Forum für Philosophie und Politik
Von Andrea Günter
Ethik ist nicht gleich Ethik. Die Verschiedenheit von Ethikkonzepten zu realisieren hat Konsequenzen dafür, Geschlechterfragen zu entwickeln. Zu allererst: Warum das wichtig ist? Weil die menschliche Eigenart, moralisch zu sein und ethisch reflektieren zu können, eine eigene Kausalität im Leben der Menschen ist. Also: Nicht einfach die Natur oder der Wille Gottes bestimmen, wie Geschlechterverhältnisse sich entwickeln. Im Gegenteil, die Tatsache, dass Menschen moralische Wesen sind und ethisch reflektieren können, bringt Bedingungen hervor, die menschliches Leben bestimmen.
Die moralische Weise der Bedingtheit menschlichen Lebens hat dabei zwei Seiten, einmal die, dass Individuen immer mit schon vorhandener Moral konfrontiert sind, dann aber, dass ein jedes Individuum selbst ethisch reflektiert. Und diese beiden Seiten stehen in einem spannungsvollen Wechselspiel. Dieser Komplex soll im Folgenden genauer entwickelt werden. Ethische Konzepte werden profiliert. Und Konsequenzen für den Umgang mit Geschlechterkonzepten können formuliert werden.
1. Humanität und Ethik
Ein Moral bildendes Wesen zu sein und ethisch reflektieren zu können, das macht Menschen zu Menschen, lässt Menschen gewissermaßen human sein. Dabei sind Moralität und ethische Reflexionsfähigkeit Kräfte, die Menschen ihr Leben gestalten lassen und folglich Dinge verursachen, denken wir etwa an die Leidenschaft für Gerechtigkeit, die dafür sorgt, dass Menschen sich für Vieles einsetzen, um das Leben der Menschen zu verbessern, so dass praktisch und theoretisch-reflektierend neue Bedingungen geschaffen werden: ein neues Bürgerengagement, eine neue Sozialgesetzgebung zum Beispiel ebenso wie eine neue Diskussion um die Menschenwürde oder das Verständnis des Phänomens „Gerechtigkeit“.
Aber aufgepasst: Es gibt Teufelskreise und es gibt befreiende, Gerechtigkeit stiftende Kreisläufe vom Verständnis davon, dass und wie Menschen moralische und ethisch reflektierende Wesen sind.
2. Moral und Ethik
Moral kommt vom lateinischen Wort mores, was Sitten und Gewohnheiten benennt. Sich diese etymologische Herkunft bewusst zu machen, nämlich unter Moral ganz profan Sitten und Gewohnheiten zu verstehen, hilft beim Bewusstmachen, dass Moral nicht moralisch aufgeladen sein muss.
Sitten und Gewohnheiten transportieren, wie Menschen sich in Beziehung setzen, zu Dingen, vor allem aber zu anderen Menschen und dann zum Zusammenleben der Menschen. Moral im engeren Sinne verstanden bewertet dagegen, ob dies gut oder schlecht ist, gute oder schlechte Wirkungen auf die Dinge, die Menschen oder das Zusammenleben hat.
Auch das aus dem Griechischen hergeleitete Wort „Ethik“ meinte hier zunächst Sitten und Gewohnheiten. Eine weitere Bedeutungsebene kann vom Wort „Ethos“ erschlossen werden: eine Haltung zu etwas einnehmen. Eine Haltung muss jedoch nicht unbedingt in einem gewohnten Verständnis „gut“ sein, auch Missgunst ist eine Haltung. Traditionellerweise wurde diese Doppelseitigkeit von Haltungen in Form von Tugend- und Lasterkatalogen thematisiert. Allerdings kann auch hier umgewertet werden, Neid etwa kann eine „gute“, produktive Eigenschaft werden, wenn er richtig kultiviert wird.
