Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
„Intersektionalität“ ist ein Paradigma, das seit einiger Zeit in den universitären „Gender-Studies“ diskutiert wird. Damit ist gemeint, dass sich verschiedene Diskriminierungsformen in einer konkreten Situation „kreuzen“ können (vom Englischen „intersection“ = Kreuzung) und dass es deshalb nicht ausreicht, sich bei der Analyse auf einen Aspekt, zum Beispiel Geschlecht, zu konzentrieren.
Im Januar war ich bei einem Vortrag von Ina Kerner von der Berliner Humboldt-Uni, die zu dem Thema forscht und publiziert, und die von einer Gruppe Philosophinnen im Rahmen einer Ringvorlesung nach Frankfurt eingeladen worden war. Ich hatte im Anschluss daran einige Gedanken, die mir aus differenzphilosophischer Perspektive zum Thema „Intersektionalität“ wichtig zu sein scheinen.
Während sich der Begriff „Intersektionalität“ in Deutschland vorwiegend auf den akademischen Kontext beschränkt – wo er laut Kerner in den Geisteswissenschaften derzeit im Begriff ist, Mainstream zu werden – sind seine Wurzeln eigentlich sehr konkret. Als erste hat das Wort die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw bereits in den 1980er Jahren benutzt, und zwar im Zusammenhang mit einer Entlassungswelle bei General Motors, von der besonders afroamerikanische Frauen betroffen waren. Da nämlich damals nach „Senioritätsprinzip“ vorgegangen wurde, also denjenigen gekündigt wurde, die als letztes eingestellt worden waren, waren Männer und weiße Frauen kaum betroffen, denn der Konzern hatte erst einige Jahre zuvor überhaupt begonnen, auch schwarze Frauen einzustellen.
Die entlassenen Mitarbeiterinnen wollten sich bei ihrer Klage auf das Antidiskriminierungsgesetz berufen, das eine Benachteiligung qua Geschlecht oder qua Hautfarbe verbietet. Allerdings – so wurde dann argumentiert – waren sie weder „als Frauen“ betroffen (da die weißen Frauen ja nicht entlassen wurden), noch „als Schwarze“ (da die schwarzen Männer ebenfalls nicht entlassen wurden). Das Problem war, dass sich beide Diskriminierungsstränge – die nach Geschlecht und die nach Hautfarbe – in der Person der entlassenen Mitarbeiterinnen „überkreuzten“, und dass sich dies im Rahmen der herkömmlichen Antidiskriminierungsgesetze nicht abbilden ließ.
Das Paradigma „Intersektionalität“ versucht also, auf ein altes Dilemma zu antworten, dass nämlich Differenzen in der bisherigen symbolischen Ordnung nicht einfach als Unterschiede angesehen werden, sondern sich immer auf einen Bezugspunkt richten, nämlich: Den „weißen Mann“. Ein sehr schönes Beispiel, wo mir das erstmals anschaulich wurde, ist die Eingangssequenz des Films „THX 1138“ von George Lukas. Es ist ein Science Fiction, der eine sterile, durchorganisierte Gesellschaft der Zukunft zeigt. Die Hauptpersonen sind: Ein junger weißer Mann, eine junge weiße Frau, ein junger schwarzer Mann und ein alter weißer Mann. In der Eingangssequenz werden die Köpfe dieser Personen abwechselnd ins Bild gerückt, optisch „vereinheitlicht“ zudem durch die gleiche weiße Kleidung.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, hier wäre eine Palette gesellschaftlicher Differenzen abgebildet: Geschlecht, Hautfarbe, Alter. In Wirklichkeit wird aber nur eine einzige „Version Mensch“ gezeigt, nämlich der junge weiße Mann, von dem es dann Varianten gibt: Er kann auch weiblich sein, er kann schwarz sein, er kann alt sein. Aber mehr als jeweils eine „Abweichung“ ist nicht vorgesehen.
