Forum für Philosophie und Politik
Von Diana Engelhardt
Babys sind immer ein Wunder, alle.
Ich kam als ein gesundes und heiteres Baby zur Welt. Soviel ich weiß, wurde ich liebevoll empfangen. Doch dann lief es nicht so gut, nicht nur für mich. In dem Land, in dem ich mein Leben begann, herrschten Krieg, Mord und Totschlag, sowie andere Entbehrungen. Ich erlitt Hunger und überstand viele Krankheiten, was auf einen starken Lebenswillen schließen ließ. Aber dann überfiel mich der Poliovirus.
Ich bemerkte am wenigsten von alledem, lebte einfach weiter und behielt mein heiteres Wesen. Für meine Eltern war es schwerer. Sie litten unter meinem sichtbaren Handicap, und sie schafften es, mich trotz aller Widrigkeiten der Nachkriegszeit operieren zu lassen.
Dieser ärztliche Eingriff war von Erfolg gekrönt. Meine Eltern betrachteten es als großes Glück, und ich war stolz, weil ich viel Aufmerksamkeit bekam und nebenbei lernte, dass Korrekturen möglich und wünschenswert sind. Aus meiner frühen Kindheit sind also kaum Bilder von körperlichen Einschränkungen bei mir gespeichert, vielmehr kam ich mir in der Schule als ausgezeichnet vor. Die Mitschülerinnen besuchten mich während meiner Auszeiten, brachten die Hausaufgaben, und die Lehrerin freute sich über meine Fortschritte.
Später empfand ich es als positiv, vom Turnen befreit zu sein und stattdessen lesen zu dürfen. Heute würde ich sagen, ich machte aus der Not eine Tugend. Diese Kunst verfeinerte ich, denn je weniger ich sportlich mithalten konnte, umso mehr bemühte ich mich, durch kopflastige Leistungen zu glänzen.
In der Zeit der Pubertät ging ich dazu über, den sichtbaren Schaden am Bein zu verstecken. Das gelang mir gut, denn Großstadtmädchen trugen keine Röcke mehr, sondern Jeans. Ich trug aber beileibe keine Bluejeans, nein, es mussten schon rote sein. Schließlich war ich etwas Besonderes, dachte ich. Es wurde wichtig für mich, nicht nur so wie alle anderen zu sein, sondern wenn möglich besser als sie. Gerade wegen meines Schönheitsfehlers wollte ich austesten, wie anziehend ich war.
Dieser von mir selbst verursachte Leistungsdruck hat mir im Laufe meines Lebens viel Mühe bereitet. In allen Bereichen wollte ich beweisen, wie frei von Einschränkungen ich angeblich war. Alles ist machbar, war meine Maxime. Oft überanstrengte ich mich, aber jedes Mal befahl ich mir, die Überforderung wegzustecken.
So schaffte ich es, trotz aller Schwierigkeiten über den zweiten Bildungsweg das Abitur zu erlangen und zu studieren. Dann musste ich das Studium unterbrechen, weil ich schwanger wurde. Ich heiratete und hatte schließlich zwei Kinder. Später verkraftete ich auch eine Scheidung und wurde Lehrerin, sodass ich meine Kinder selbständig ernähren konnte. Dann heiratete ich noch einmal. Ich hatte mir mein Glück ertrotzt, dachte ich.
In meiner Lebensmitte kam es aber immer häufiger zu starken Erschöpfungszuständen. Heftige, unerklärliche Schmerzen begannen mich zu quälen. Kein Arzt wusste Rat, alle Behandlungsversuche halfen nicht weiter oder verschlimmerten sogar noch die Beschwerden. Besonders Schmerzmittel bescherten mir heftige Nebenwirkungen bis hin zu schweren Depressionen. Meine Leistungsfähigkeit wurde zunehmend eingeschränkt, die Menschen in meinem Umfeld fühlten sich überfordert und behandelten mich oft wie eine Simulantin. Denn äußerlich zeigten sich keine auffallenden neuen Symptome, die mir Verständnis oder Mitgefühl sichern konnten.