Ethik im engeren Sinne wird als Reflexion von Moral, Werten und moralischen Fragen verstanden. Diese Reflexion ist notwendig, weil Situationen nicht vollständig determiniert, also nicht klar festgelegt sind. Deshalb sind Spielräume vorhanden. Mehrwertigkeiten sind zu beachten, so dass Menschen entscheiden müssen, was sie tun werden. Hierdurch sind sie häufig in einem Dilemma. Sie müssen sich dabei nämlich nicht einfach nur zwischen „gut“ und „böse“ entscheiden, sondern vor allem auch zwischen „gut“ und „gut“. Denn viele Konflikte zwischen Menschen oder Kulturen sind Wertekonflikte: Konflikte zwischen Werten wie z.B. Freiheit/Selbstbestimmung und Solidarität. Und gerade auch für solche Konflikte gibt es keine einfachen Lösungen. Sogar wenn sie für eine Situation entschieden sind, stellen sie sich für eine nächste Betrachtung wieder aufs Neue. Genau hierzu, zu dieser Uneindeutigkeit und Unbestimmbarkeit nun eine Haltung zu entwickeln, ist ein Zeichen moralischer Reife, von Moralität. Das Ethische begründet eine Kausalität, die mit dem Uneindeutigen und Unbestimmbaren zu tun hat. Und damit zeigt sie eine Kausalität des Offenen und Öffnenden an.
Daher kann Ethik erst einmal ganz allgemein als die Lehre von der Reflexion begriffen werden, genauer gesagt von der Reflexion, die die Unterscheidung von „gerecht“- „ungerecht“ für mich, für andere und für das Zusammenleben der Menschen stark macht. Und da Gerechtigkeit nie genau definiert und berechnet werden kann – wer kann schon sagen, was gerecht ist? –, also eine unbestimmte Größe ist, zählt zur ethisch profilierten Reflexionsfähigkeit, sich Unbestimmbarem bzw. dem stellen zu müssen, sich auf der Grenze von Bestimmbarem und Unbestimmbarem zu bewegen, gerade auch, wenn es um das Gute geht.
3. Deontologie
Menschen haben Pflichten. Menschen tragen Verantwortung. Diesen Aussagen ist ohne Weiteres und gleichermaßen zuzustimmen. Dennoch gibt es zwischen beiden Aussagen darin wesentliche Unterschiede, welche Vorstellung von Moral und Moralität sie transportieren.
Zunächst zum ersten Verständnis von Moralkonzepten: Menschen haben Pflichten, sie müssen aufgrund dieser Pflichten handeln. Im Fachvokabular der Ethik heißt dieses Konzept Deontologie, das Wort kommt vom gr. deon: Pflicht.
In Bezug auf die Deontologie stellen sich folgende Fragen: Wie begründet sich eine Pflicht? Von einem Gott, der Gebote und Verbote erlässt oder als Schöpfergott unhintergehbare (Vorher)Bestimmungen geschaffen hat (wie auch immer wir davon wissen können)?
Oder begründet sich eine Pflicht von der Natur und den Bedingungen, Zwecken und Zielen, die diese mit sich bringt. Wenn sie vorgibt, was Menschen tun können, schreibt sie damit auch vor, was Menschen tun müssen, dürfen und sollen? Muss sich beispielsweise eine jede Frau, weil Frauen die Potenz Kinder zu gebären haben, dem Kinderbekommen widmen?
Oder begründet sich eine Pflicht durch die menschliche Vernunft, die jeden einzelnen für alle Menschen geltenden Pflichten erkennen lässt? Um es gleich hier deutlich zu machen: Ob Gott, Natur oder Vernunft, für die Weise der Begründung einer Pflicht unterscheiden sich diese drei Größen nicht, sofern sie (kausal)logisch gleich eingesetzt werden, nämlich als absoluter und vereindeutigender Grund.
Gott als die Ursache, Natur als die Bedingung und Vernunft als der Grund für eine Pflicht werden als absolute Größe behauptet, wenn es darum geht, allein von ihnen Pflicht herzuleiten. Allerdings, alle drei sind deutlich angefragt. Und das nicht erst seit der Aufklärung oder Postmoderne, diese Anfrage gibt es schon immer! Aufklärung und Postmoderne haben dieses Anfragen endlich in den Vordergrund gespielt, sie wollen die Begrenztheit solcher (Kausal)Logiken nicht länger mitschleppen, sondern neue Sinnzusammenhänge entwickeln. Zumal Pflichtmodelle auch jenseits solcher Anfragen auf eine schlechte Theologie hinauslaufen, ein naives Naturverständnis, ein unterkomplexes Verständnis von Vernunft.
