als „Standpunkte“ verstehen, die wir im Bezug auf eine bestimmte Kategorie einnehmen. Sinnvoller wäre also, sich den Verbindungen zwischen diesen Punkten zuzuwenden. Diese können immer wieder in anderer Form entstehen, zu eigenen neuen Punkten werden, auf neue Art und Weise oder sogar verschwinden. Sie befinden sich also in der Mitte zwischen Sein und Nicht-Sein. Durch das Ausbilden dieser Verbindungen wird ein Raum innerhalb des Koordinatensystems, Beziehungsgeflechts, aufgespannt, in dem wir uns ethisch bewegen können. Das „Gerüst“ dieses Raums ist in gewisser Hinsicht dynamisch, da es nicht starr bleibt, sondern sich ständig neu gestaltet.
Die Weite des so aufgespannten Raums verändert sich außerdem mit der Wahl der Punkte. Ich kann einen sehr engen Bereich erzeugen, aber auch einen weiten. Dadurch kommt ein zweites Bewegungs-und Veränderungsmoment ins Spiel.
Den aufgespannten Raum könnten wir als ethischen „Handlungsspielraum“ interpretieren. Wir gestalten diesen anhand unserer Standpunkte im Bezug auf ethisch relevante Kategorien und bewegen uns bei Entscheidungen ständig in und mit ihm. In manchen Situationen wird es aber nötig sein, unseren Spielraum durch Überdenken unserer Standpunkte zu erweitern, in anderen Situationen ist es besser, ihn zu verkleinern. Möglich ist auch, dass durch das Handeln selbst neue Verbindungen entstehen und alte verschwinden. Diese Vorstellung kann leider nicht die ganze Komplexität der Zusammenhänge zwischen Kategorien, Argumentationsstrukturen, Geschlechterfragen und Ethik widerspiegeln, aber sie bietet ein vereinfachtes Schema, an dem die Anliegen von Platons Metaphysikentwurf verdeutlicht werden können.