Ich war mittlerweile eine „chronische Schmerzpatientin“ und zog mich immer mehr zurück. Ich musste mein Deputat im Schuldienst auf ein Minimum reduzieren, deshalb durfte ich keine Klasse mehr führen und fühlte mich abgeschoben, da ich nur in so genannten Nebenfächern Stunden halten konnte, die nicht meiner Begabung entsprachen.
Trotzdem oder deshalb vergrößerte sich mein Arbeitsaufwand, aber die Anerkennung verringerte sich. Ich suchte nach Lösungen. So erwarb ich unter großer Anstrengung ein Zertifikat, das mich zur Erwachsenenbildung berechtigte. Ich ging vorzeitig in Pension, begann zu schreiben und mein Wissen und meine Erfahrung in Seminaren, die ich je nach meinen Möglichkeiten anbieten konnte, weiterzugeben.
Ich ordnete mein Leben neu, ich schenkte der Krankheit und ihrer Behandlung mehr Zeit. Aber nach jedem therapeutischen Fehlversuch rutschte ich tiefer in Mutlosigkeit: Meine Anstrengungen wurden immer größer, die Erfolge kleiner. Die Arbeit, die mir bis dahin immer Erfüllung und Freude gewesen war, gestaltete sich zunehmend schwieriger. Unternehmungen, die die notwendigen sozialen Kontakte hätten stärken können, schränkte ich notgedrungen ein, ich trieb unaufhaltsam in die Isolation. Meine Kräfte ließen stetig nach, Erschöpfung und Schmerz hinderten mich oft an der Bewältigung des Alltags.
Doch ich schrieb immer häufiger, und so gelang es mir, der jeweiligen Situation Sinn abzugewinnen und Frust abzubauen.
Heute habe ich verinnerlicht: Ich bin behindert. Das kann man sehen, sei es an meinem Gang oder weil ich den Rollstuhl nutze, um besser und schmerzfreier voranzukommen. So versuche ich, diese Situation als Erfahrungsgewinn zu nutzen und frage mich: Was ist das eigentlich, eine Behinderung?
Allen sichtbaren Behinderungen ist gemeinsam, dass sie eine Schädigung der körperlichen Substanz darstellen. Und auch bei den so genannten geistigen Behinderungen ist das Gehirn des betroffenen Menschen geschädigt, also auch ein Körperorgan – und nicht der eigentliche Mensch.
Je nach Glaubensausrichtung sprechen wir von der Persönlichkeit oder der Seele eines Menschen und stimmen darin überein, dass Würde allen zukommt. Den Körper bezeichnen manche als Wohnung, die der Mensch für die Spanne seines Lebens – von wem auch immer – bekommen hat. Doch im Körper allein den Menschen zu sehen, ist bei allen Glaubensvorstellungen unüblich. Darum ist es mir wichtig, zu erkennen, dass jeder Mensch unabhängig von der äußeren Erscheinungsform einen Wesenskern hat, einmalig ist, und auf eigene Art alle Empfindungen von Freude und Liebe bis hin zu Verzweiflung, Schmerz oder Angst erlebt. Der Mensch mit dem geschädigten Hirnorgan oder der mit den gelähmten Gliedmaßen bleibt unsere Schwester beziehungsweise unser Bruder.
So versuche ich, mich immer besser einzureihen in diese vielfältige Gemeinschaft. Und zwar allmählich, weil die Erkrankung der Post Polios stetig und unaufhaltsam fortschreitet. Mag die Behinderung auch noch so einschränkend werden, in jedem Fall ist sie eine Aufgabe, die sich den Betroffenen selbst und auch ihrer Umgebung stellt. Sie ist, wie jede Aufgabe, eine Chance, an ihr zu wachsen.
Warum bewerten wir sie dann nicht positiver? Die so genannten Behinderten sind nur sichtbarer betroffen als andere, denn kein Mensch ist vollkommen. Alle haben irgendein Handicap mitgebracht in ihr Dasein, an dem sie zu reifen haben. Es handelt sich also nur darum, wie wir mit demselben umgehen. Deshalb frage ich mich: Was hindert uns, unbefangener mit unser aller Behinderungen umzugehen?