Zum Beispiel die Pflichtursache „Gott“: Es gab immer Atheisten, für diese gilt Gott schlicht und ergreifend als Ursache von Pflichten nicht. Theismus wiederum kann sehr unterschiedliches bedeuten. Beispielsweise wird in Theologien wie der jüdischen und christlichen deutlich, dass Gottes Vorgabe(n) widersprüchlich, sogar ambivalent sind. Freiheit/Kreativität und Gebote/Verbote, in dieses Spannungsfeld situiert der jüdische Schöpfergott die Menschen. Und dieses Spannungsfeld macht auch Jesus stark, etwa wenn der betont, dass nicht der Mensch für die Gesetze, sondern die Gesetze für die Menschen da sind.
Darüber hinaus bin ich mir gerade als Theologin darüber bewusst, dass Moralität und ethische Reflexionsfähigkeit sich nicht Gott, sondern der Weltlichkeit der Menschen verdankt. Die Entwicklung des vatikanischen Denkens über Sexualmoral zeigt beispielsweise, dass weltliche Moralität eine größere Moralität und Sittlichkeit aufweisen kann als abstrakt formulierte Pflichten. Und bei der Sexualmoral geht es um etwas sehr Grundsätzliches, nämlich um eine Moral des Begehrens. Gerade die vatikanische Enge in Bezug auf die Sexualmoral verdeutlicht, dass die theologische Moral ein Legitimationsdefizit gegenüber den weltlichen Errungenschaften der Moral und ethischen Reflexivität hat. Dies aber gilt letztlich gegenüber der Moral des Begehrens.[1]
Jedoch, mit der Natur als Bedingung von Moral steht es auch nicht besser. In der Ethik wird dies deutlich mit der Aussage festgehalten, dass vom Sein nicht auf das Sollen geschlossen werden darf. Denn damit wäre eine jede Veränderung und folglich Humanisierung menschlichen Handelns unmöglich gemacht, Menschen würden sich jagen, Reviere abgrenzen, um die Begattungshoheit kämpfen. Unter den Sein-Sollen-Kurzschluss fällt z.B. auch: Es steht also immer schon fest, was es heißt, dass ein Kind von einer Frau geboren wird, das zeige ja schon der Geburtsvorgang an. Die Konsequenzen aus der Natur des Mannes bzw. der Frau können in einer Weise vereindeutigt werden, indem allein von einem idealisierten Kind oder von einer stereotypisierten und derart idealisierten Geburt her auf Kinder, Frauen und Menschen geschaut wird.
Heute schlägt sich ein solches Verständnis in Positionen nieder, die etwa vertreten, dass Bürgermeister nur Frauen sein können, weil sie mehr Sinn für Beziehungen haben. Oder? Eine solche Kausalität aufzustellen folgt der gleichen kausalen und geistigen Enge wie die zu behaupten, dass eine jede Frau keine Bürgermeisterin sein kann, weil es sein kann, dass sie ein Kind bekommt. Wie unterschiedlich kann außerdem der Sinn für Beziehungen ausfallen? Oder können Männer etwa besser einparken, weil sie besser räumlich denken können? Ist das eigentlich tatsächlich bewiesen? Findet hier nicht ein Kurzschluss statt, der auch wesentlich damit zu tun hat, dass gutes Einparken nicht bloß von einem besseren räumlichen Denken abhängt, sondern auch von vielen anderen Faktoren, angefangen vom Selbstbild „ich bin DER Autofahrer“, „ich agiere schnell“ oder „ich habe das super-xy-Auto, deshalb…“ bis hin zu der Persönlichkeitsstruktur „ich schaue genau hin“ und „ich handle aufmerksam“, usw.
Ethisch denken hingegen heißt, ein vereindeutigendes, geistige Engen produzierendes Denken als inhuman zu erkennen. Ethisch denken heißt, Besonderheiten von komplexen Entscheidungssituationen und individuellen Entscheidungslagen zu erkennen und situationsadäquate Lösungen zu finden. Ethik ist wie gesagt eine besondere Qualität von Kausalität, es ist im besten Falle die humane Qualität von menschlicher Kausalität.
