Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Kürzlich diskutierte ich mit einem Freund über Mithu M. Sanyals Artikel über die “Pornofizierung der Gesellschaft” und den Kommentar, den LeV dazu geschrieben hat. Mithu schlägt vor, die Darstellung von Sexualität nicht als solche zu problematisieren, sondern sie an Begriffe wie “Wertschätzung” und “Liebe” zu koppeln. LeV hingegen findet diese Verknüpfung letztlich doppelmoralisch, denn sie glaubt, “dass der Wunsch, sich in welcher Form auch immer, mit Sexualität zu konfrontieren, natürlich ist und zum Menschsein dazugehört, und dieser Wunsch wird nicht dadurch unnatürlich, weil er frei und unabhängig von einem anderen menschlichen Wunsch, nämlich dem nach Nähe, Liebe und Wärme, existiert.”
Der Ausgangspunkt unseres Gesprächs war, dass wir zunächst Mithus Argumentation richtig fanden, dann aber gleichzeitig auch LeVs Beobachtung zustimmten. Lässt sich Sexualität auch unabhängig von Liebe positiv sehen?
Der Punkt, der sich herausschälte, war folgender: Das Problem, mit dem wir es angesichts des verkrampften Umgangs mit Sexualität in unserer Kultur zu tun haben, ist eigentlich nicht so sehr, dass der Sexualität die Liebe und Wertschätzung fehlt, sondern andersherum: dass den liebevollen und wertschätzenden Beziehungen jegliche körperliche Ausdrucksmöglichkeit fehlt.
Uns fiel nämlich auf, dass nicht nur Sexualität, sondern jede Art von körperlichem, liebevollem Kontakt zwischen Menschen in unserer Kultur stark tabuisiert ist, sobald sie außerhalb intimer Paarbeziehungen stattfindet. Niemand fasst sich an, niemand kuschelt miteinander, niemand hält sich im Arm, niemand streichelt sich gegenseitig – das alles ist nur unter expliziten Liebespaaren erlaubt. Was im Umkehrschluss heißt: Sobald es zu körperlicher Nähe kommt, steht die Frage nach einer Liebesbeziehung und damit nach expliziter Sexualität im Raum.
Sex im Sinne von Geilheit, Erregung und erotischer Lust ist nicht dasselbe wie körperliche Nähe und zärtlicher Hautkontakt. Trotzdem ist aber beides nicht eindeutig voneinander zu trennen, die Übergänge sind fließend. Ebensowenig ist Liebe, so wie wir sie unter Paaren als “normal” definieren, dasselbe wie freundschaftliche Nähe und Sich Mögen – und doch sind auch hier die Übergänge fließend, wie wohl alle aus Erfahrung wissen. Beides ist nicht dasselbe und doch kann sich immer und jederzeit das eine aus dem anderen ergeben: aus Freundinnen können Liebespaare werden (und andersherum), aus Kuscheln kann Sex werden (und andersherum).
Die Art und Weise, wie diese Übergänge gestaltet, erlebt, besprochen und dargestellt werden, – kurz: die Kulturtechniken, die eine Gesellschaft bereithält, damit Beziehungen gelingen – ist auf eine sehr schädliche Weise verkürzt: Paare müssen Sex haben oder sich fragen, was mit ihnen nicht “stimmt”, alle anderen dürfen nicht nur keinen Sex haben, sie dürfen sich nicht einmal zärtlich anfassen und berühren.
Die einzige Ausnahme, die uns einfiel, ist die Beziehung zwischen Müttern und Töchtern und zwischen Müttern und kleinen Söhnen: Hier ist Zärtlichkeit noch relativ tabulos erlaubt und kann auch öffentlich gezeigt werden. Mit Müttern und größeren Söhnen ist es schon schwierig, und erst recht zwischen Männern und Kindern, die sich praktisch sofort dem Verdacht der Pädophilie aussetzen.