Immer öfter sitze ich jetzt im Rollstuhl und fahre durch die Welt. Es ist keine Rede mehr von starken Auftritten. Die Menschen, denen ich begegne, schwanken meist kurz zwischen Wegblicken und mitleidigem Hinterherschauen oder wohlwollendem zur Hilfe Eilen. Manche ignorieren meine Schwierigkeiten und gehen weiter. Offensichtlich löse ich unsichere Empfindungen aus.
Ich erinnere mich an diese Schrecksekunden, die auch mich früher am selbstverständlichen Handeln zur rechten Zeit gehindert haben. Nun erlebe ich diesen kleinen Stich in der Herzgegend selbst, wenn jemand in die Weite schaut, zu dem ich gerade Blickkontakt aufnehmen wollte.
Manchmal nehme ich mir vor, mich nicht entmutigen zu lassen. Voller Elan peile ich dann zum Beispiel eine Gruppe an, die im Gespräch zusammen steht, und versuche, mich unauffällig einzugliedern. Was mit Rollstuhl nicht einfach, um nicht zu sagen: unmöglich ist. Wenn ich mich dann mit einem Gesprächsbeitrag einbringe, ernte ich oft entgeisterte Gesichter. Sogar meine mit Witz angebrachten Anmerkungen lösen nur Betroffenheit aus. Niemand steigt auf das Thema ein, betretenes Schweigen allerseits. Ich schrumpfe förmlich, fühle mich weder als Männlein noch als Weiblein, schon gar nicht als kompetente Gesprächspartnerin. Reduziert auf meine funktionsunfähigen Füße eben. Statt eines lockeren Spruchs, der die Spannung lösen könnte, versuche ich einen unauffälligen Abgang, was aber wieder ein Ding der Unmöglichkeit ist. Ich murmele: „Tschüss also!“, höre noch: „Alles klar!“ und denke: „Schön wär´s.“
Nun befinde ich mich mittlerweile in einem Alter, dem leider nur irrtümlicherweise Gelassenheit, Klarheit und Weisheit zugeschrieben werden. Zumindest kann ich bestätigen, dass sich diese Eigenschaften bei mir nicht von alleine einfinden. Also wieder einmal bedeutet das: Arbeiten, stets dran arbeiten, wie schon so oft. Und da meine Leistungskraft nachlässt, heißt es für mich nicht nur, immer mehr Hilfe in Anspruch zu nehmen, sondern: bescheiden sein, verkleinern, entrümpeln, und zwar in inneren und äußeren Lebensbereichen.
Viel zu viel erscheint mir als Ballast, es ist kaum zu glauben, was sich so alles ansammelt in einem Leben! Ich muss mir also überlegen, ob ich mich mit der Pflege all dieser Dinge noch belasten soll. Viele sind zu bloßen Staubfängern geworden. Ganz zu schweigen von komplizierter gewordenen zwischenmenschlichen Beziehungen. Doch diesen Bereich verkleinere ich dann später, allmählich, aber unaufhaltsam.
Abends bei einem Gläschen Rotwein, das mir die durch solche Gedankengänge entschwundene Gelassenheit wiederbringen soll, denke ich an all die Erfahrungen eines langen Lebens. Und ich verstehe plötzlich, dass Erlebnisse, die mir Erkenntnisse und Einsicht brachten, sich als kostbarer erwiesen haben als alles, was ich käuflich erwarb. Die Bilder im Kopf werden mir im Laufe der Zeit immer wertvoller, und ich definiere sie jeweils neu, wenn ich sie erzähle. Sie verändern und vervielfältigen sich sogar, na also!
Und jetzt habe ich tatsächlich den Eindruck, dass sich die ersehnte Weisheit des Alters endlich auch bei mir zumindest anmelden könnte. Morgen gleich bitte ich verlässliche Menschen darum, mir entsprechende Müllsäcke zu bringen. Hoffentlich gelingt es mir, mich von einigem Ballast zu trennen. Welche wunderbare Klarheit solcher Zwang zum Reduzieren bringt! Nicht nur in der Wohnung!