Auch die Vernunft als absoluter Grund ist diskreditiert, spätestens seit Kant, wenn es um die Philosophie nach der Neuzeit geht. So macht Kant selbst deutlich, dass Vernunft sich genealogisch qualifiziert: in einem „öffentlichen Gebrauch“, der „die ganze Welt als Lesepublikum“ hat und die Wirkungen auf die zukünftigen Generationen berücksichtigt (soweit diese kalkulierbar sind, und da sie das nur rudimentär sind, ist Vorsicht angebracht, wodurch die Menschen also gerade dann auch mit Unbestimmbarem konfrontiert sind, wenn sie Verantwortung übernehmen …)
4. Der Sinn von Pflichten
Nun, sind aufgrund dieser Kritik an den Begründungen tradierte Pflichten keine Pflichten mehr? Haben Pflichten ausgedient, weil ihre Begründungszusammenhänge falsch kategorisiert sind? Sind also bestimmte Pflichten oder aber ihre Begründungen falsch? Wie falsch ist dieses Falsch überhaupt?
Haben also Pflichten wie „du sollst nicht töten“, „du sollst deine Eltern ehren“ oder „du sollst keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr haben“ grundsätzlich ihre Gültigkeit verloren, weil sie als unumstößliche Pflicht deklariert wurden?
Allein schon beim Aufzählen dieser drei Pflichten fällt auf, insbesondere wenn wir von der dritten ausgehend zurück auf die erste blicken: aufgrund historischer Entwicklungen entlang von Freiheitsbewegungen hat sich verändert, ob wir diese Pflichten akzeptieren, relativieren oder zumindest situationsspezifisch differenzieren. Denn sogar das Tötungsverbot galt auch in der Vergangenheit gleichzeitig absolut und nicht absolut. Früher wurde diese Ambivalenz am Beispiel des Tyrannenmords diskutiert, denn ob ein Tyrann getötet werden darf oder nicht, dass ist nicht eindeutig zu beantworten.[2] Heute wird sie rechtlich beispielsweise zwischen Notwehr, Totschlag, vorsätzlicher Tötung oder Tötung aus niedrigen Beweggründen differenziert. Selbsttötung wird erst seit kurzer Zeit als Krankheit, nicht mehr als Verstoß gegen Gott oder die Vernunft bewertet, etc.
Relativieren zu können, nämlich in Beziehung setzen, also kontextualisieren und situationsspezifisch differenzieren, hierbei Wertekonflikte wahrnehmen zu können, genau das bezeugt die Möglichkeit, ethisch zu reflektieren .
5. Utilitarismus
Den Menschen zu nützen: Funktionen und Zwecke zu erfüllen, die unmittelbar die Welt, also keine höheren Instanzen vorgeben, das gilt als das große ethische Kontrastprogramm zur absoluten Pflicht. Unbehagen bereitet, dass hier gerechnet werden muss/müsste. Menschen sollen zum Beispiel nicht durch die Hand von anderen Menschen sterben. Nun könnte ein Mensch in einer Situation entscheiden müssen, ob 23 oder ob 25 Menschen sterben. Reicht es, hier die Zahlen aufzurechnen? Gibt es eine/die richtige Rechnung? Irgendwie kommt es dahin, dass entweder die konkreten Situationen im Leben der Menschen ganz andere Dynamiken mit sich bringen, als solche Rechenspiele es vorgaukeln, bzw. sie doch wieder auf übergeordnete Kriterien zurückgreifen müssen.
Gleichzeitig wird etwas anderes thematisierbar: Pflichten zu befolgen, die sich absoluten Größen verdanken, wie utilitaristisch ist eigentlich das? Nützt es mir nicht vor Gott, wenn ich seine Gebote und Verbote befolge? (An dieser Utilitarisierung der Deontologie ist die mittelalterliche katholische Ablasspraxis gescheitert.) Allerdings, wenn Freiheit als „Geschenk Gottes“ begriffen werden kann, dann wird das Ganze wieder verflixt kompliziert. Denn kann Freiheit nützen? Kann es eine Pflicht zur Freiheit geben? Und inwiefern gibt es Pflichten, wenn Menschen Freiheit geschenkt ist?
