Forum für Philosophie und Politik
Von Elfriede Harth
4500 Frauen und Männer trafen sich Ende Mai drei Tage lang in Malaysia zu dem Kongress „Women Deliver“ („Frauen gebären“). Elfriede Harth war dort und hat vor allem an Veranstaltungen teilgenommen, bei denen es um befreiende und ermächtigende religiöse Diskurse über Sexualität ging. Für „Beziehungsweise Weiterdenken“ hat sie ihre Eindrücke und Erlebnisse aufgeschrieben. Wir veröffentlichen den Text, auch wenn er sehr lang ist, am Stück, weil eine Aufteilung nicht sinnvoll erscheint.
Zurück aus Kuala Lumpur sitze ich nun hier vor meinem Computer und beginne, meine Eindrücke von dieser Reise zu verarbeiten. Wie bei so vielen Veranstaltungen dieser Art, habe ich nur einen winzigen Ausschnitt aus der Wirklichkeit von Malaysia erlebt, und das auch in einem nicht alltäglichen Zusammenhang.
Über 4500 Menschen hatten sich für den drei Tage andauernden Kongress Women Deliver (http://www.womendeliver.org/) angemeldet. Aber die Anreise von Menschen aus allen Enden des Globus wurde von verschiedenen Organisationen auch genutzt, um schon am Tag vor der offiziellen Eröffnung des Kongresses und auch einen Tag nach dessen Ende Parallelveranstaltungen zu allen möglichen Themen abzuhalten: ein Symposium von Hebammen, eine Konsultation über Frauengesundheit und Wohlergehen von Frauen im Nahen Osten und Nordafrika, Veranstaltungen zur Abschaffung der Kinderehe, über perinatale Gesundheit und Schwangerschaftsverhütung, Gebärmutterkrebs, medikamentösen Schwangerschaftsabbruch, die Pille danach, die Ermächtigung HIV-positiver Frauen und die Verbesserung ihrer (medizinischen) Versorgung, indigene Geburtspraktiken, soziales Unternehmertum und Frauengesundheit, um nur einige Themen zu nennen.
Ganz abgesehen von allen möglichen spontanen oder informellen Treffen und Initiativen und von geschlossenen Foren für spezielle Gruppen wie Parlamentarier oder Minister_innen, Medienfachleute und oder Jugendliche. Es gab auch Kunstausstellungen, Filmprogramme und Präsentationen von technischen Innovationen im Zusammenhang mit Handy und Internet und Solarenergie, aber auch eine Job- oder Karrierebörse, das alles auf vier miteinander verbundenen Messehallen mit unzähligen AusstellerInnen und einem kleinen lokalen Handwerksbasar.
Das Programm des Kongresses war eingeteilt in drei inhaltliche Achsen, denen jeweils ein Tag gewidmet wurde: das „Investieren“ in Mädchen und Frauen, die Gesundheit von Mädchen und Frauen in den Mittelpunkt der globalen Gesundheitspolitik Rücken, und nachhaltige Entwicklung aus der Perspektive von Mädchen und Frauen. Diese inhaltlichen Achsen wurden von Persönlichkeiten aus Politik, Forschung, Wirtschaft, Philanthropie, organisierter Zivilgesellschaft, Jugend, und Journalismus in Form von Gesprächen im Plenum vorgestellt und dann in zig Parallelworkshops vertieft.
Zwölf Themenfelder wurden dabei abgedeckt, nämlich Mutter- und Neugeborenen-Gesundheit, Frauengesundheit, sicherer und legaler Schwangerschaftsabbruch, soziale Medien für Technologie und Advocacy, Menschenrechte, Nachhaltigkeit und Entwicklung, ungedeckter Bedarf nach Verhütungsmitteln, Glauben, Jugend, HIV und AIDS.
Dieser Kongress, wie überhaupt auch die Organisation Women Deliver, ist eine riesige Übung in Advocacy (Anwaltschaft) für Frauenrechte. Es handelt sich um eine systemimmanente Aktion, und zwar im Kontext des Systems der Vereinten Nationen. Die anarchistische Seite meiner Seele fragte mich auch immer mal wieder, inwieweit ich mit der aktiven Teilnahme an solchen Veranstaltungen nicht zur Legitimierung dieses Systems beitrage, das ja durchaus seine Schattenseiten hat. Aber ich war dort und bereue es nicht.
