Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
War es notwendig, dass Jesus hingerichtet wurde? Hat die Kreuzigung eine heilsgeschichtliche Bedeutung gehabt? Über diese auf den ersten Blick vielleicht ziemlich abstrakte und wenig alltagsrelevante Frage habe ich kürzlich in einer kleinen Gruppe mit drei anderen christlichen Theologinnen diskutiert.
Wir waren auf das Thema gekommen, als wir über einen Text sprachen, den eine der Teilnehmerinnen zum Thema “traumagerechte Theologie” geschrieben hatte. Sie setzt sich darin unter anderem mit der Frage auseinander, welche Wirkungen das Bild des unschuldig leidenden Jesus auf Menschen hat (oder haben kann), die sexuelle Gewalt erfahren haben. Immerhin wird hier ein erlittenes Unrecht positiv interpretiert. Jesus, so die verbreitete christliche Interpretation, sei “für die Sünden der Menschen gestorben”. Damit sei die Überwindung des Todes möglich geworden. Wird damit nicht die Vorstellung erzeugt, dass es notwendig sein kann, Opfer zu bringen? Was bedeutet das für Menschen, die selbst unschuldige Opfer von ungerechter Gewalt geworden sind?
Innerhalb der feministischen (christlichen) Theologie ist die Bedeutung des Kreuzes schon lange umstritten. Immer wieder haben Frauen ihr Unbehagen über die zentrale Rolle geäußert, die der Kreuzestod Jesu im Christentum hat: Soll wirklich Leid und Tod der Dreh- und Angelpunkt einer Religion sein? Ist es nicht besser, die positiven Seiten von Jesu Wirken ins Zentrum zu stellen, seine beispielhafte Zuwendung zu den Armen und Ausgestoßenen, seine Ethik?
Was die seelsorgerliche und praktische Seite des Themas betrifft, so waren wir vier in der kleinen Diskussionsgruppe uns einig: Christliche Theologie muss im konkreten Leben – also in Predigten, im Gespräch, beim Schreiben theologischer Texte – viel mehr als bisher die Möglichkeit einkalkulieren, dass das jeweilige Gegenüber vielleicht selbst Opfer (oder auch Täter oder Täterin ist) einer Gewalttat ist. Keinesfalls darf der Eindruck entstehen, dass eine “gute Christin” sich in ihr Schicksal ergibt, Autoritäten nicht in Frage stellen darf und ihrem Leiden irgendwie einen höheren Sinn abgewinnen soll. Und keinesfalls dürfen Täter und Täterinnen sich darauf herausreden, dass wir doch letztlich alle irgendwie “sündig” sind.
Uneinig waren wir uns aber über die Frage, ob dieses Problem lediglich eines der Umsetzung und des Feingefühls ist – oder ob es den Kern des christlichen Glaubens selbst betrifft, also die Frage nach dem, was genau damals passiert ist und wie wir das interpretieren.
Nach Ansicht von zwei der Mitdiskutantinnen kann Jesu Tod auch anders denn als Verherrlichung der Selbstaufopferung interpretiert werden: Insofern in Jesus (nach christlichem Verständnis) Gott selbst leidet, stellt er (sie) sich an die Seite der Menschen. Gott steigt gewissermaßen von seinem/ihrem Allmachtsthron herunter und erniedrigt sich. In keiner anderen Religion ist Gott so radikal als “Mitleidende/r” im wahrsten Sinne des Wortes gedacht. Tatsächlich hat dieses Gottesbild des unschuldig Leidenden ja zum Beispiel in der Befreiungstheologie viele Inspirationen und Impulse für eine Veränderung der Gesellschaft zum Besseren mit sich gebracht.
Ist der Kreuzestod Jesu damit aber tatsächlich eine heilsgeschichtliche “Wende” in der Beziehung zwischen Gott und den Menschen gewesen? Oder war Jesu Hinrichtung genau das, was auch jede andere Gewalt ist, die Menschen erlitten haben und heute noch erleiden, nämlich – sinnlos?
Ich würde das so sagen. Und ich glaube, dass damit nichts von der Erkenntnis, die für die Geschichte des Christentums mit der Kreuzigung verbunden ist, verloren gehen muss. Das heilsgeschichtlich bedeutsame “Ereignis”, wenn man so will, war meiner Ansicht nach nicht Jesu Hinrichtung. Die war nur eine von vielen sinnlosen Gewalttaten, wie es sie dauernd überall gibt. Man muss das nicht nachträglich mit Sinn ausstatten oder darin gar eine weltgeschichtliche Wendung im Verhältnis zwischen den Menschen und Gott machen.