Selbst bei guten Freunden und Freundinnen sind wir oft verkrampft, sobald es um einen körperlichen Kontakt geht, der über ein flüchtiges Küsschen zur Begrüßung hinausgeht. Sich gemeinsam auf ein Sofa kuscheln und einen Film schauen ist normalerweise nicht möglich. Auch nicht, gemeinsam in einem Bett zu übernachten, sich zu streicheln, Händchen zu halten, sich im Arm zu halten (von Extremsituationen wie großer Verzweiflung vielleicht abgesehen). Noch schlimmer ist es bei Bekannten: Sich bei einem Arbeitskollegen über die Schulter beugen, um auf seinen Bildschirm zu schauen, wird schnell zur heiklen Angelegenheit.
Vor allem Männern gegenüber ist jede Art von zärtlicher Berührung und körperlicher Nähe tabu – einem Mann, der nicht der Liebespartner ist, körperlich nahe zu kommen, das ist ein größerer Skandal als ihn zu schlagen oder zu prügeln. Unter Frauen ist es (noch?) ein wenig besser, aber auch nicht sehr.
Diese Kultur der Körperlosigkeit in Beziehungen läuft den menschlichen Bedürfnissen entgegen. Denn es ist kaum möglich, ohne körperliche Nähe, ohne Angefasst werden, Streicheln, Kuscheln, Umarmt werden, gut zu leben. Deshalb müssen wir alle so verzweifelt auf eine Zweierbeziehung hoffen. Deshalb ist die Einsamkeit alter Menschen so unerträglich. Wir stellten bei unserem Gespräch fest, dass das unsere größte Angst vor einem eventuellen Single-Dasein ist: auf die Möglichkeit körperlicher Nähe verzichten zu müssen. Nicht das Geld macht uns Sorgen, nicht das Ausgelastet sein, nicht das Eingebundensein in Freundschaften und ein soziales Netz, letztlich auch nicht der pure Sex – das alles ist auch außerhalb der klassischen Zweierbeziehung zu haben. Kuscheln, Küssen, Streicheln, sich Körperlich geborgen Fühlen aber nicht.
Eine Gesellschaft, die die menschliche Sehnsucht nach Körperkontakt so extrem einschränkt und mit Tabus gelegt, muss sich eigentlich nicht wundern, wenn sich destruktive und gewalttätige Formen von Sexualität entwickeln. Kinder und Jugendliche, die nirgendwo eine “normale” Kultur von Körperkontakt unter Erwachsenen vorgelebt bekommen, können natürlich auch kein Repertoire und keine Sprache finden, um sich gegen sexuelle Übergriffe zu wehren.
Um zur Ausgangsfrage zurückzukehren: Vielleicht hat Mithu M. Sanyal mit ihrem Vorschlag Recht, Sexualität mit Liebe und Wertschätzung zu verbinden – aber die Verbindung müsste genau anders herum gezogen werden: Der Anfang liegt nicht darin, dass wir Sex nur tolerieren, wenn er mit Wertschätzung und Liebe verbunden ist. Sondern der Anfang liegt dort, wo wir lernen und dafür kulturelle Formen finden, dass unsere Sympathie und Wertschätzung für andere Menschen (und eben nicht nur die große Liebe zu der oder dem EINEN) auch etwas mit Körperlichkeit und Zärtlichkeit zu tun haben kann.
Möglicherweise würden sich auf dem Hintergrund einer solchen Normalität zusätzlich auch Formen von Sexualität entwickeln, die ohne eine persönliche Beziehung auskommen, von denen LeV schreibt. Doch der Wunsch danach – das ist jedenfalls meine Vermutung – wird bei den meisten Menschen wahrscheinlich nicht sehr groß sein. Denn sie hätten ja eine breite Palette von Möglichkeiten, ihre Zuneigung, Verbundenheit, Freundschaft und Sympathie zu anderen Menschen körperlich ausleben zu können.
Zu dieser Diskussion kann ich folgendes ergänzen:
Gefangen im eigenen Körper sind unsere Gefühle und unser Verlangen nur allzu oft. Sie drängen nach außen, doch die Schleuse im Kopf öffnet sich nicht. Und dafür gibt es viele Gründe: Erziehungsfehler, Zwänge, Scham, Angst vor Ablehnung, schlechtes Gewissen, etc.
