Forum für Philosophie und Politik
Von Claudia Conrady
Gerechtigkeit als Kausalitätskonzept – ein Brief an Simone de Beauvoir
Die SeminarteilnehmerInnen von Andrea Günters Seminar hatten die Aufgabe, zu den einzelnen Seminarsitzungen Lerntagebücher zu schreiben. Damit konnten sie aufgreifen, diskutieren und entwickeln, was ihnen zur Sitzung am Herzen lag. Hierbei sind unter anderem Briefe an Simone de Beauvoir, Luce Irigaray und Stefan Goertz entstanden. Passend zu dem Themenschwerpunkt der Seminarberichte werden aus diesen Lerntagebüchern Texte ergänzt.
3. Brief aus dem Seminartagebuch von Claudia Conrady
Sehr geehrte Madame de Beauvoir,
betrachten Sie diesen Brief als Antwort auf eine Textstelle aus ihrem Werk „Das andere Geschlecht“, die ich kürzlich in einem Seminar mit dem Titel „Konzepte der Ethik – Konzepte der Geschlechter“ gelesen habe. Darin beschreiben Sie, dass das Dilemma der Frauenfrage nicht die mangelnde Gleichberechtigung ist, sondern die dialektische Argumentationsweise, mit der der Geschlechterdiskurs geführt wird. Ich stimme Ihnen da vollkommen zu. Das ganze Hin und Her damit, wer eigentlich wem überlegen ist, führt nicht dazu, dass eine produktive Diskussion in Gang kommt. Es resultiert eher in einer Art Trotzreaktion. Nur weil er A sagt, muss sie B sagen und gleichzeitig auch A verlangen. Was wäre die Folge von solcher Gleichberechtigung? Eine der häufigsten Forderungen in diesem Zusammenhang ist der Ruf nach mehr Frauen, die in Führungspositionen eingestellt werden, nach Quoten, die diese Errungenschaft sicherstellen. Ich fände es hervorragend, wenn es mehr Weiblichkeit in Führungspositionen gäbe. Ich schreibe hier bewusst Weiblichkeit und nicht Frauen, weil das für mich nicht zwangsläufig Synonyme sind. Aber ich fände es gerechter, wenn ein talentierter Mensch eine geeignete Position ausfüllen darf, weil er die besonderen Fähigkeiten hat, diese Aufgabe zu erfüllen, und nicht, weil er eine Vagina und eine Gebärmutter besitzt. In diesem Sinne gibt es zwar viele Frauen, die führende Ämter in der Politik bekleiden, aber weiblich – nach meiner Auffassung – verhalten sie sich deshalb noch lange nicht. Ebenso wenig ist klar, ob es überhaupt wünschenswert ist, Quoten einzuführen, die Frauen trotzdem nicht an einer Diskussion beteiligen und an der Einstellung gegenüber der Geschlechterfrage nichts ändern. Nur weil es plötzlich Chefinnen gibt, ändert sich ja nicht das Verhältnis zwischen Mann und Frau automatisch mit.
Um den Bereich der Arbeitswelt zu verlassen, möchte ich Ihren Kommentar zum Gehirn des Mannes und der Frau aufgreifen. Darin zeigt sich – wie ich finde – auch, dass diese Form von Argumenten zu keinem produktiven Ergebnis führt. In Einzelfällen oder statistisch sogar relativ häufig, mag das Größenverhältnis zwar stimmen, doch der Schluss, der daraus in der Regel auf die Intelligenz gezogen wird, ist völliger Blödsinn.
Dass in dieser Argumentationsstruktur jede These eine Gegenthese hervorruft, wird auch am Beispiel des Konzeptes „queer“ deutlich. Eine simple Unterteilung in heterosexuelle und homosexuelle Menschen wurde zunächst um den Begriff der Bisexualität erweitert, um der Komplexität menschlicher Sexualität Rechnung zu tragen. Dies führte jedoch dazu, dass sich Menschen, die nicht diesen Kategorien entsprachen, ausgeschlossen und missachtet fühlten. Um Vielfalt von Sexualität zu beschreiben, wurde der Begriff queer als umfassendes Synonym für alternative Lebensentwürfe geschaffen. Doch auch dieses neue Wort kann sich nicht aus der dialektischen Denkweise befreien. Denn queer soll sein, was nicht heteronormativ ist und damit haben wir ein neues Gegensatzpaar geschaffen und die binäre Struktur reproduziert.