Weisheit aus anderen Kulturkreisen bereichert uns ja oft. Beispielsweise hörte ich neulich ein arabisches Sprichwort, das lautete: „Die Gesundheit ist eine Krone auf dem Haupt der gesunden Menschen, die nur der Kranke sieht.“
Welch großartige Beobachtung! Ja, wie ich diese Krone in all ihrer Pracht und Schönheit bewundere und diese Herrscher in Raum und Zeit. Sie können ihre Spielräume jederzeit optimal nutzen. Aber wie ich leide, wenn dies Kleinod nicht wahrgenommen, nicht gepflegt oder gar unachtsam behandelt wird! Ich könnte aus der Haut fahren, doch niemand gibt mir das Recht, die Krone anderer zu hüten.
Ganz zwecklos scheint es auch, sie auf ihr prächtiges Gut aufmerksam zu machen. Es ist nicht zu glauben, aber niemand kann es verstehen, wenn ich anerkennend darauf hinweise. Vielmehr begegne ich dem Unverständnis der Glücklichen, und meist werden der Besitz dieses Schmuckstücks und die Verantwortung dafür abgestritten.
Vor allem weil man ja – Krone hin oder her – so viele andere Probleme hat. Da habe ich es doch gut, schließlich brauche ich in keiner Tretmühle mehr zu rackern. Nicht mal früh aufstehen muss ich, niemand wartet schließlich auf mich, nicht wahr, das ist doch wunderbar, heißt es. Ich bin raus aus dem Erwerbsleben, toll. Leider bin ich auch raus aus dem ganz normalem Leben und dem Wahrnehmungsfeld der arbeitenden Mitmenschen, die ja auch ihre Freizeitaktivitäten angestrengt durchziehen.
Na ja, da bleibt mir nur übrig, mein verbliebenes winziges Diadem so recht nach Kräften aufzupolieren und als mein kostbarstes Stück zu tragen, denn mit begrenzten körperlichen Kräften und Schmerzen zu leben, ist schließlich auch eine Kunst. Und das ist es nicht allein, denn ich bin mir meines Schmuckstücks durchaus bewusst, wenn es denn glänzt, und ich versuche auch Vorteile, die es mir bietet, nach Kräften zu genießen. Leider ziemlich häufig für mich allein. Manchmal auch mit anderen Betroffenen, aber allzu oft nicht mehr mittendrin, sondern meist außen vor.
Wer nach der üblichen Werteskala des Alltags etwas leistet, wird nicht nur bewundert, nein, es wird ihm oder ihr auch viel nachgesehen. So jemand kann sich eher mal was herausnehmen und ist er gereizt, übellaunig, zerstreut oder gar lieblos, er hat immer noch einen Bonus, denn er ist ja tüchtig.
Wer aber nach dieser Norm eher untüchtig ist, so wie ich mittlerweile, sollte besser freundlich und zuvorkommend sein, unauffällig und liebenswürdig. Ja, es stünde ihr gut an, dankbar für jegliche Hilfestellung zu sein, die ein Leistungsträger ihr gewährt, falls der dazu Lust hat. Ist eine nicht nur untüchtig, sondern auch hinderlich für die Schnellen, die Tüchtigen, dann sollte sie stets ein gewinnendes Lächeln parat haben, das ist absolut nützlich. Und geduldig sollte sie sein, das ist jederzeit angebracht.
Betroffene lernen frühzeitig, den Grad der Abhängigkeit vom Wohlwollen der anderen richtig einzuschätzen. Auch haben sie ein sicheres Gespür für aufrichtiges Verhalten. Woher ich das weiß? Nun, ich bemühe mich, all diese Einsichten im Schnelldurchgang umzusetzen.
Ich hielt mich früher für unabhängig und war stolz auf meine Selbständigkeit. Tüchtig war ich auch. Heute gebe ich ab von meiner Unabhängigkeit, und zwar täglich mehr. Trotz allem bin ich dieselbe Persönlichkeit geblieben: noch immer viel zu oft vorlaut, frech und ungeduldig. Auch stehe ich gern im Rampenlicht. Früher wurde mir das meist nachgesehen, doch nun wird eher weggeschaut.