Allerdings ereignete sich damals dennoch etwas, das von großer Bedeutung war: Und zwar in den Köpfen und in den Gesprächen der Menschen, die um Jesus trauerten, also in der frühen christlichen Gemeinde. Ihnen erschloss sich während sie über diesen sinnlosen und ungerechten Tod ihres Freundes und Weggefährten nachdachten, ein Aspekt Gottes, der bis dahin nicht sehr bekannt oder verbreitet gewesen war: Nämlich dass Gott nicht der große Zampano ist, für den viele ihn hielten, nicht der Allmächtige, der nach eigenem Gutdünken in die Welt eingreift und den einen hilft und die anderen bestraft. Sondern dass Gott sich angesichts des (sinnlosen) Leidens auf die Seite der Opfer stellt, dass er/sie mitleidet, sich nicht “herausmogelt”.
Und diese Erkenntnis war das eigentlich wichtige “Ereignis”: Menschen erkannten, dass Gott so schwach ist wie sie selbst – aber dass sich gerade dadurch eine Perspektive eröffnet, die über das Gegebene herausführt. Sich auf Gott zu beziehen bedeutet nicht, dass man hier einen starken Kämpen zur Seite hat, sondern gerade ganz andere Maßstäbe und Orientierungsmöglichkeiten. Solche nämlich, die die innerweltlichen Machtkämpfe zwischen den Menschen transzendieren: Das bedeutet es, dass der Tod nicht das letzte Wort hat.
Diese Wahrheit über Gott erkannten die frühen Christinnen und Christen in dieser historischen Situation, vor die sie gestellt waren. Das ist schon ein großartiges Ereignis gewesen, denn das ist ja nicht leicht zu erkennen. Die Versuchung ist groß, sich Gott als stark, heldenhaft, allmächtig (männlich) vorzustellen. Es ist verlockend zu glauben, dass man als frommer Mensch quasi auf der richtigen Seite ist, der Seite der Gewinner. Sogar im Christentum, obwohl es die Kreuzigung am Anfang hat, ist dieser Irrglaube immer wieder da gewesen. Wahrscheinlich braucht es für die meisten Menschen einen so herben Rückschlag, wie die Kreuzigung es für die Jesus-Anhängerinnen und -Anhänger war, um darauf zu kommen, dass Gott genau so gerade nicht ist.
Aber, und das ist der springende Punkt: Diese Wahrheit ist nicht exklusiv christlich. Es war nicht notwendig, dass Gott in Jesus “sterben musste”, wie es viele Christinnen und Christen glauben. Sondern es ist nur eben zufällig so gewesen, dass es in dieser Situation dann tatsächlich erkannt wurde. Die Kreuzigung hat den Erkenntnisprozess beflügelt. Aber man kann diese Wahrheit über Gott auch anders erkennen. Es gibt nicht einen “christlichen Gott”, der mitleidet, und einen anderen, meinetwegen “jüdischen” oder “muslimischen” Gott, der der große Allmächtige, der Richter und Rächer ist. Sondern Gott ist, wie sie ist, und kein Mensch und keine Religionsgemeinschaft kann für sich beanspruchen, Gott endgültig und definitiv zu kennen.
In den verschiedensten Lebenssituationen erleben wir Menschen etwas von “Gott”, und wir haben die Möglichkeit, diese Erkenntnisse mit anderen zu teilen. Die Situationen, in denen wir etwas über Gott erfahren, sind immer zufällig, kontingent. Es könnten genauso gut auch andere Situationen sein. Und im Falle der frühen Christinnen und Christen, war es eben diese Situation. Aber sie war nicht notwendig. Sie war trotz allem sinnlose Gewalt.
Möglicherweise hat die Erfahrung der Kreuzigung des von seinen Anhängerinnen und Anhängern als “Erlöser” geglaubten Jesus dazu geführt, dass in der christlichen Religion der mitleidende Aspekt, die Skepsis gegenüber Vorstellungen von Gott als eine Art Herrscher, der quasi “Machtpolitik” betreibt, ein größeres Gewicht hat als in anderen Religionen. Einige Hinweise darauf gibt es. Zum Beispiel ist die Trennung von Staat und Kirche, also von “religiösem” und “weltlichem” Bereich meiner Meinung nach nicht zufällig in den christlichen Ländern entstanden (ich halte, aber das wäre ein anderer Artikel, die Säkularisierung nicht für eine Gegenbewegung gegen das Christentum, sondern für eine Weltanschauung, die daraus hervorgegangen ist – im Guten wie im Schlechten).
Auch in der christlichen Mystik, vor allem in der weiblichen Mystik, ist dieser Aspekt stark – eindrücklich zum Beispiel beschrieben in einem Begriff, den Margarete Porete vor 700 Jahren von Gott geprägt hat: der Fern-Nahe. Die Nähe Gottes besteht darin, anwesend zu sein in jeder noch so beschissenen und ungerechten und unerträglichen Situation, die Menschen hier auf der Erde erleiden. Und die Ferne Gottes besteht darin, dass sie niemals innerhalb der irdischen Logik zu fassen ist, dass sie eine andere Realität eröffnet, andere Kriterien und Maßstäbe, eine andere Ordnung, die nicht begrenzt ist durch die innerweltlichen Gesetze, und dennoch real.
