Forum für Philosophie und Politik
Von Brigitte Becker
Es ist ein besonderes, ein schönes und ein seltenes Buch. „Wir kommen nackt ins Licht, wir haben keine Wahl“, heißt es ein bisschen diktatorisch frech im Titel und meldet im Untertitel: „Das Gebären erzählen, das Geborenwerden. 150 Szenen aus der Schönen Literatur zwischen 1760 und 2011.“ Rainer Stöckli, bis 2008 Hauptlehrer für Deutsch und Altgriechisch in Heerbrugg im Appenzell an der Kantonsschule, Literaturhistoriker mit verschiedenen Schwerpunkten und Ina Praetorius, Germanistin und Theologin, freie Autorin und vielen als Vortragende zu Themen der Theologie und der Ethik bekannt, haben dieses Buch miteinander gemacht.
Am Anfang stand eine Begegnung zum richtigen Zeitpunkt. Rainer Stöckli, so kann man ahnen, wenn man ihm begegnet, ist geradezu ein manischer Textesammler. Seine Schätze stecken in großen Pappschachteln. Ina Praetorius war und ist der verschwundenen bzw. verschwiegenen Tatsache menschlichen Anfangs in der Welt auf der Spur. Sie fragt nach dem Geborenwerden und nach der Geburt. Von ihr erzählt die Literatur ganz ungeniert und erstaunlicherweise gab es auch dazu bereits Schachtelmaterial. Aus der Begegnung wurde ein Buch. Der Appenzeller Verlag hat es gewagt, dieses Projekt zu realisieren.
150 Texte über das Gebären und Geborensein wurden am Ende für die Anthologie zusammen gestellt, der erste von Sophie von La Roche aus dem Jahr 1766 der letzte von Leo Tuor aus dem Frühjahr 2011. Chronologisch nimmt uns die Sammlung mit bis in die allernächste Gegenwart, erzählt uns immer wieder neu und sehr verschieden vom Wunder und der Besonderheit menschlichen Anfangens. Dabei ist die „schöne Literatur“ sehr weit gefasst, wie im neunfachen Geleitwort von Rainer Stöckli zu Beginn des Buches zu lesen ist. Exzerpte aus kapitelfüllenden Schilderungen von Geburtsvorbereitungen oder – vorgängen stehen im reizvollen Kontrast zu kurzen lakonischen Meldungen, Stenogrammen und zu einer Lyrik, die manchmal bilanziert, manchmal tragisiert. Romane, Gedichtbände, Zeitschriften und Zeitungsbeilagen sind Fundorte für solche Texte. Echterweise Gesammeltes ist das, was das Buch enthält. Kleine Randbemerkungen sind den Ausschnitten voran gestellt. „Frauen müssen, um Mütter zu werden, gebären; Schriftsteller können ihre Figuren mit einem Federstrich oder einer Evokation <ins Leben rufen> oder <zum Leben berufen>: “Komm herein ins Leben, lieber Fidel!“ heißt es etwa zur Einleitung in den Text aus Jean Pauls „Leben Fidels“. Es ist ein Buch, in dem Texte geliebt werden, mit Augenzwinkern selbstverständlich. Ich verliere mich sofort beim Lesen, bin immer wieder überrascht, welches neue Fundstück auf der nächsten Seite wartet. Ziemlich blutig geht es oft zu, manchmal ist alles am Anfang eigentlich schon vorbei, manchmal drängt sich eine Geburt so in den Mittelpunkt, dass alles andere vergessen wird, manchmal bekommt sie nur zwei Zeilen. Es stimmt, Dichterinnen und Schriftsteller gehen uns voran, denn „unanständig zu sprechen scheuen sie sich nicht.“ (S.196). Mich macht es vergnügt, in diesem Buch zu lesen. So viel Sinnlichkeit steckt in der schönen Literatur. Das anonyme Wissen (Christina Schüess) davon, wo wir her kommen, wird mir in vielen Varianten eindrücklich lebendig gemacht. Vielleicht macht diese Sammlung den Skandal noch grösser, dass das Geborenwerden aus dem Denken verschwunden war und das Denken der „Kränkung“ ausweichen wollte, sich nicht selbst hergestellt zu haben, sondern von anderen abzustammen (so z.B. bei Kant, zitiert S. 202). Ina Praetorius nimmt uns im Mittelteil mit zu zahlreichen Schein-, Zweit- und Kopfgeburten, die dem Herkommen von Menschen und seiner Bedingtheit, die der empirischen Anthropologie ausweichen.
„Wir kommen durch einander. Eine Passage“ heißt ihr Text. Durch einander, von anderen her, in einer Genealogie, einer Abfolge will sie uns neu denken. Unser Geborensein erhalten wir geschenkt als Erzählung von denen, die vor uns da waren. Mit dem Herkommen ist bei ihr zum prinzipiellen Neuanfang mit jedem Menschen, wie ihn Hannah Arendt schon dachte, das Herkommen von der Mutter dazu gedacht. Beides ist ihr wichtig, damit die symbolische Ordnung sich ändert, damit die alten Dualismen von Materie und Geist, Geburt und Denken aufhören, weitererzählt zu werden. Kritischer, spöttischer Rück- und Umblick auf die Reste solchen Denkens wechseln in gut postpatriarchaler Manier mit Ausblicken zu neuen Ansätzen für Philosophie und einer Theologie von Weihnachten aus. Der Text hat mich überrascht. Im Stil eher essayistisch, im Gespräch mit Zitaten stöbert er tastend ein Denken auf, in dem das Geborensein aller in den Mittelpunkt rückt. Die Sprache noch mehr als die Argumente lassen mich ahnen, dass es ein neues Sprechen gibt, reden wir mal so richtig viel und gründlich vom Anfang.
Wo würde man ein solches Buch suchen, wollten wir es in der Buchhandlung kaufen? Im Moment fänden wir es wahrscheinlich bei den Weihnachtsbüchern. Oder läge es doch eher bei der Schwangerschaftsberatung, oder in der Lyrikecke? Ein Buch, das aus dem Rahmen fällt, ist es. Ich würde es Ihnen gerne empfehlen – jetzt zur Weihnachtszeit lässt es sich wunderbar verschenken. Ich hoffe und glaube, die Menschen werden auch danach noch immer darin lesen!
Wir kommen nackt ins Licht, wir haben keine Wahl. Das Gebären erzählen, das Geborenwerden. 150 Szenen aus der Schönen Literatur zwischen 1760 und 2011. Rainer Stöckli/Ina Praetorius, Appenzeller Verlag 2011, 44 Sfr., € 38,30