Ich gehe also öfter in mich, lerne, in meinem Umfeld die Spreu vom Weizen zu trennen, setze andere Prioritäten und versuche, mir möglichst viel Selbständigkeit zu erhalten. Deshalb sollte ich mich über den längst überfälligen Lernprozess freuen. Und zwar auf keinen Fall nur aus Nützlichkeitserwägungen heraus, sondern wegen der neuen Sichtweise, die eine Bereicherung ist. Meine Bewunderung gilt all jenen, die schon früher solch wesentliche Dinge gelernt haben. Aber was soll´s – ich bin ja lernfähig.
Rasch, wendig und spontan bin ich aus vielen Gründen schon lange nicht mehr. Dafür übe ich mich in Dankbarkeit, sehe Aufmerksamkeit und Freundlichkeiten, die mir früher entgangen sind, und bemühe mich um Liebenswürdigkeit. Doch wo sind Übermut und vor allem spontane Unternehmungslust geblieben?
Es ist traurig, aber wahr, dass lang andauernde Schmerzen die Persönlichkeit verändern. Denn natürlich ist es anstrengend, die Qualen zu verbergen oder zumindest herunterzuspielen, um unbeschwert kommunizieren zu können. Das wird aber erwartet, weil niemand andauerndes Klagen aushalten kann.
Da der schmerzgeplagte Mensch aber nicht unbeschwert, sondern sehr beschwert ist, kostet solch ein Kontakt jedes Mal große Kraftanstrengung. Außerdem macht er ungeduldig, denn die anderen klagen ja häufig über Dinge, über die zu jammern eine Schmerzpatientin oft als unverhältnismäßig empfindet. Das sollte sie tunlichst nicht äußern, doch hat sie schlicht und einfach zu wenige Energiereserven, um sich aufmerksam auf Leiden anderer einzulassen.
So ziehen sich viele Betroffene immer mehr zurück in ihre Schmerzhaft – obwohl sie sich nach Zuwendung sehnen. Auch aus anderen Gründen, zum Beispiel wegen der Nebenwirkungen mancher Medikamente, beginnen sie sich einzuigeln, werden im Lauf der Zeit immer vorsichtiger, kleinmütiger und ängstlicher. Pläne werden nur noch unter Vorbehalt gemacht, denn wer weiß, ob man sie durchführen kann während einer Schmerzattacke. Und schließlich fürchtet man, als unzuverlässig und wehleidig zu gelten, und wahrscheinlich wird der behinderte Mensch allmählich so. Schmerz muss in jedem Fall alleine ausgehalten werden.
Natürlich werde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Denn entweder gebe ich endgültig auf, oder ich lebe weiter und nehme teil am Leben. Vielleicht zeigen sich neue Möglichkeiten oder gar andere Dimensionen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, so heißt es zumindest.
Vielleicht ist es auch nur die Angst vor der letzten Konsequenz. Wie dem auch sei, die große Kraft des Lebens ist unglaublich, sie wirkt zuverlässig. Doch das Versäumte, von der widrigen Realität Verweigertes, baut sich oft zu einer riesigen Herausforderung auf. Unvermeidlich bleiben wir als Behinderte hinter unseren Möglichkeiten zurück. Immer wieder und zwangsläufig. Die Fülle des nicht gelebten Lebens übertrifft den kleinen Bereich des wirklich gelebten.
Man/frau könnte hadern und hadert oft. Doch jeder Tag der Enttäuschung fügt dem ungelebten Leben einen weiteren hinzu, die Lebenszeit wird dadurch entwertet. Das ist dumm, deshalb ist es gescheiter, die Möglichkeiten, die noch bleiben, wahrzunehmen. Es ist Bereicherung, aber es strengt an, es erschöpft immer mehr.
Doch wie sollen wir sonst lebendig bleiben? Ich jedenfalls muss mich einbringen, ich äußere mich gern, aber wer hört mir zu? Ich bin doch noch da, und meine Talente sind vorhanden wie eh und je. Ich weiß genauso viel wie früher, eher noch mehr, denn ich lerne intensiver und unter Leidensdruck. Ich habe viel mehr Zeit, weiß aber manchmal mangels Möglichkeiten nicht, was ich damit anfangen soll. Ich sitze wie auf einer Wartebank, und um aufzustehen und etwas zu unternehmen, dazu fehlt oft die Kraft. Und der Elan, der in schriftliche Aufbrüche fließt, verpufft oft, denn wer will schon davon hören oder lesen? Depression oder Zorn, Akzeptanz oder Verzweiflung wechseln sich chaotisch ab. Je nach Tagesform hilft Verdrängen, manchmal eher die Auseinandersetzung.