Denn neben den Ritualen, die solchen Veranstaltungen zu eigen sind (das „Wir“ und diverse Instanzen und Institutionen sollen inszeniert und legitimiert werden) bieten sie Gelegenheit zu persönlichen Begegnungen und Gesprächen, die den Horizont erweitern und Denkprozesse anstoßen. Und so war dieser Kongress auch sehr fruchtbar für mich.
Ich moderierte zunächst einen Panel über „Pastoral in Fragen der Reproduktionsgesundheit“ mit Madipoane Massenya , einer Theologin aus Südafrika, Canon Gideon Byamugisha, einem Priester aus Uganda, und Amina Wadud, einer der renommiertesten fortschrittlichen Islamgelehrtinnen und Afroamerikanerin.
Madipoane Massenya sprach anhand des Buchs Ruth über die sexuelle und reproduktive Not vieler afrikanischer Frauen, die unverheiratet oder verwitwet sind. In einer heterosexuell genormten Gesellschaft und Kirche, in der Sexualität nur innerhalb der Ehe als legitim angesehen und Mutterschaft außerhalb der heteronormativen Monogamie stigmatisiert wird, fühlen sie sich übersehen und als Außenseiterinnen. Dabei ist ihre Zahl sehr groß. Ich erinnerte mich an ein Gespräch vor Jahren mit dem katholischen Weihbischof Gutting aus Speyer, in dem er mir erzählte, wie er gleich nach dem Krieg von den deutschen Bischöfen mit der Frauenpastoral beauftragt worden war und sich im Alter von 38 Jahren mit der Not so vieler Frauen konfrontiert sah, für die es keine Ehemänner gab, weil so viele Männer im Krieg gefallen waren. Ich dachte auch an die Dissertation der baskischen Soziologin Estibaliz de Miguel Calvo über Liebe von Frauen hinter Gefängnisgittern, und an die vielen jungen Frauen in meiner Umgebung, die – wie es eine katalanische Freundin formuliert – erst ihre Mutter oder Schwiegermutter um Einverständnis bitten müssen, bevor sie sich ihren Mutterwunsch erfüllen können, weil Beruf und Kinderbetreuung oft zur Quadratur des Kreises entartet.
Mit viel Humor erzählte Canon Gideon seine eigene (Erfolgs)Geschichte. 1992, mit 24 Jahren als junger anglikanischer Priester verwitwet, war er der erste Geistliche, der sich als HIV-positiv outete. Er erfuhr daraufhin große menschliche Unterstützung durch seine Gemeinde und seinen Bischof. Nach einiger Zeit, und da ihm das „Charisma des Zölibats“ nicht zuteil wurde, heiratete er in zweiter Ehe eine HIV-positive Witwe, mit der er nach sieben Jahren, in denen das Paar konsequent die Zeugung von HIV-positivem Nachwuchs verhütet hatte, erst eines und dann zwei HIV-negative Kinder bekam. Der medizinische Fortschritt hatte das in der Zwischenzeit ermöglicht.
Gideon entwickelte eine Kampagne („if it’s not on, it’s not in“: Faith, Family planning and HIV Prevention) und eine ganze Bewegung, mit dem Ziel, „unsere Gemeinden zu Orten der Sicherheit“ zu machen, in denen es keine HIV-Ansteckung und nicht „zu frühe, zu häufige, zu nah aufeinander folgende, zu viele, zu späte und zu unsichere Schwangerschaften“ gibt. In denen Religion sich nicht „mit der Krankheit verbündet, um die Menschen zu kontrollieren“, sondern zu einer Quelle der Empathie mit den Menschen wird, um die Herausforderungen der Krankheit zu meistern.