Intersektionalität will nun dieses symbolische Problem aufgreifen, indem die Querverbindungen zwischen den verschiedenen Kategorien ins Blickfeld rücken, aber ich habe einige Zweifel daran, ob das wirklich gelingt. Denn ich glaube, es besteht zumindest die Gefahr, dass man sich auf diese Weise von der Norm (junger weißer Mann) nicht wirklich löst. Zwar kommen im Bild der Kreuzung tatsächlich nicht nur eine, sondern alle möglichen Arten von Differenz in allen denkbaren Kombinationen in den Blick. Allerdings steht genau an dem Fokussierungspunkt, der Kreuzung nämlich, doch wieder der Vergleich mit einer Norm im Zentrum.
Ich kann im Bild bleiben, um besser zu erklären, was ich meine: Da gibt es viele lange Straßen, die jeweils für eine bestimmte Differenz unter Menschen stehen – die Hautfarbe, das Geschlecht, das Alter, die soziale Schicht, die Herkunft, die sexuelle Orientierung, die Körpernormen und so weiter und so fort. Sie alle funktionieren nach einer jeweils eigentümlichen Dynamik und folgen unterschiedlichen Logiken. So ist zum Beispiel die Differenz nach Hautfarbe eine ganz willkürliche Unterscheidung und historisch allein aus dem Wunsch heraus entstanden, koloniale Herrschaftsansprüche durch „Naturalisierung“ der Ausgebeuteten zu legitimieren. Die Geschlechterdifferenz hingegen betrifft tatsächliche körperliche Unterschiede, sie fällt daher auch nicht notwendigerweise mit Hierarchie und Herrschaft zusammen.
Während Geschlecht und Hautfarbe normalerweise nicht gewechselt werden, ist das Alter eine Differenz, bei der jeder Mensch im Lauf des Lebens von der einen in die andere Kategorie überwechselt. Während die Zugehörigkeit zu diesen drei Kategorien wiederum nicht in der Verfügungsgewalt der Einzelnen steht, wird die Kategorie „Körpernormen“ im Diskurs stark mit persönlicher Verantwortung verknüpft: Dicke könnten doch abnehmen. Wieder anders verhält es sich mit der Kategorie „Klasse“: Hier geht es um Wirtschaftspolitik und materielle Verteilung von Gütern. Noch einmal anders verhält es sich mit Kategorien wie „sexuelle Orientierung“ oder „Ableism“ (wie im sozialwissenschaftlichen Diskurs heute Unterschiede in Bezug auf „gesund“ oder „behindert“ sein benannt werden): Hier besteht für die von Diskriminierung Betroffenen das Problem darin, dass sie im Vergleich zur überwiegenden Mehrheit der „Normalen“ nur eine recht kleine Gruppe darstellen und schon deshalb weniger Möglichkeiten haben, sich Gehör zu verschaffen.
Mir ist natürlich klar, dass diese Unterscheidungen nicht eindeutig und fest definierbar sind, aber mir scheinen sie nichtsdestotrotz wichtig zu sein, wenn man die jeweils spezifischen Dynamiken der jeweiligen Kategorie angemessen beschreiben und mitgestalten will. Zumal genau in der Bestimmung dieser Kategorien eine der großen Unklarheiten im Intersektionalitätsdiskurs liegen: Gibt es Hauptkategorien (die übliche Trias von „Rasse, Klasse, Geschlecht“), im Vergleich zu der andere Differenzen weniger wichtig sind? Oder ist es notwendig, sie zu ergänzen? Durch möglichst viele, um der Realität gerecht zu werden? Aber wird es dann nicht unübersichtlich oder gar beliebig?
Noch schwieriger ist, dass das Paradigma der Intersektionalität dazu tendiert, diese Dynamiken der jeweiligen Differenzkategorien zu vereinheitlichen, gerade weil ja die Aufmerksamkeit auf den Punkt ihrer „Überkreuzung“ gelegt wird. Oder anders gesagt: An diesen Differenzen interessiert nicht so sehr die Differenz als solche, sondern sie wird in Bezug auf ihr „Diskriminierungspotenzial“ mit anderen verglichen und damit auf die gemeinsamen Schnittpunkte reduziert.
