Forum für Philosophie und Politik
In ihrem Buch “McSex. Die Pornofizierung unserer Gesellschaft” analysiert die niederländische Musikjournalistin Myrthe Hilkens, wie Sex immer mehr zum medial inszenierten Konsumartikel geworden ist. Mithu M. Sanyal hat für die deutsche Übersetzung das Vorwort geschrieben und fordert nicht weniger öffentliche Darstellungen von Sex, sondern vielmehr einen liebevollen Umgang mit Sexualität in Medien, Kunst und Erziehung. Wir danken dem Orlanda-Frauenverlag für die Erlaubnis, den Text hier zu veröffentlichen.
Vor kurzem wurde ich von dem alternativen Porno Festival “rated x” in Amsterdam eingeladen, an einem Panel zum Thema “sexual politics for dummies” teilzunehmen. Als ich die Return-Taste an meinem Computer drückte, um meine Zusage loszuschicken, fiel mir auf, dass ich noch nie in meinem Leben einen Porno geguckt und auch nur eine sehr rudimentäre Vorstellung davon hatte, wie ich das nachholen sollte. Obwohl ich nur wenige Jahre älter bin als Myrthe Hilkens, gehöre ich zu der Generation, bei der der Geschlechterunterschied sich noch ziemlich erfolgreich daran festmachen ließ, ob Mann oder Frau Umgang mit Pornos hatte oder eben nicht.
Seitdem hat sich die Welt verändert.
Um Pornos zu sehen, muss man es nicht mehr schaffen, die Tür zu einem Sexshop und damit zu einer Parallelwelt aufzustemmen, sondern einfach nur “Sex” in die Suchmaschine seiner Wahl eingeben und kann – wenn man von dem Wikipediaeintrag und dem Artikel über die geheimnisvollen Rädertierchen, die nie Sex haben, absieht – immer noch zwischen 500 Millionen Treffern auswählen. Doch auch außerhalb des weltweiten Internetzes werden wir mit sexualisierten Bildern überschüttet. So wirbt eine bekannte Hustenbonbonfirma mit einer nackten Frau und dem Slogan “Jetzt wird’s feucht im Mund”, das “Deutsch Magazine” macht mit einer Kampagne auf sich aufmerksam, bei der eine blonde Frau mit einem Schäferhund ein … Schäferstündchen hat, und … na, ist ja klar, worauf ich hinaus möchte.
Zwar sind das keine völlig neuen Phänomene. “Sex sells” wurde vom “Playboy” als Werbeslogan in den 1950er Jahren geprägt und war eine schicke Alliteration für das, was schon immer praktiziert wurde. Allerdings ist die schiere Masse von Bildern neu: ein bisher unbekanntes Ausmaß ein nackten Leibern, die förmlich nach einem adäquaten Umgang schreien. Sex ist allgegenwärtig.
Gleichzeitig ist Sex jedoch ganz und gar nicht allgegenwärtig. Als mein sechsjähriger Sohn gerade das wunderbare Kinderbuch “Mutter sag, wer macht die Kinder” von Janosch durchgelesen hatte und sich erkundige, ob er auch mal echte – sprich fotografierte – Bilder von Menschen sehen dürfte, die Liebe machen, konnte ich nur “Öhhh” antworten. Weil ich das eine gerechtfertigte Frage fand, aber gleichzeitig Angst hatte, dass, sobald er das in der Schule erzählen würde, das Jugendamt bei mir auf der Matte stehen würde. Und so verweigerte ich es, ihm Abbildungen davon zu zeigen, was er früher oder später – und so wie die mediale Entwicklung ist, eher früher – sowieso bei seinen Freunden sehen wird. Dann allerdings in einem wahrscheinlich deutlich weniger geschützten und respektvollen Rahmen.
Und genau bei diesem Missverhältnis setzt Myrthe Hilkens an. Im gesamten westeuropäischen Raum gibt es keine Autorin, die derartig umfassendes Studienmaterial zu der, wie sie es nennt, gesellschaftlichen Pornofizierung zusammenstellt. Mit Pornofizierung meint Myrthe Hilkens das Phänomen, dass wir mit immer mehr und immer expliziteren Bildern und Inhalten konfrontiert werden – egal ob wir das Radio anschalten und einen Hip Hop Song hören oder Fernsehserien schauen, in denen jungen Frauen gegeneinander konkurrieren, um einen Modellvertrag zu bekommen. Doch erhalten wir dabei eben keine Botschaften über die lebensbejahende, kreative Kraft von Sexualität, sondern werden mit Normen und Beurteilungen überschüttet, die uns mehr und mehr von unseren realen Körpern entfernen, anstatt ein Gefühl von Stolz und … ja Lust zu erzeugen.