6. Wirkungsethik
Wirkungsethik gibt es zwar bislang nicht als eigens formuliertes Konzept, allerdings gibt es einige Blicke auf das Ethische, die in diese Richtung lenken.[3] Im Vordergrund dieser Perspektive steht nicht länger, wie etwas begründet ist, sondern wie sich etwas auswirkt. Hiermit findet zugleich eine Differenzierung entlang der Zeitlichkeit des Ethischen statt: Gilt das, woher etwas kommt, also seine (logische) Vergangenheit absolut? Oder steht nicht vielmehr das, worauf etwas hinausläuft, was entsteht und entstehen wird, im Vordergrund, gerade auch, wenn es um das Bewerten von Handlungen geht?
Der Utilitarismus, die Frage nach dem Nutzen, zeigt diese Dimension des Ethischen an. Er lässt sich sozusagen gegen seinen positivistisch-funktionalen Sinn entutilarisieren, wenn er in den Kontext einer Moral des Begehrens gestellt wird. Augustinus hat dies angeregt: nutzen, jedoch nicht, um zu gebrauchen und einem falschen Pragmatismus zu frönen, nein, im Gegenteil, nutzen, um zu genießen.[4]
Wenn das Ethische also eine eigene Wirkungen erzeugende Größe und Kraft im Leben der Menschen darstellt, dann verkehrt sich alles! Dann verkehren sich überkommene Ableitungs-, Erklärungs-, Bewertungs- und Begründungsmuster dessen, was jemand tun „soll“. Auf die Probe gestellt: Was am Zusammenleben der Menschen und der Geschichte der Menschheit lässt sich daraus erklären, dass es immer wieder einige besonders außergewöhnliche, überzeugte, handlungskreative, motivierende und mutige Menschen gab/gibt, die gelingende Beziehungen, sogar Gerechtigkeit wollen? Menschen, die sich außerdem dafür mit anderen zusammenschließen? Daraus entstanden viele nicht vorhersehbare Dinge, Liebesgedichte, politisierende Dramen, Friedensbemühungen, Befreiungsbewegungen, neue Rechte und Rechtssysteme, Konzepte gewaltfreier Kommunikation ebenso wie religiöse Ideen.
Und mit diesem Verständnis des Ethischen kann weitergefragt werden: Was an der Geschichte der Frauen schließt sich gerade über ein solches Ethos auf? Jenseits von Gott, Natur und Vernunft, Frauenbewegungen lassen sich wesentlich von einem solchen Ethos, dem Verlangen nach gelingenden Beziehungen in Verbindung mit dem Hunger nach Freiheit, Sinn und Gerechtigkeit her verstehen.[5]
Was das Verständnis von Ethik betrifft, gilt damit grundsätzlich: Eine Wirkung ist nicht mit dem/einem Anfang oder gar absoluten Grund identisch. Dazwischen gibt es eine Wirkmacht, die das Humanum genannt werden könnte. Wissenschaftstheoretisch gesprochen: Zwischen Induktion und Deduktion steht die Abduktion. Diese kann eine ethische Seite haben, sie kann ethisch sein: Gerechtigkeit verlangt eine kreative Verbindung von überlieferten Normen und neuen Situationen. Und das, was hier zur Entscheidung beiträgt und eigene Kräfte entfaltet, lässt sich als Humanum klassifizieren.
Wird die Welt beispielsweise besser oder schlechter, wenn ein Tyrann getötet wird? Werden die Generationenbeziehungen besser oder schlechter, wenn die Beziehung zwischen Kindern und Eltern moralisiert wird? Werden die Beziehungen zwischen den Geschlechtern besser oder schlechter, wenn es keinen vorehelichen Geschlechtsverkehr gibt? In diesen Fragen treffen überlieferte Normen und Fragen nach Wirkungen auf das Zusammenleben (gerade auch der Geschlechter) aufeinander.