Amina Wadud legte dar, dass der Islam keine religiösen Autoritäten im christlichen Sinne kennt, weder Priester noch Seelsorger. Jede Gläubige und jeder Gläubige stehen direkt vor Gott, ohne Vermittlung, es gibt auch keinen „Sündenfall“. Jedoch ist im Islam durch Vorschriften jede Handlung des Menschen genau festgelegt, so auch in Bezug auf Sexualität und auf Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Die Einstellung zur Sexualität sei sehr positiv, Sexualität jedoch nur in der Ehe gestattet. Aber jede Frau hat, wie auch jeder Mann, ein Recht auf sexuelle Erfüllung. Eine unbefriedigende Sexualität in der Ehe ist daher für eine Frau ein legitimer Grund, sich scheiden zu lassen. Die Ehe wird im Gegensatz zum Katholizismus auch nicht als Sakrament sondern als Vertrag angesehen, der wieder gelöst werden kann.
Leider klaffen Anspruch und Wirklichkeit auseinander, und viele muslimische Frauen und Männer kennen ihre Religion nicht oder nur unvollkommen, und besonders die Männer kennen nur jene Elemente, die sie in ihrer Bruchstückhaftigkeit zu privilegieren scheinen.
Im Islam haben die Gesetzeslehren eine entscheidende Autorität. Es kommt darauf an, die Gesetze möglichst treu zu befolgen. Aber obwohl diese Lehren früh kanonisiert wurden, haben doch im Laufe der Zeit Veränderungen stattgefunden. Durch die Auseinandersetzung mit dem Christentum und unter Einfluss der christlichen Betrachtungsweise wurden Dinge in die Tradition hineininterpretiert, die es so gar nicht gibt, zum Beispiel der Sündenfall, mit den bekannten verheerenden Folgen für die Geschlechterverhältnisse. So geschehe es neuerdings auch in Sachen Verhütung und Schwangerschaftsabbruch, beides Praktiken, die im Islam unter bestimmten Bedingungen erlaubt sind. Es gibt natürlich im Zusammenhang mit Sexualität und Reproduktion auch Leid, das nach Lösung sucht. Und so gibt es Einzelne, die anderen beratend oder tröstend zur Seite stehen. Zum Beispiel eine Ärztin ihrer Patientin gegenüber.
Das Panel warf viele Fragen auf, die im Raum stehen blieben und die jede Teilnehmerin entweder allein weiterspinnen oder für die sie sich andere Gesprächspartnerinnen suchen musste, um sie gemeinsam weiter zu entwickeln. Denn es wurde offensichtlich, dass die Komplexität des angeschnittenen Themas sich nicht mit einfachen Antworten abspeisen lässt. Und es wurde klar, wie fruchtbar es ist, völlig andere Sichtweisen auf ein gemeinsames Problem zu erfahren, um sich der Grenzen der eigenen Sichtweise bewusst zu werden.
Neben diesem Panel wurde ich auch noch eingeladen, an einer „Glaubenskonsultation“ teilzunehmen, die Women Deliver zusammen mit dem Circle of Concerned African Women Theologians im Anschluss an den Kongress organisierte. Unter dem Motto: „Wie sieht der Beitrag von Glaube für das Wohl von Frauen aus?“ sollten sich die Teilnehmenden darüber austauschen, wie sie sich einzeln und als Kollektiv für Frauengesundheit und Frauenrechte einsetzen können. Die Gruppe bestand aus zwanzig Frauen und vier Männern. Die meisten waren Afrikanerinnen und Afrikaner unterschiedlicher christlicher Konfessionen, vier Amerikanerinnen, ein progressiver amerikanischer evangelikaler Pastor, Amina Wadud aus den USA, zwei weitere malaysische Muslimas von der Organisation Sisters in Islam und ich.
In einer ersten Runde überlegten wir, wieso es in der Gesellschaft so schwer fällt, Frauen als religiöse Autorität zu akzeptieren. Und wie wichtig das wäre, um zum Beispiel mit Autorität über Sexualität zu sprechen. Es gibt genügend kompetente Führungspersönlichkeiten unter den Frauen in den Religionen, aber die säkulare Welt, ob es sich um Politiker handelt oder um Medien, hängt noch an einem überkommenen Verständnis von Religion fest. Wenn sich „Religion“ im öffentlichen Raum äußern soll, dann wird einem kirchlichen Amtsträger oder einem muslimischen „Gebetsvorsteher“ das Wort erteilt. Frauen bleiben Randfiguren.