Die “Kontingenz Gottes” hat Luisa Muraro das genannt – eine Formel, die zum Ausdruck bringt, dass Gott nicht “existiert” im Sinne eines Etwas, das quasi als Objekt untersucht und bewiesen (oder widerlegt) werden kann, sondern dass Gott “ist”: anwesend in einer bestimmten Situation, nicht anwesend in anderen. Gott ist Platzhalterin für das Andere, ein Bezugspunkt, der den Horizont über das Gegebene, Bekannte, Beweisbare hinaus erweitert.
Bekanntlich teilt nicht die gesamte Christenheit diese Auffassung. Margarete Porete wurde für ihre angeblich “gotteslästerlichen” Thesen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Auch in der christlichen Geschichte war immer wieder die Meinung vorherrschend, dass “unser Gott” der bessere, richtigere ist. Und meiner Meinung nach steckt auch hinter der Behauptung, der “christliche Gott” sei irgendwie “wahrer” als zum Beispiel der muslimische oder der jüdische, noch ein Abglanz der Vorstellung von Gott als dem “großen Zampano”. Denn auch, wenn seine Großartigkeit gerade darin vermutet wird, dass er sich von seiner Allmacht letztlich durch die Menschwerdung und den Kreuzestod entledigt hätte, ist das nur eine durch die Hintertür wieder eingeführte Großartigkeit.
Außerdem: Diese Seite Gottes haben die Christinnen und Christen vielleicht besser erkannt als die Menschen in anderen Religionen, weil sie zufällig mit der Kreuzigung konfrontiert waren. Allerdings ist ebenso wahrscheinlich, dass andere Religionen auch ihrerseits bestimmte Seiten Gottes besonders gut kennen aufgrund ihrer jeweiligen zufälligen Erfahrungen. Wer Gott “liebt”, müsste eigentlich daran interessiert sein, was das eventuell ist.
Jedenfalls hat sich Gott nicht in dem Moment, als Jesus hingerichtet wurde, irgendwie verändert. Gott ist immer wie sie ist. Auch schon bevor Jesus hingerichtet wurde, war Gott Gott. Das Ereignis, das christlicherseits an Karfreitag und an Ostern gefeiert werden kann, ist deshalb nicht die Kreuzigung und die Auferstehung selbst – an der Kreuzigung gibt es nichts zu feiern, sie war vollkommen sinnlos, so sinnlos wie jedes unschuldige Leiden auf der Welt. Sie war nicht notwendig, damit wir Menschen etwas von der “Fern-Nähe” Gottes lernen – sie hat nur einigen von uns dabei etwas auf die Sprünge geholfen. Zu feiern ist nicht die Kreuzigung, sondern der Erkenntnisgewinn, den die frühen Christinnen und Christen daraus hatten.
Und deshalb finde ich auch nicht, dass die Frage von Kreuz und Auferstehung ein theologisches Hindernis im interreligiösen Dialog ist. Für mich als eine, die in einer christlichen Kultur aufgewachsen ist, ist das einfach das historische Geschehen, an dem sich bei uns viele Diskussionen über das Wesen Gottes entzündet haben. Aber ein Gespräch über dieses Wesen Gottes, darüber, was ihr Wille ist, wie wir Menschen mit ihr/ihm in Beziehung sind (und wie und wann nicht) – all das kann ich gut auch mit Leuten führen, für die der Tod von Jesus völlig irrelevant ist und nichts mit Gott zu tun hat. Sie haben ihr Wissen über Gott eben anderswo her – so what?
Ich habe überhaupt kein Interesse daran, Musliminnen oder Jüdinnen (oder auch Atheistinnen) davon zu überzeugen, dass Jesus Gott war und die Kreuzigung ein heilsgeschichtliches Ereignis. Sondern was mich interessiert ist, mich mit ihnen darüber auszutauschen, was Gott ist. Natürlich würde ich mich mit ihnen streiten, wenn sie Gott als großen Zampano darstellen – aber meiner Erfahrung nach tun das die wenigsten von ihnen.
Kein Mensch kann alle Erfahrungen der Welt gemacht haben. Unsere unterschiedlichen historischen, zufälligen Geschichten haben uns mit einem breiten Erfahrungsschatz ausgestattet, die Diskussion darüber hat uns klüger, wissender, erfahrener gemacht. Es ist sinnvoll, das mit anderen zu teilen, was jedes Kind schon weiß. Und warum sollte das, was für einzelne Menschen gilt, nicht auch für Kulturen und religiöse Traditionen gelten? Ich kann mir nicht vorstellen, dass es Gott gefällt, wenn wir uns darüber streiten, wer den besseren hat. Ich denke eher, es würde ihr gefallen, wenn wir unsere jeweiligen Bemühungen, ihrem Willen näher zu kommen, vereinen würden.