Allgemeinverständlicher formuliert besagt das: Wir denken in mehreren Richtungen gleichzeitig. Wir leiten aus Erfahrungen Prinzipien ab (Induktion) und wir wenden Prinzipien auf Situationen an (Deduktion). Auf diese beiden Weisen gehen wir auch mit Werten und moralischen Normen um. Normalerweise tun wir nie nur eines davon und eines gar in Reinform. Wir versuchen immer eine mögliche Variante dessen, wie diese beiden Erkenntnisweisen gemischt werden können. Dazwischen allerdings gibt es einen Moment der „Abduktion“ (Peirce): der Kreativität, diese beiden elementaren und mangelhaften Formen menschlichen Denkens aufeinandertreffen zu lassen und eine kreative Variante von Erklärung und letztlich komplexer Begründung zu erzeugen.
Was nun heißt das, wenn es um Ethik geht? Ethik entwickelt sich nicht nur von Gründen her, sondern gerade auch von den Wirkungen, die Entscheidungen und Handlungen erzeugen. Das Ethische repräsentiert eine Kraft des Dazwischens.
Genauer gesagt, Ethik handelt gerade davon: Wenn Menschen als Menschen und also als eigene Kausalitäten erzeugende Wirkkräfte tätig werden, dann müssen die Wirkungen überprüft werden, ebenso die Prozesse, die Wirkungen aufgrund des Handelns von Menschen veranlassen. Denn woher kann man schon ableiten, dass es G-8 Gymnasien und nun doch zusätzlich wieder G-9 Gymnasien, bessere Bezahlungen für Hochschulprofessoren oder Frauenquoten für Dax-Unternehmen geben soll, wenn nicht ausmitten den Geschehnissen der Welt heraus? Woher ist denn zudem ableitbar, dass ein Vater an sich oder eine Mutter an sich für ihr Kind wichtig und gut ist, wenn es regelmäßig solche Väter und Mütter gibt, die ihr Kind misshandeln?
Diese Beispiele zeigen: Ethisches Reflektieren bedeutet, Spannungsfelder zu umreißen und situationsspezifisch zu bewerten: Ein Vater/eine Mutter ist für sein/ihr Kind wichtig – solange er/sie nicht misshandelt. Nicht misshandelt zu werden ist für ein Kind wichtig, und insofern einem Kind das nicht geschieht, ihm im Gegenteil Möglichkeiten dazu geboten werden, sich zu entwickeln, sind seine biologischen Eltern eine Bereicherung. Geben diese ihm das nicht, dann behindern sie gerade auch gegen seine menschliche Möglichkeit, ein verantwortlicher Mensch zu werden. In einem solchen Kreislauf ist die Wichtigkeit der biologischen Eltern für ein individuelles Kind zu beurteilen.
Damit treffen zwei moralische Kriterien aufeinander, die nicht eindeutig an sich entschieden werden können, sondern im Einzelfall differenziert werden müssen. Die Entwicklung der Bindungsfähigkeit des Kindes als Basis seiner Lebens- und Handlungsfähigkeit, führt zum dritten und entscheidenden Kriterium. Denn diese Basis zeigt an, dass es hierbei nicht um das Vorrecht einer individualisierten Person geht, sondern um eine Qualität von Reifung, die die Gemeinschaft der Menschen, nämlich ihr Zusammenleben betrifft. Denn grundsätzlich bindungsfähig zu sein, das macht einen einzigartigen Menschen aus, der in Verbindung mit anderen steht und somit lebensfähig ist, im Unterschied zu einem isolierten Organismus, der vereinzelt nicht überlebensfähig ist. Und gleichzeitig strukturiert es vor, wie eine Einzelperson seine Beziehungen zu anderen zu gestalten vermag.
7. Güterethik
Das Konzept der „Wirkungsethik“ kann noch genauer profiliert werden. Menschen denken gleichzeitig von der Vergangenheit her – von ihrer Geschichte, dem, was sie daraus gelernt, haben, den Normen, die sie gebildet haben, – und von der Zukunft her: von dem her, was auf sie zukommen wird, kann und könnte. In dieser Position inmitten der Zeit spielt eine dritte Größe eine zentrale Rolle: die Haltung, die Menschen einnehmen, wenn sie sich dieser zeitlichen Struktur ihres Handelns nähern.