Um sich nicht ständig nur in einem ergebnislosen Schlagabtausch zu befinden, sondern handeln zu können, schreiben Sie, dass man und frau „ganz von vorn beginnen“ muss. In dem Seminar, das ich gerade besuche, haben wir viel darüber diskutiert, wie ein solcher Neuanfang aussehen könnte. Zuletzt haben wir lange über Gerechtigkeit als Kausalitätskonzept geredet. Anfänglich fiel es mir etwas schwer, zu verstehen, was damit gemeint sein soll. Wenn wir einen Gegenentwurf zu den typischen monokausalen Argumentationsstrukturen machen möchten, müssen wir uns von der Vorstellung eines Absoluten, sei es ein Grund, eine Ursache oder eine Wirkung, verabschieden. Anstelle des linearen Denkens tritt dann eine Sensibilität für das Zusammenspiel von Kräften, die Anziehung oder Abstoßung bewirken. Das Ergebnis dieses Wirkungsgeflechts ist nicht immer vorhersehbar, es ist offen für Überraschungen. Statt zu denken „Die Natur/Vernunft/Gott sagt, der Mensch macht.“, sind wir gefordert, das eigene Handeln daraufhin zu prüfen, ob es gerecht ist, ohne Gerechtigkeit absolut zu setzen. Gerechtigkeit an sich kann es nicht geben, sie ist immer Ausdruck der Verhältnisse in einer Gesellschaft und damit relativ zu begreifen.
In diesem Kausalitätskonzept taucht auf, dass das individuelle Gerechtigkeitsempfinden im Entscheidungsfall eine große Rolle spielt. Was für mich gerecht erscheint, mag jemand anderes als höchst ungerecht empfinden. Um möglichst gerecht zu handeln, ist es also notwendig zu kommunizieren. Sie fordern gleich zu Anfang des genannten Textausschnittes einen echten Diskurs, denn „wenn man sich streitet, argumentiert man nicht mehr gut“. Zu einem guten und echten Diskurs gehört für mich, dass alle Beteiligten mitdiskutieren dürfen, dass das Ergebnis nicht schon von vorneherein klar ist und dass die Konzepte, die die Diskutierenden haben, vorher geklärt werden.
Besonders der letzte Punkt erscheint mir sehr wichtig, ganz konkret in Anbetracht eines schulischen Kontextes. Unsere Erziehung und Vorbildung machen uns zu Individuen mit unterschiedlichen Vorstellungen von Begriffen. Besonders in einer Situation, in der ich mich mit einem mir fremden Kulturkreis und dessen Konzepten auseinandersetzen muss, gilt es, beide Diskussionsseiten auf den gleichen Stand zu bringen. Wenn wir nicht wissen, was unser Gegenüber meint, wenn es sagt „Natur“ oder „Frau“ oder eben „Gerechtigkeit“ und wir es ihm auch nicht klarmachen oder nach Begriffsklärung streben, reden wir um den heißen Brei herum ohne uns jemals dem Genuss zu nähern. Diese Prinzipien vergessen wir oft, weil wir es nicht gewöhnt sind, so zu argumentieren. Aber für mein späteres Berufsleben erscheint es mir sehr wichtig, mir dieses Diskussionsverhalten anzueignen und so möglichst gerecht zu handeln. In diesem Sinne will ich versuchen, Verallgemeinerungen und Stereotypen zu vermeiden und stets den Raum für das Unerwartete zu sehen. Mir ist allerdings bewusst, dass dazu ein großes Durchhaltevermögen und eine gewisse Frustrationstoleranz gebraucht werden.
Zum Abschluss möchte ich Ihnen noch sagen, dass mir der Titel Ihres Buches sehr gut gefällt. Er verweist zum Einen darauf, dass wir uns nicht in Gegensatzpaare wie männlich – weiblich verstricken lassen dürfen und zum Anderen, dass eine Hierarchisierung in einen ersten und einen zweiten Rang bezüglich des Geschlechts ebenso sinnlos ist.
Mit besten Grüßen,
Claudia Conrady