Ich glaube deshalb nicht, dass man dem Dilemma der symbolischen Sich-Zur-Norm-Setzung des weißen, jungen, heterosexuellen, gesunden, dünnen undsoweiter Mannes auf diese Weise beikommt, sondern ich befürchte, dass sie damit eher bestätigt wird. Und zwar deshalb, weil – ganz wie im Vorspann des oben genannten Filmes – die jeweils Anderen nicht in ihrer Besonderheit gesehen werden, sondern nur als „Variante“ dieser hegemonialen Norm. Differenzen zwischen schwarzen und weißen Frauen zum Beispiel werden vor der Folie betrachtet, inwiefern die weißen Frauen Anteil haben an den Privilegien der weißen Männer.
Nicht, dass das prinzipiell falsch wäre. Es ist richtig und wichtig, die Privilegien weißer Frauen, reicher Schwarzer, gesunder Alter, weißer Schwuler und so weiter zu thematisieren, die sie genießen, weil sie an bestimmten Punkten an den Privilegien des Norm-Menschen teilhaben (sofern sie sich nämlich als eine seiner Varianten darstellen und entsprechend verhalten und „verkaufen“). Gerade für einen „revolutionären“ Feminismus, wenn man so will, ist das wichtig in einer Zeit, wo im Zuge von Emanzipations- und Gleichheitsidealen den (weißen, gesunden…) Frauen das Angebot, auf die „privilegierte“ Normseite überzuwechseln, offensiv gemacht wird.
Alles was ich sagen will ist, dass ihre Differenz in dieser „Ähnlichkeit“ mit der Norm nicht aufgeht. Weiße Frauen sind mehr als eine weibliche Variante des weißen Mannes (genau in dieser Erkenntnis liegt ja die große Errungenschaft des Feminismus). Schwule Männer sind mehr als eine Variante des heterosexuellen Mannes (hoffe ich doch). Reiche Schwarze sind mehr als eine Variante des reichen Weißen. Das Potential für eine wirkliche Veränderung der Verhältnisse liegt gerade darin, auf dieses „Mehr“ zu setzen.
Im Differenzfeminismus wurde das symbolische Problem, um das es hier geht, zumindest in Bezug auf die Kategorie Geschlecht, mit der Betonung der Differenz unter Frauen beantwortet. Die Unterschiede zwischen Frauen (und nicht der Vergleich mit den Männern) wurde hier ins Zentrum der politischen Praxis gerückt. Auf diese Weise ist es gelungen, die Geschlechterdifferenz aus ihrer Fixierung auf den männlichen Maßstab zu lösen, sie also nicht nur unter dem Aspekt ihrer Diskriminierungsgefahren zu sehen, sondern im Hinblick auf ihre Ressourcen. Diese Ressourcen liegen eben gerade darin, nicht nur Benachteiligungen zu bekämpfen, sondern die Idee einer „Norm-Menschlichkeit“ generell abzulehnen und eine alternative Kultur zu erproben und zu etablieren.
Und genau diese Praxis scheint mir essentiell zu sein, gerade auch wenn wir es mit weiteren „kategorialen“ Unterschieden zu tun haben. Denn es ist nicht so, dass die Straßen der potenziell unendlich vielen Differenzen, mit denen wir es im konkreten Leben zu tun haben, alle sternförmig auf eine „Intersektion“ zulaufen und sich jenseits wieder voneinander entfernen. Vielmehr verlaufen sie in Kurven und Windungen, kreuzen sich mal hier und mal da, laufen streckenweise parallel oder nehmen auch mal einen Umweg. Nur einige der Kreuzungen in diesem komplexen Netz haben mit Diskriminierung in Bezug auf „norm-menschliche“ Privilegien zu tun. Ohne diese zu vernachlässigen, sollten wir unsere (politische und analytische) Aufmerksamkeit auch auf jene anderen Kreuzungen richten, an denen – bereichert von den jeweiligen Differenzen – gemeinsam Feste gefeiert, Erkenntnisse gewonnen, Ideen entwickelt und Utopien entworfen werden.
Erst das Kumulieren von Diskriminierungsgründen überhaupt macht die Privilegierten undiskriminierten auf den Opfern mancher Diskriminierungen aufmerksam!
Wenn einer nur halbblind ist, sagte ein USamerikanischer Humorist Samy Davis Jr, dann ginge es ihm gut, aber wenn er halbblind und schwarz und jude ist (was er war)würde er richtig als handicaped wahrgenommen werden. Er wurde nach dieser Aussage als Rassist gebrandmarkt.