Entscheidungen sind getragen, sie sind von dem Ethos getragen, mit dem sich jemand in Beziehung setzt, sich etwa daran ausrichtet, die Unterscheidung gerecht – ungerecht stark zu machen. Denn die Haltung ist das Medium, in dessen Licht Menschen auf Entscheidungen blicken, erläutert Platon. Damit bekommen sie eine Orientierung.
Die Güterethik nun thematisiert genau diese Ausrichtung als die maßgebliche Qualität des Handelns. Dabei behauptet sie das Ausrichten am Guten. Die für das Zusammenleben der Menschen – in Verbindung mit der Entwicklung von der Individualität der einzelnen Personen – zentrale Ausrichtung ist Platon zufolge dabei genauer die Gerechtigkeit: sich für den Stärke-Schwäche-Ausgleich zu engagieren.
Die güterethische Anfrage gilt dabei auch für den Umgang mit moralischen Gewohnheiten: Wie können überlieferte Normen und moralische Wertungen so gebraucht werden, dass sie zur Moralität der Menschen beitragen, also das Gute, das sie präsentieren, so tradiert wird, dass es weiterhin Gutes stiftet, dieses sogar mehrt? Genau damit aber verändern sie sich. Sie werden kontextualisiert, geprüft, vergütet, reformuliert. Ihr Wert wird erhalten, getauscht oder aber sogar vermehrt, indem er verzeitlicht wird.
8. Ethikkonzepte als Kausalitätskonzepte: Perspektiven für Geschlechterfragen
Die vorgestellten Differenzierungen, was Ethik meint und das Ethische transportiert, eröffnen Analysemöglichkeiten und Perspektiven für die weitere Auseinandersetzung mit Geschlechterfragen.
1. So zeigen die Deontologie und ihre Kritik an, dass die Ethik und die Frauen ein gemeinsames Schicksal haben.
2. Damit steht im Raum: Jedes Ethikkonzept bringt andere Geschlechterkonzepte und andere Denkfiguren für Geschlechterfragen mit sich. Welche Wirkungen hat welches Ethikkonzept auf Geschlechterverhältnisse und wie prägt es diese?
3. Zugleich kann thematisiert werden: Frauenthemen, Geschlechterthemen, sie brauchen eine Haltung. Denn von der Haltung hängt ab, in welche Richtung Analysen und Veränderungsbestrebungen verlaufen.
4. Ethikkonzepte und das Ethische in frauen-geschlechter-ethischen Texten, wie werden diese hier außerdem aufgegriffen?
5. Das Ethische muss als Dimension von Geschlechterverhältnissen ernst genommen werden. Was aber kann das heißen?
[1] Vgl. Andrea Günter: Die Säkularität der Moral und die derzeitigen Krisen der Religionen, https://bzw-weiterdenken.de/2010/12/die-sakularitat-der-moral-und-die-derzeitigen-krisen-der-religionen/
[2] Vgl. Simone de Beauvoir: Moralischer Idealismus und politischer Realismus, in: dies., Auge um Auge. Artikel zu Politik, Moral und Literatur, Reinbek 1987, 7-34.
[3] Unter dem Paradigma „Wirkungsethik“ lassen sich verschiedene ethische Konzepte versammeln, der Utilitarismus, der Konsequentialismus, die Vertragsethik ebenso wie die Diskursethik. Der Verbindungspunkt, der damit profiliert wird, ist die Bedeutung des Ethischen als die „Zeit“, sofern sie Entscheidungen von Menschen strukturiert.
[4] Diese Paradoxie frauenbewegt zu engagieren verdanke ich Luisa Muraros Buch „Der Gott der Frauen“, vgl. Andrea Günter: Märchenhafte Theologie. https://bzw-weiterdenken.de/2011/11/4164/
[5] Dieser Ethos als frauenbewegte Kraft wurde thematisiert in: Ulrike Wagener, Antje Schrupp, Dorothee Markert, Andrea Günter, Liebe zur Freiheit, Hunger nach Sinn. Flugschrift über Weiberwirtschaft und den Anfang der Politik, Rüsselsheim 1999; Maren Frank u.a.: Sinn – Grundlage von Politik, Rüsselsheim 2005.