Also, frage ich mich: Ist es da möglich, die Hoffnung nicht aufzugeben? Natürlich.
Gottseidank habe ich endlich gelernt, wie ich mit meiner Behinderung leben muss, habe gelernt, wann ich mit ihr rechnen sollte – und wie ich sie überlisten kann. Manchmal geschieht es sogar, dass ich sie begrüße, wenn sie sich als Freundin nähert und sich schützend vor mich stellt.
Sie hat mich treu begleitet durch mein gesamtes Leben hindurch. Unzertrennlich, wie wir naturgemäß sind, zusammengewachsen in Freud und Leid, haben wir uns aneinander gewöhnt. Deshalb kokettiere ich hin und wieder mit ihr, aber nur ein wenig. Trotzdem musste ich immer all ihre Launen, auch die boshaften, einschränkenden, schmerzhaften, hinnehmen und ertragen.
Je älter ich werde und je mehr sie mich mit Beschlag belegt und mich immer stärker einengt, umso geneigter bin ich, auch ihre guten Seiten zu sehen. Schließlich verschafft sie mir viel Freiraum und Mußestunden. Und es liegt schließlich an mir, was ich daraus mache. Da ich lange genug mit meinem Schicksal gehadert habe, bemühe ich mich nun, sie einfach zu nutzen, als geschenkte Zeit und als Erfahrungsgewinn.
So sage ich endlich einmal Dank, ein Dankeschön der Krankheit, die Teil meines Lebens wurde.
Ich möchte an dieser Stelle meinen Respekt aussprechen. Nicht weil Sie behindert sind (das ist nicht meine Art). Denn wie Sie schon vortrefflich festgestellt haben, dass sind wir alle – mehr oder weniger. Nein, mein Respekt gilt dem hervorragenden Text und den wunderbaren Beobachtungen ihres Lebens, die Sie mit uns geteilt haben. Dafür bin ich ihnen sehr dankbar. Weil es bei weitem keine Selbstverständlichkeit ist. Und weil vermeindlich super gesunde Menschen viel zu oft noch nicht einmal einen Bruchteil dessen zustande bekommen. Und last but not least, weil es mir sehr viel Spaß bereitet hat, ihren Text zu lesen. Ich wünsche ihnen, viel Kraft und Freude auf ihrem Weg.
– Ein Bruder im Geiste
Was immer man dazu sagt oder schreibt: kann es die Schmerzfrau je erreichen? Haben die Schmerzen sie so eingeschlossen, dass andere Menschen nicht mehr wahrgenommen werden können? – Wo sind die Kinder? Wo sind dir früheren Partner, die Freundinnen? Hat der Schmerz alle Kraft genommen, Kontakte zu erleben, Austausch zu ermöglichen, wenigstens für kurze Zeit?
Der Text wirkt sehr distanziert….anonym, zu allem , auch zu sich selbst.
Ein Mensch, unerreichbar auf einer Schmerzinsel???
Das tut weh!!!
Else Shamel
Liebe Diana Engelhardt,
vielen Dank für Ihren Bericht, ich leide auch an Polio und nun am Post Polio Syndrom. So wie Sie schreiben, das kenne ich so gut, auch dieses nicht Aufgeben, obwohl es Tage gibt da wünsch ich mir aufzugeben. Mich hat mein Mann mach dreißigjähriger Ehe im Stich gelassen, im Mai war die Seichung und ich habe so große Angst, vor dem was noch kommen mag, vor der Einsamkiet besonders, vor der Armut, davor keine geeignete Wohnung zu finden. Vor dem auf andere Menschen angewiesen zu sein, auch ich kann nicht mehr körperlich Arbeiten. ABER. Ich habe drei Söhne auf die kann ich mich hoffentlich verlassen wenns ganz dick kommt und ich bin die Geschichtenfrau geworden. Erzähle Märchen Geschichten und Gedichte, stehe/sitze vor Menschen und bringe ihnen die Träume und den Glauben an das Gute, an Wunder und an die immerwährende Hilfe die aus Gottes liebenden Händen strömt. Das heißt nicht das ich immer glücklich bin, ich wünsche mir zu einer Familie zu gehören, aber die grauen Tage wechseln sich ab mit hellen Tagen. Und im Grunde meines Herzens bin ich zuversichtlich dass die letzten Jahre meines Lebens, ich bin heuer 60 Jahre alt geworden, die besten meines Lebens werden.