Hallo,
für mich ist Christi Leben und Verkündigung Basis meiner Erlösung.
Sein Tod ist Konsequenz aus seiner Lehre, die der herrschenden Priesterklasse nicht verständlich war, für sie war es Blasphemie. Aber dass dieser Opfertod Gott-gewollt sei, hat mich schon immer bedrückt. Nach dem Buch von Jörns (und einer Aussage von Herrn Schneider, der ja jetzt unser leitender Bischof ist, ist dieses Unbehagen nun weg. Und das obwohl mein Konfirmationsspruch 1. Kor. 1, Vers 18 ist..
1. Nach meinem persönlichen Empfinden …
war die Kreuzigung von Jesus notwendig!
Darüberhinaus gibt die Bibel uns noch einen zusätzlichen
Hinweis auf das flehende Gebet Jesu:
“Vater, wenn Du willst …
das der Kelch an mir vorübergehen, dann …” .
(DEMUT GEGENÜBER GOTT – IST SPÜRBAR!)
2. Auch, wenn ich es mir als “Mensch” …
anders wünsche,
so muß es doch AUS GOTTES SICHT (!) …
notwendig gewesen sein !
3. Persönlicher Hinweis:
Wäre Jesus in eine HEILE WELT hineingeboren worden,
dann wäre die Kreuzigung vielleicht nicht notwendig,
da ja schon alles HEIL ist; in dieser Welt.
4. Aber, das Gegenteil ist der Fall …
damals – wie heute!
5. Jesus hat alles erfahren …
jede Ausdrucksweise des Bösen.
Die 14 Kreuzes-Stationen zeigen es eindringlich!
6. Bemerkenswert ist aus meinem Empfinden,
das Jesus darunter nicht zerbrochen ist,
sondern das die Verbundenheit mit Gott …
der Glaube, die Liebe, die Hoffnung …
ihm Kraft gab!
7. Und vor allem, so eine Kraft,
das er am Kreuz noch sagen kann:
“Vater, vergib Ihnen, sie wissen nicht, was sie tun”!
8. DIESE KRAFT NENNT SICH LIEBE!
UND DIE ALLUMFASSENDE LIEBE EINES TIEFEN HERZENS …
IST STÄRKER ALS DER “KALTE UND BERECHNENDE TOD” !
9. Subjektiv empfunden = subjektiv geschrieben!
Das heißt mit Vorbehalt!
10. Die Beantwortung all unserer offenen Fragen …
KANN NUR GOTT – SELBST BEANTWORTEN!
11. UND SO IST ES GUT – MIT SOKRATES ZU SAGEN:
” ICH WEISS – DAS ICH NICHTS WEISS ” !
12. AUS DIESER – UNSERER “MENSCHEN-PERSPEKTIVE” …
IST ES IMMER GUT, WENN MAN DEM LESER …
EINEN ZUSÄTZLICHEN HINWEIS GIBT,
DER DARAUF HINWEIST, DAS ALLES NUR SUBJEKTIV
NIEMALS ABER OBJEKTIV SEIN KANN,
IM SINNE: “DER WEISHEIT – LETZTER SCHLUSS”!!!
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chiarajohanna
Ich finde das Gesagte recht schön und menschlich, aber in meinem Heidelberger Katechismus steht es anders. Soll ich nun meinem Konfirmandenunterricht glauben (oder gar der Glaubenskongregation in Rom, die es wohl noch erheblich enger sähe), oder doch einer bestimmten Theologin oder Theologie? Gibt’s da eigentlich Konflikte mit der offiziellen Kirche? Was am Glauben ist essentiell, was ist “offiziell”, was diskutabel? Fragen über Fragen…
Ecce homo
Als Gequälter und Gekreuzigter ist Jesus zutiefst Mensch gewesen. Christen sagen dazu, ist Gott zutiefst Mensch geworden.
Menschen brauchen nicht nur einen Gott, den sie loben und preisen könne, weil er “alles so herrlich regieret”, sondern auch einen, von dem sie wissen, dass er mit-leidet.
Ich gehe noch weiter: dass Jesus nicht nur gequält und gefoltert wurde, sondern auch die Gottverlassenheit des gequälten Menschen durchlitten hat.
“Ecce Homo” weist auf den gequälten Menschen und will ihm vor Gott und dem Menschen seine Würde geben.
Für mich hieß das immer: dass ich Gott nicht sehen kann ohne die Qualen des Menschen zu sehen.