Forum für Philosophie und Politik
Von Ursula Baatz
Die Gelegenheit, ganz real das Leben in einer Gesellschaft mit funktionierender Subsistenzwirtschaft auszuprobieren, und noch dazu in einer matrilinearen Gesellschaft, haben nur äußerst wenige Menschen. Die Ethnologin Kathrin Oester hatte dieses Privileg, in Zentralsumatra mit der Dorfgemeinschaft von Sungai Tenang ein Jahr lang leben zu dürfen; das – befristete – Leben in anderen Gesellschaften gehört bei Ethnolog_innen zum Beruf.
Der Einstieg in Indonesien erwies sich als schwierig – nicht bloß wegen der Sprache, die Kathrin Oester zunächst erlernen musste. Die Erfahrung, von außen in eine andere Welt zu kommen und dort einen Platz zugewiesen zu bekommen, ist nicht leicht zu verkraften. Denn um ein Jahr lang als Forscherin in dem Dorf leben zu können, musste Kathrin Oester von einer Familie adoptiert werden – nur so konnte sie mit den Frauen den Alltag teilen und dann auch dokumentieren.
Diese Frauen sind einerseits überzeugte Musliminnen, andererseits halten sie an den traditionellen Vorstellungen und schamanischen Gebräuchen des Dorfes fest, ebenso an der matrilinearen Tradition. Dass dies – auf den ersten Blick höchst widersprüchlich – zusammengeht, war ein Teil des „Lernprogramms“.
In Indonesien ist der Islam (mit rund 200 Millionen Anhänger_innen) zwar die größte, aber nicht die einzige Religion: Christentum, Buddhismus, Hinduismus und Konfuzianismus sind ebenfalls vom Staat anerkannte und gleichberechtigte Religionen. Die alten Stammesreligionen (von mehr als 300 Völkern) leben unter dem Dach dieser Fünf weiter, sind aber keine anerkannten Religionen.
Entscheidend sind im Dorf die Plätze in der Linie der Generationen, nicht die Individualität: Nicht der eigene Name, sondern die Matrilinearität gibt den Frauen „über ihre wechselnde Rolle als Töchter, Mütter, Großmütter, und Urgroßmütter hinweg Identität und Kontinuität.“ (S.83). Deswegen spricht niemand im Dorf in erster Person, sondern in dritter – und äußert Kritik nur unsichtbar, verpackt in scherzhaften Anspielungen.
Das Leben im Dorf ist einfach anders: Kochen auf Holzfeuer statt am Elektroherd, Baden, Waschen und Toilette im Fluss statt im Badezimmer, und Essen Zubereiten ohne ein Geschäft, in dem man einkaufen kann. Kathrin Oester und ihr Mann, der schon einmal längere Zeit in dem Dorf gelebt hatte, werden Teil der Dorfgemeinschaft – müssen es werden. Das bedeutet Teilnehmen an der Arbeit am Feld, am Essen und am Sozialleben. Es sind „rhetorische Netze“, die die Dorfgemeinschaft und vor allem die Frauen um „Trin“, wie die Ethnologin im Dorf heißt, legen, unkalkulierbar, unkontrollierbar. Europäische Direktheit genauso wie Stummheit sind hier irgendwie fehl am Platz.
Unter den Frauen ist Sex und Erotik ein allgegenwärtiges Thema, aber immer in indirekten Annäherungen, scherzhaften Anspielungen, metaphorischer Interpretation von Alltagsdingen, „durch ständiges Unterlaufen von vordergründigen Wortbedeutungen“ (S. 147). Auch Konflikte werden nicht direkt benannt, sondern indirekt: Wer jemanden kritisieren will, beginnt den Satz mit „ich schäme mich“ – für sich selbst und die Kritisierten. Zudem gehört es zum guten Ton, sich selbst herabzusetzen, auch wenn der Augenschein das Gegenteil beweist – wenn also zum Beispiel Kinder und Reisfeld gut gedeihen.
Geld spielt hier kaum eine Rolle, denn Straße und Stromleitung reichen noch nicht ins Dorf, es gibt kaum etwas zu kaufen und kein Fernsehen. Was zählt, ist der Tausch und die Formen des Tauschens. Umsonst gibt es hier jedoch nichts – die Frauen arbeiten im Tagetausch gemeinsam auf den Feldern, die jeweils privates Eigentum sind, oder tauschen miteinander Essbares und Brauchbares. Die Männer gehen dann schon einmal in die Kreisstadt zum Markt oder suchen in den Wäldern nach Wild, das sie essen, aber auch zu Geld machen können.
Die Beziehungen im Dorf sind freundschaftlich, ja, aber sie sind immer auch geschäftlich: Es ist ein Beziehungsnetz, das ein solides und zugleich fluides Machtgefüge ist, bestimmt durch „den zähflüssigen Leim des Adat“ (S.150), die traditionellen Normen der überlieferten Lebensweise.
Die Neugier der Leute ist ungebremst und in Ermanglung von Unterhaltungselektronik ist alles, was abweicht, anders ist als sonst oder irgendwie die Neugier erweckt, das Ziel unendlicher Fragen. Öffentliches und Privates, Familie und Politik sind nicht getrennt. „Dagegen gibt es ein Sich-Abschließen und die Geheimhaltung, ein Verstecken und Sich der Kontrolle Entziehen – trickreiche Auflehnung gegen die Autoritäten und den Anspruch lückenloser Kontrolle.“
Und Oester erzählt: „Es mutet oft eigenartig an, wenn Rasim, der geachtete Schamane, oder Dasminah als würdevolle Mutter sich wie kleine Kinder auf Umwegen aus dem Dorf stehlen, wenn sie sich der allgegenwärtigen Kontrolle entziehen wollen.“ (249) Wer in diesem Gefüge lebt, gehört lebenslang und ohne Alternative dazu. Denn auch wer das Dorf verlässt, verbleibt in dem Beziehungsgefüge von Grund und Boden, der Basis der Matrilinearität, und dem „rhetorischen Netz“ der Geschichten und Gespräche.