Wünsche Ihnen nun viele gute Begegnungen und den Segen Gottes für Ihr Leben
Edeltraud Forster
Als -nun erst/schon seit über 20 Jahren- anders Mitbetroffene (MS)
las ich diesen langen Bericht mit kennender Aufmerksamkeit,
und ich bewunderte diese ausführliche Schilderung.
Ich glaube, so viele Gedanken habe ich bei mir nicht gemacht.
Und ich fragte mich warum nicht;
denn Grund hätte es -wie hier trefflich nachzulesen ist- genug gegeben.
Ich glaube, es liegt daran,
dass ich das meiste des Geschilderten zwar durchaus kenne,
es aber als Erleben anders wahrnehme,
und d.h. eben auch, vieles davon für mich letztlich anders be”werte”.
Diese andere “Brille” hab ich schon von meiner Mutter mitbekommen;
nicht für kommende “scheren Zeiten”, sondern einfach fürs Leben.
(Ich kann mich nicht erinnern, dass meine Mutter da unterschieden hätte.)
Heute aber muss ich des öftern die LebSchärfe prüfen und wieder einstellen.
Dann lese ich diesen Satz hier “alllle sind behindert – mehr oder weniger”,
mit meinen LebAugen so: “alllle sind behindert, nur jeweils ganz eigen bzw. anders”.
Damit kann ich in Frieden leben (und -so hoff ich- auch sterben).
Fidi Bogdahn
Heute habe ich wiederholtes Mal Ihren in schöner Sprache ausgedrückten Bericht Diana gelesen. Ich bin auch ein selbsternannter Edelstein und versuche durch kopflastige Leistungen zu glänzen; habe auch als Kleinkind damit angefangen und will damit nicht aufhören! Irgendwann wurde bei mir MS diagnostiziert (wie ich die Fachausdrücke des Onkel Doktors im Patriarchat liebe grr…: ca. 60 % der westlichen Bevölkerung – wie ich in einer Broschüre bei der MS-Selbsthilfegruppe gelesen habe, birgt diese Krankheit in sich, ohne davon Kenntnis zu haben), sodass ich die Rollstuhl-Bilder als möglich vor Augen habe. Rote Hose habe ich in meiner Jugend nicht getragen. Ich habe schon anderweitig um Nachsehen gesorgt. Wenn ich heute bei der Arbeit an der Selbst-Glorifizierung schräge Reaktionen meiner Umgebung wahrnehme, sage ich mir: Mein Schmuckstück sitzt immer noch fest! Und leider ist es wirklich auch so, dass aus dem Nachsehen ein Weg-Schauen wird. Und trotzdem…
„ Natürlich werde ich die Hoffnung nicht aufgeben. Denn entweder gebe ich endgültig auf, oder ich lebe weiter und nehme teil am Leben. Vielleicht zeigen sich neue Möglichkeiten oder gar andere Dimensionen. Die Hoffnung stirbt zuletzt, so heißt es zumindest.
Vielleicht ist es auch nur die Angst vor der letzten Konsequenz. Wie dem auch sei, die große Kraft des Lebens ist unglaublich, sie wirkt zuverlässig. Doch das Versäumte, von der widrigen Realität Verweigertes, baut sich oft zu einer riesigen Herausforderung auf. Unvermeidlich bleiben wir als Behinderte hinter unseren Möglichkeiten zurück. Immer wieder und zwangsläufig. Die Fülle des nicht gelebten Lebens übertrifft den kleinen Bereich des wirklich gelebten.