Es muss also eine Anstrengung unternommen werden, um sowohl die politischen Entscheidungsträger_innen als auch die Medien darüber aufzuklären, dass Frauen, die öffentlich für sich eine religiöse Identität in Anspruch nehmen, im gleichen Maß Bürgerinnen sind wie männliche Amtsträger religiöser Institutionen und daher auf politischer Ebene eine diesen ebenbürtige legitime Autorität besitzen, solange keine politisch gültigen Verfahren (etwa Wahlen) das Gegenteil beweisen. Mit anderen Worten: Unsere Stimme als katholische Bürgerinnen ist bei Wahlen für politische Ämter genauso bedeutsam wie die Stimme des katholischen Bürgers, der zufällig in der Kirche die Funktion des Bischof oder Kardinal ausübt. Solange ein religiöser Amtsträger nicht ausdrücklich von anderen Gläubigen auch ein politisches Mandat erhalten hat, in ihre Namen (oder dem Namen anderer) zu sprechen, kann er das auch nicht tun.
In einer zweiten Runde wurde sich ausgetauscht über die Schwierigkeit, in religiösen Kontexten befreiend und ermächtigend über Sexualität zu sprechen. Der gängige amtliche religiöse Diskurs subsumiert sich unter dem Gebot „Du sollst nicht ehebrechen!“ Sexualität wird vermittelt als Verbot, Tabu, es wird Angst geschürt, stigmatisiert, als schmutzig und unrein behandelt, mit Schuldgefühlen beladen. Aber es wird nicht darüber aufgeklärt, was denn eigentlich „Sache ist“. Junge Menschen werden völlig unvorbereitet den Wallungen ihrer Hormone ausgeliefert, aber auch Ältere mit ihren Bedürfnissen nach körperlicher Nähe und Erfüllung allein gelassen. Oder es kommt erst gar nicht so weit.
Denn Sexualität wird heteronormiert und auf eine einzige legale Form reduziert – die Ehe zwischen Mann und Frau. Um männliche Sexualität zu befriedigen, ist die Kinderheirat in vielen Ländern Asiens eine sehr weit verbreitete grausige Wirklichkeit. Und es geht um nichts anderes in all den Ländern, in denen ein Vergewaltiger seine Straftat dadurch „ungeschehen“ machen kann, dass er sein minderjähriges Opfer ehelicht. Durch diese (heterosexuellen) Ehen wird das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung von Mädchen und jungen Frauen völlig ignoriert und (sexuelle) Gewalt in der Ehe legitimiert. Es wird weibliche Sexualität als Teil der menschlichen Würde einer Frau überhaupt einfach negiert. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass eine auf die heteronormative Ehe reduzierte Sexualität weitere große Bereiche der menschlichen Wirklichkeit ausblendet und abspaltet.
Wie können wir aus der Religion heraus über Sexualität in einer anderen Sprache sprechen, eine Sprache, die die Bedürfnisse und Begehren der Menschen ernst nimmt und sie qualifiziert und kompetent macht für diese so zentrale von Gott gewollte Dimension ihres Lebens?
Vielleicht bietet in diesem Zusammenhang HIV/AIDs sogar eine Chance. Es geht darum, zu verstehen, dass Menschen Sex haben, ungeachtet aller Legitimitäten, auch, wenn sie sich nicht (immer) bewusst sind, welche Folgen Sex nach sich ziehen kann. Und sie können sich nicht darüber bewusst sein, wenn sie nicht rechtzeitig darüber aufgeklärt werden, und zwar in einer positiven Art, ohne Ängste zu schüren, ohne Schuldgefühle zu wecken, in einer Art, die der eigenen Würde bewusst macht und der Verantwortung für sich selbst und für den Partner oder die Partnerin.
Das ist das Ziel der Kampagne von Canon Gideon Byamugisha: Durch menschliches, menschengerechtes, verantwortungsvolles Handeln eine Weitergabe des HIV zu verhindern. HIV-positive Menschen (wie alle anderen mit irgendwelchen Stigmata Behafteten) in ihrer Einzigartigkeit und Bedürftigkeit nach Liebe und körperlicher Nähe zu sehen, zu verstehen, zu akzeptieren und ihnen zu helfen, damit Sexualität (auch) für sie zu einer gottgewollten Quelle der Erfüllung wird.