Kathrin Oesters Buch ist aus vielerlei Gründen lehrreich, nicht zuletzt deswegen, weil sie nie in die Position der wissenden Ethnologin verfällt, sondern sich selbst und ihre eigenen Ambivalenzen als Teil des Geschehens darstellt und reflektiert. Der Einstieg in eine so ganz andere Lebensform ist kein Honiglecken, und es sind keineswegs romantische Geschichten aus einer besseren Welt, die hier erzählt werden.
Nach dem Abschied, am ersten Abend des Rückwegs nach Europa resümiert sie, erschüttert vom Abschied, aber auch mit einem Gefühl von Erleichterung: „Das starke Band der Gefühlsbeziehungen, das Trins Leben in Tanahjauh zum Leuchten brachte und sie ebenso oft zu ersticken drohte, beginnt sich zu lockern, und traurig atmet sie auf.“ (S.280).
Als Kathrin Oeser sechs Jahre später wieder das Dorf besucht, ist vieles anders geworden. Die Straße hat das Dorf erreicht, die Leute bauen Gemüse im Familienverband für den Markt in der nahen Provinzhauptstadt, im Tagetausch arbeiten nur noch die Armen. Die strikte Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern hat sich aufgelöst, und das Land steht nicht mehr allen zur Verfügung, sondern ist knappe Ressource geworden, die von großen Holzfirmen ausgebeutet wird.
Manche aus dem Dorf verdienen dran, und die anderen sehen hilflos zu. Der Islam und die Ordnung der Männer gewährt den Anschluss an die kosmopolitische Welt außerhalb des Dorfes, doch ohne die alten religiösen Werte zu gefährden, wie Oester betont; und der neue, individualistische Lebensstil gibt neue Freiheiten und Konsummöglichkeiten. Das, was an dem alten Leben wertvoll war, kann „Trin“ nur noch mit Geschichten am Leben halten – Erzählungen vom Lachen und den Gesängen der Freundinnen am Reisfeld, den Streifzügen des Tigerfängers durch den Wald und nächtliche Liebesgesänge.
Kathrin Oesters Buch ist ein Dokument einer vergehenden Welt, der Welt der Stammesgesellschaften. Es zeigt deutlich die Stärken und die Schwächen dieser aussterbenden Lebensformen. Anders als Jared Diamonds Buch „Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können“, das aus dem „Über-Blick“ des Fachmanns spricht, bringt sie die Leserinnen und Leser nahe heran an die Dorfwelt von Sungai Tenang.
Die Nähe der Beziehungen, in der die Menschen in dem Dorf leben, ist sowohl die Grundlage als auch das Ergebnis der Subsistenzwirtschaft. Subsistenz braucht, um zu funktionieren, eine territorial und personenmäßig überschaubare Situation, das wird deutlich am Beispiel Sungai Tenang. Die dafür nötige soziale Nähe ist durchaus ambivalent – denn sie setzt Regeln voraus, in der individuelle Lebenssituationen nicht wichtig sind. Persönliche Freiheit und individuelle Entwicklungschancen treten zurück zugunsten der Stabilisierung der Rollen im Austausch von Arbeit und Gütern, der Basis der Subsistenz.
Die Frage, die sich mir bei der Lektüre des Buches immer wieder aufdrängte, war: Ist es möglich, diese Nähe der Beziehungen zu verbinden mit persönlicher Freiheit und dem Anspruch, „selbst zu denken“? Grade weil Kathrin Oester sich selbst einbringt und ihre Situation reflektiert, werden diese Fragen sehr deutlich. Schon deswegen zahlt es sich aus, das Buch zu lesen – zudem es auch eine Liebeserklärung an eine vergangene Welt ist, in aller Ambivalenz.
Kathrin Oester: Ramadan im Regenwald. Aufzeichnungen aus einer matrilinearen Gesellschaft Zentralsumatras. Edition Trickster im Peter Hammer Verlag, Wuppertal 2011, 293 Seiten, 22 Euro.
Das hört sichn interessant und erschreckend an. Ich werde mir das Buch bestellen.
Aenne
hmhm, subsistenzwirtschaft ist tatsächlich eine ambivalente sache. einerseits ist es gut, autark zu sein und so viel wie möglich von dem, was man braucht, selbst anbauen zu können. es kann unabhängigkeit von cash-crops und unsicheren weltmarktpreisen bedeuten. andererseits ist man bei allem, was man nicht selbst herstellen kann, ganz schön aufgeschmissen. was soll man tun, wenn man z. b. medizinische hilfe benötigt und sie weder selbst leisten noch bezahlen kann?
und solche abgeschlossenen gesellschaften sind auch oft sehr auf sich selbst fixiert und zum teil auch sehr begrenzt und geschlossen … oder anders ausgedrückt: traditionell und konservativ. häufig bestimmen die etablierten, was richtig und was falsch ist. der anpassungsdruck kann unter umständen auch sehr hoch sein. man muss aufpassen, dass man das nicht romantisiert. aber das tut die autorin offenbar nicht, was ihre aufzeichnungen sicher lesenswert macht.
vielen dank für den morgenausflug,
helivoss