Ich wünsche mir in dieser Angelegenheit sehr viel mehr Unbefangenheit und Mut, meine Gefühle für andere und das was ich über sie denke, ihnen gegenüber frei aussprechen zu können. Doch es ist (leider) nicht möglich. Gründe s. oben.
Könnten Gefühle und der Ausdruck von Lust offen ausgedrückt werden, ich könnte mir nicht vorstellen wie ein einigermaßen sortiertes Zusammenleben dann noch möglich wäre. Wünschenswert ist diese Offenheit allemal.
” Sondern der Anfang liegt dort, wo wir lernen und dafür kulturelle Formen finden, dass unsere Sympathie und Wertschätzung für andere Menschen (und eben nicht nur die große Liebe zu der oder dem EINEN) auch etwas mit Körperlichkeit und Zärtlichkeit zu tun haben kann.”
Oja, vielen Dank dafür, sehr gut beschrieben.
Auch ich möchte Menschen umarmen etc. können ohne dass da gleich ein sexueller Kontext unterstellt würde.
Da geht m.E. ein ganz wichtiger Teil Mit-Menschlichkeit verloren – einer Mehrheit der Menschen wäre dies wohl auch vollkommen unverständlich.
Und so kann frau sich zumindest einmal monatlich von der Kosmetikerin im Gesicht massieren lassen und/oder sich eine entspannende Körpermassage gönnen.
Das sind dann für mich Solo-Frau die einzigen menschlichen Berührungen, die ich (gesellschaftlich akzeptiert) erleben darf.
ich lebe seit fünf jahren als unfreiwilliger single, bin allgemein introvertiert, leide seit mehreren jahren unter sozialer phobie und meine engeren freunde, die fast alle in einer festen beziehung sind, fühlen sich entweder unwohl bei dem gedanken körperlichen kontakt mit mir zu haben, der über eine flüchtige umarmung hinausgeht (eifersucht der parterninnen), oder interpretieren viel zu viel in so eine annährung hinein, so dass es mir wiederum unangenehm wird. und wenn es nicht die eifersüchtigen freundinnen sind, oder ihr eigener wunsch nach mehr, dann ist es, wie ihr hier schon geschrieben habt, die unbeholfenheit, weil man es eben gar nicht anders kennt. kann jedenfalls nur bestätigen, dass es kaum möglich ist ohne körperliche nähe gut zu leben. gibt es für die art vernachlässigung bereits ein wort? oder spricht man auch hier von hospitalismus? ich weiß es nicht, aber ich bin froh, dass dieses thema hier aufgegriffen wird.
An Johannes und Lisa : leider stoße ich erst jetzt auf eure Beiträge. Vielleicht könnt ihr mir weiterhelfen. Ich suche eine Gruppe oder Therapie bei der Streicheleinheiten ausgetauschr werden, weil dies im Leben viel, viel zu kurz kommt. Gibt es Gruppen, Therapien, freie Treffen oder ähnliches zum Austausch von Streicheleinheiten ?
@claudia und alle: Kuschelparties sind inzwischen weit verbreitet, in Deutschland und anderswo, eine Liste gibt es hier http://www.alle-kuschelpartys.de/
Bestätigt auf jeden Fall das, was Antje schreibt. :)
Sun Cellular
Und wie steht’s mit der Treue?
Toll geschrieben und absolut nachvollziehbar. Nur mußt Du meiner Meinung nach dabei (oder in einem weiteren Artikel) auch auf das weitverbreitete Konzept der “Treue” zu sprechen kommen. Das läßt sich nicht einfach abhaken, indem man es für überholt erklärt. Schließlich stellen sich wohl die meisten Menschen die Frage, welche Auswirkungen es auf ihre Beziehung hat, wenn der Partner (m/w) auch Zärtlichkeiten mit anderen Menschen außerhalb der Beziehung austauscht. Und wer kann schon von sich behaupten, dann völlig frei von Eifersucht zu sein?