Die Intersektionalität verdeutlicht die Irrelevanz von Normen und legt gleichzeitig den Finger in die Wunde: Chancengleichheit ist schon schwer genug einzufordern, wenn die Ungleichheit ein einziges Kriterium erfüllt. Wer gegen mehreren “Unchancen” sein/ihr Recht einfordert hat es umso schwerer. Die Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft sollte daran gemessen werden, wie stark sie diese doppelt (und trippelt) Diskriminierten zu ihrem Recht verhilft. Im Falle der türkischen Mädchen, die schulisch besser als die Jungen abschneiden, scheint die deutsche Mehrheitsgesellschaft diese Leistung erbracht zu haben: sie überkompensieren ihre nachteilhafte Ursprungssituation. Dass es nur ein Schein ist zeigt die noch hohe Anzahl von Kinderheiraten und Zwangsverheiratungen, und das ungeheuer hohe Risiko für diese Mädchen, Opfer eines Ehrverbrechens zu werden. Auch die beste Schulbildung rettet sie nicht davor, und das deutsche Hilfssystem scheitert jämmerlich.
Ich kann wieder nur Kommentare abonnieren, indem ich selbst einen Kommentar schreibe, und muss versuchen, mir etwas Intelligentes auszudenken.
Intersektionalitätsdebatten habe ich leider zuerst von ihrer primitivsten Seite kennengelernt: Als “Oppression Olympics” Obgleich dieses Verhalten von den Meinungsführerinnen in den Diskussionen angeblich verachtet wurde, wenn jemand es aufbrachte, um ihnen zu widersprechen, wurde es doch allgemein akzeptiert, um die eigene Behauptung zu unterstreichen, wenn sie der vorherrschenden Meinung entsprach. Da ging es dann um Fragen wie die, ob eine heterosexuelle Frau privilegierter sei als ein schwuler Mann, oder eine Asian-Amerikanerin (weiß gar nicht, wie das auf deutsch richtig heißt), die zur Universität geht, privilegierter als eine weiße Frau aus der Arbeiterklasse. Klar war, dass Lesben stärker diskriminiert sind als heterosexuelle Frauen, aber es war nicht ganz klar, ob bisexuelle Frauen noch stärker diskriminert sind, weil sie ständig übersehen und nicht erwähnt werden. Wer die länger Liste von Diskriminierungen aufzuweisen hatte, hatte das Recht, anderen Menschen gegenüber belehrend aufzutreten, in Umkehrung der üblichen Privilegien.
Also möchte ich dir erst einmal danken, dass ich durch deinen Beitrag einen Hinweis auf eine Autorin gewonnen habe, die mir hoffentlich auf niveauvollere Weise erklärt, was Intersektionalität ist. Nach deiner Zusammenfassung fürchte ich aber doch, dass es um eine Rangordnung von Diskriminierungen geht.
Mir ist beim Nachdenken übrigens auch ein Beispiel eingefallen, bei dem es nicht so einfach ist, Diskriminierungen zu addieren: Frauen sind in Deutschland diskriminiert, Menschen türkischer Herkunft sind in Deutschland diskriminiert, also sind Frauen türkischer Herkunft in Deutschland doppelt diskrimiert: und dann stellt sich heraus, dass die Mädchen in der Schule besser abschneiden als ihre Brüder. (Allerdings sind Maskulinisten heutzutage ohnehin der Meinung, dass Jungen in der Schule diskriminiert werden, so dass dies ein Beispiel für die doppelte Diskriminierung türkischer Jungen wäre…)
Differenzen als Ressourcen betrachten und nicht nur schauen, wie viel Privilegien aus größerer Nähe zur männlichen weißen heterosexuellen etc. Norm erwachsen… Ich gehe davon aus, dass die Vertreterinnen des Intersektionalitätsansatzes dies als typische Ansicht einer privilegierten Person betrachten würden. Ich selbst habe dazu gerade keine Meinung – im Prinzip, weil ich privilegiert bin und mit einer eigenen Meinung vorsichtig sein möchte.