Man/frau könnte hadern und hadert oft. Doch jeder Tag der Enttäuschung fügt dem ungelebten Leben einen weiteren hinzu, die Lebenszeit wird dadurch entwertet. Das ist dumm, deshalb ist es gescheiter, die Möglichkeiten, die noch bleiben, wahrzunehmen. Es ist Bereicherung, aber es strengt an, es erschöpft immer mehr.
Doch wie sollen wir sonst lebendig bleiben? Ich jedenfalls muss mich einbringen, ich äußere mich gern, aber wer hört mir zu? Ich bin doch noch da, und meine Talente sind vorhanden wie eh und je. Ich weiß genauso viel wie früher, eher noch mehr, denn ich lerne intensiver und unter Leidensdruck. Ich habe viel mehr Zeit, weiß aber manchmal mangels Möglichkeiten nicht, was ich damit anfangen soll. Ich sitze wie auf einer Wartebank, und um aufzustehen und etwas zu unternehmen, dazu fehlt oft die Kraft. Und der Elan, der in schriftliche Aufbrüche fließt, verpufft oft, denn wer will schon davon hören oder lesen? Depression oder Zorn, Akzeptanz oder Verzweiflung wechseln sich chaotisch ab. Je nach Tagesform hilft Verdrängen, manchmal eher die Auseinandersetzung.
Also, frage ich mich: Ist es da möglich, die Hoffnung nicht aufzugeben? Natürlich.“
Liebe Diana Engelhardt
Vielen Dank für diesen klaren Bericht. Die Rollstuhlgeschichte kann ich aus eigener Anschauung bestätigen. Nach einem Unfall auf einer Arbeitsgruppenreise musste ich die letzten Tage im Rollstuhl miterleben. Fassungslos war ich dass die “lieben” Kollegen nicht mehr mit mir, sondern über meinen Kopf hinweg mit meinem Schieber sprachen. Dabei war lediglich, was fast alle miterlebt hatten, mein Bein in Gips, nicht mein Kopf. Seitdem, auch weil ein Handicap zurückgeblieben ist, habe ich einen guten Blick für die unzumutbaren Fußwege in unserem Land.
viel Kraft und einen scharfen Blick für das, was gut tut im Leben
Wünscht
Bari
Hallo Diana Engelhardt,
danke für den wunderbaren Text, sehr klar, sehr einfühlsam und sehr deutlich, wie es läuft leider noch in unserer Gesellschaft. Ich denke, wir alle (auch ich) haben unsere Handicaps, um etwas zu verändern. Sowohl bei uns selbst, also wie wir damit umgehen als auch innerhalb der Gesellschaft. Auch für mich sind das keine Krankheiten, sondern Aufgaben.
So möchte ich Sie einladen für Ihre Mußestunden, stöbern Sie doch mal bei http://www.greatfreedom.org/german.html und http://www.balancedview.org/de/. Alle Medien dort sind kostenlos herunterzuladen und können weltweit genutzt werden. Bei Balanced View habe ich eine so herzerfrischende Sprache gefunden, so klar, so präzise und gleichzeitig so neu und völlig frei vom Staub, dem Ballast und dem Missbrauch der Geschichte, dass ich mich allein schon nur in diese Sprache verliebt habe.
Wie Sie so richtig angesprochen haben, sind wir ja nicht der Körper oder zumindest nicht nur und schon gar nicht reduziert auf ein Handicap oder dauernde Schmerzzustände. Wenn ich abends vor Schmerzen in meinem linken Fuß und Gelenk nicht schlafen kann, dann danke ich dafür, weil es mich daran erinnert, meine Aufmerksamkeit vom Schmerz abzuziehen und darauf zu richten, was wir wirklich alle sind. Gelingt es mir, verändert sich absolut alles, was für ein Geschenk!
So bin ich inzwischen Teil einer weltweiten Gemeinschaft, der man nicht offiziell oder mit Unterschrift beitreten kann, sondern nur indem man das Angebot nutzt und sich dann auch selber einbringt.
Jedenfalls, als wir letztens hier in Berlin von Balanced View aus ein Training hatten, kamen auch etliche Leute mit Rollstuhl, Männlein wie Weiblein, bei uns wirklich kein Problem.
Herzliche Grüße aus Berlin,
Heidrun Weykam