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“Lustvolle Pflichtlektüre”

Von Ina Praetorius

Christa Wichterich zieht eine kluge Bilanz der Globalisierung:

Gleich gleicher ungleichIn den vergangenen Jahren habe ich immer wieder behauptet, die Frauenbewegung sei äusserst erfolgreich gewesen: Wer hätte in den Neunziger Jahren zu prophezeien gewagt, dass Deutschland schon kurz nach der Jahrtausendwende von einer Kanzlerin regiert werden würde? Auch in der Schweiz haben wir seit einiger Zeit eine annähernd geschlechterparitätisch besetzte Regierung, die ausserdem dieses Jahr (2010) – wie auch beide Kammern des Parlaments – von einer Frau präsidiert wird. Mädchen bringen, sofern man ihnen gleiche Chancen einräumt, fast überall die besseren schulischen Leistungen, Frauen haben Gelegenheit, sich in Führungspositionen zu bewähren, während Männer je länger je mehr in ihrer Identität verunsichert sind und sich über die “Verweiblichung” ganzer Berufszweige beklagen.

Sind wir nicht total gut? Was wollen wir noch mehr?

Selbstverständlich muss ich mich immer wieder korrigieren lassen: Nach wie vor gibt es massive Lohndifferenzen; die Gewalt gegen Frauen nimmt eher zu als ab, wenn Männer nicht mehr wissen, wozu sie da sind. Was soll uns eine Kanzlerin, die die falsche Politik macht? Und hat die Wirtschaftskrise nicht dazu geführt, dass Frauen weltweit wieder vermehrt gratis leisten, was geschröpfte Sozialstaaten aus ihren Programmen streichen: Alten- und Krankenpflege, Erziehungsarbeit, Beziehungsreparaturen?

Ist all unser Erfolg Schein? Bin ich zu optimistisch?

Eine, die es wissen muss, weil sie seit Jahrzehnten weltweit in Sachen Geschlechtergerechtigkeit unterwegs ist, hat jetzt in Form eines handlichen Buches ein Analyseinstrument auf den Markt gebracht, das vieles auf den Punkt bringt, ohne das Durcheinander um die Geschlechter eindimensional aufzulösen. Schon im Untertitel des Buches “Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten in der Globalisierung” wird deutlich, worum es Christa Wichterich geht: weder um eine Erfolgsstory noch um ein Klagelied, sondern darum, anhand von Zahlen, Fakten, historischen Entwicklungslinien und persönlich-politischen Erfahrungen die Komplexität aufzuzeigen, die die Frauenbewegung, verstanden als ein Puzzle regionaler, international vernetzter, ideologisch unterschiedlich gelagerter Teilstrategien, inzwischen erreicht hat. Ohne Fortschritte zu leugnen, weist die weitgereiste Soziologin und Publizistin auf Widersprüche und Sackgassen hin, die entstehen, wenn Erfolgskriterien einseitig definiert, zum Beispiel auf bestimmte Regionen oder Schichten beschränkt oder an systemkonformen Emanzipationskonzepten orientiert sind.

So hat zum Beispiel die Erfolgsmeldung, dass in postindustriellen Gesellschaften immer mehr Frauen gutbezahlte Führungspositionen übernehmen, die Kehrseite des Care-Drain: in Westeuropa oder China versorgen zunehmend schlecht bezahlte Migrantinnen, häufig ohne legalen Aufenthaltsstatus, als Haushaltsangestellte die Kinder oder gebrechlichen Eltern der “Karrierefrauen”, während die Ehemänner sich weiterhin um Haus- und Beziehungsarbeit drücken.

Oder: Spätestens seit der UNO-Frauenkonferenz in Peking (1995) sind Frauen auf der Ebene von Global Governance zwar deutlich auf dem Vormarsch: Geschlechtergleichheit avancierte zum allgemein anerkannten Thema, Gender Mainstreaming setzte sich in zahlreichen Institutionen durch, unzählige Dokumente und Positionspapiere wurden formuliert und ratifiziert. So erfreulich solche Erfolge auf höchster Ebene sein mögen, die Nebeneffekte sind bedenklich: Da kodifizierte Rechte nicht automatisch reale Geschlechtergerechtigkeit nach sich ziehen, machte sich in den regionalen Umsetzungsprozessen bald “Gender-Müdigkeit” breit, es entstand eine Spaltung zwischen zivilgesellschaftlicher Basis und einem “Markt von Gender-Expertinnen, Frauen-NGOs und Gender-und-Diversity-Agenturen”. (52) Die neue Elite der “globalisierten Jet-Setterinnen” (53) aber läuft Gefahr, widerständige Systemkritik in neoliberaler Flexibilisierung aufzulösen.

Oder: Mikrokredite speziell für Frauen führen zwar durchaus zu einzelnen Erfolgsgeschichten weiblicher Unabhängigkeit, die sich medial grossartig präsentieren lassen. Etwa ein Drittel der Kreditnehmerinnen aber gerät in fatale Verschuldungsspiralen, Männer reagieren auf die neue Frauenrolle der Geldbeschafferin nicht selten mit Gewalt oder zunehmender Verantwortungslosigkeit, und die nationalen Regierungen werden durch die Ideologie der Eigeninitiative von ihren sozialpolitischen Aufgaben entlastet.

Sozusagen nebenbei hat Christa Wichterich in diesem scharfsinnigen und äusserst informativen Buch eine Geschichte der globalen Frauenbewegung seit den 1970er Jahren geschrieben, die sich stellenweise liest wie ein spannender Krimi. Die Auflösung des komplizierten Falls Feminismus ist ein Plädoyer für eine globale Frauenbewegung, die interne Differenzen und Zielkonflikte als Motivation begreift, Gemeinsamkeiten immer neu über Grenzen hinweg auszuhandeln im Sinne einer klugen Politik, die das gute Leben nicht länger auf eindimensionale Fortschritte reduziert.

Eine lustvolle Pflichtlektüre für Frauen und Männer, die akute Gefühle der Orientierungslosigkeit im globalen Durcheinander zum Anlass nehmen wollen, sich mit Anderen zusammenzusetzen, um die Schattenseiten der eigenen Strategie mit deren Augen zu sehen und so zu phantasievoll zukunftsträchtigen Politikansätzen zu finden!

Christa Wichterich: Gleich gleicher ungleich. Paradoxien und Perspektiven von Frauenrechten in der Globalisierung, Sulzbach/Taunus (Ulrike Helmer Verlag) 2009, 240 Seiten, EUR 19,90

Autorin: Ina Praetorius
Redakteurin: Antje Schrupp
Eingestellt am: 01.08.2010

Kommentare zu diesem Beitrag

  • Luise F. Pusch sagt:

    Danke!

    Genau was ich brauche; ich werde mir das Buch kaufen.
    Liebe Grüße an Ina Praetorius und Antje Schrupp!

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