Wie Michel Foucault bereits in den 1970er Jahren treffend analysierte, sind wir keineswegs die sexuell unterdrückten Viktorianer, als die wir uns gerne sehen, die sich durch das Sprechen über Sexualität befreien müssen, sondern in einem System befangen, in dem pausenlos über Sex geredet und eben dadurch häufig sexuelle und anderweitige Befreiung verhindert wird. Mit der Expansion des Internets, der Vervielfältigung von Fernseh- und Radiosendern und den Entwicklungen auf dem Musikmarkt, hat sich dieser Prozess so sehr beschleunigt, dass er uns überholt hat. Nun bin ich zwar in der beneidenswerten Lage, dass ich mir normalerweise aus der Flut der Informationen diejenigen auswählen kann, die für meine Sicht der Welt den meisten Sinn machen. Doch was hätte ich während meiner Schulzeit für eine sexuelle Aufklärung gegeben jenseits dessen, was männliche und weibliche DNA so miteinander treiben. Und damit meine ich nicht Stellungen und Praktiken, sondern schlicht Informationen darüber, wie Mädchen und Jungen miteinander wie Menschen umgehen. Es ist ja nicht so, dass die Botschaften, die ich als Kind und Jugendliche über Sexualität bekam, wertschätzender gewesen wären als die, die meine Kinder heute bekommen, sie waren nur vager. So beschimpften wir uns auf dem Schulhof nicht als Bitches, sondern als Flittchen, und betrachteten die Vertreter des anderen Geschlechts als eine andere Spezies, mit der man zwar kopulieren aber nicht kommunizieren konnte.
Weil dieses Alter eine Zeit ist, in der wir nicht nur verzweifelt nach Bildern und Rollenmodellen auf allen möglichen Gebieten, vor allem aber auf dem der Sexualität, suchen und dabei experimentierfreudiger, offener und verletzlicher sind als wahrscheinlich jemals zuvor und danach, legt Hilkens einen Schwerpunkt auf die Situation von Jugendlichen heute. Hilkens Buch ist deswegen umso prägnanter, als sie selbst aus der Urban Szene kommt – so war für sie Hip Hop immer gleichbedeutend mit Revolution und eben nicht mit Sexismus – was sie in die Position versetzt, Jugendkultur von innen zu kritisieren.
Denn das Problem ist ja nicht, dass Sex gezeigt wird, sondern wie Sex gezeigt wird. Wenn ich eine Frau unterwerfen will, kann ich das auch voll angezogen tun, wie unzählige 50er Jahre Werbespots beweisen. Deshalb ist mein persönliches Zauberwort Wertschätzung. Mit Wertschätzung ist es egal, ob ich jemandem im Skianzug oder nackt abbilde – oder mit einem Kleid aus Bananen, wenn die Person das so wollen sollte. Denn Wertschätzung setzt stets voraus, dass ich mein Gegenüber als Person wahrnehme. In der mittelalterlichen Philosophie war die Definition einer Person jemand, der oder die eine “unsterbliche Seele” besitzt. Oder simpler: Als ich ein Kind war, dachte ich immer, dass Liebe die Lösung für alles sei. Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich davon, Liebe tatsächlich die Lösung ist – oder zumindest ein guter Teil davon – und damit meine ich nicht die romantische Liebe zu dem Typen auf dem Pferd, sondern die Liebe von Eltern zu Kindern, von Freundinnen und Freunden, von Menschen zu ihren Partnern jeglichen Geschlechts. Deshalb fordert die afroamerikanische Philosophin bell hooks Forschung, Information und Erziehung zur Liebe, die sie als den Wunsch definiert, zusammen mit den Menschen, die wir lieben zu wachsen. Und deshalb fordere ich zusammen mit Myrthe Hilkens einen solcherart liebvollen Umgang mit Sexualität in Medien, Kunst und Erziehung.
Myrthe Hilkens: McSex. Die Pornofizierung unserer Gesellschaft. Orlanda Frauenverlag, Berlin 2010, 207 Seiten, 18 Euro.
“Je älter ich werde, desto überzeugter bin ich davon, dass Liebe tatsächlich die Lösung ist” – das ist ein Satz, den ich über dem Bett aufhängen möchte, über dem Schreibtisch, in der Küche und in der Stube, so schön und wichtig ist er. Danke!
@ Astrid Wehmeyer: Aha!
@ phemios: D´accord!
@ LeV: Ihren Beitrag halte ich für überwiegend sehr gelungen. Es gibt darin kaum etwas, was ich nicht ähnlich empfinde – bis auf insbesondere Ihren letzten Absatz. Da schlußfolgern Sie sich in einen Widerspruch zu Myrthe Hilkens und Mithu Sanyal, der m.E. so nicht besteht. Wenn z.B. Sanyal die Autorin Hilkens darin bestätigt, dass wir mit pornofizierten Normen überschüttet werden, die uns daran hindern, mit Sex Gefühle von Stolz und Lust (!) zu verbinden – dann möchte ich doch sehr bestimmt ausschließen, dass sie das im Sinne einer klerikal-bürgerlich-doppelbödigen Zwangskoppelung von sexueller Lust an romantische Liebe und/oder der Zeugung von Nachwuchs verstanden wissen will.
Andererseits habe ich ihr Unbehagen bei dem Titel des Buches anfänglich geteilt. Doch schon nach einigen Seiten war klar, dass Myrthe Hilkens gerade nicht einer katholischen Sexualmoral das Wort redet, sondern eher letztere daran nicht unbeteiligt sieht, dass Sex in der öffentlichen Wahrnehmung noch immer bzw. dank Internet-Pornos schon wieder in einen “heiligen” und einen “schmutzigen” Teil zerfällt.
Wenn nun beide der Auffassung sind – der ich mich neben anderen postings hier ausdrücklich anschließe -, dass dieser Widerspruch mit Liebe geheilt werden sollte, dann meinen beide damit in erster Linie eine wertschätzende und im Kern respektvolle Haltung der (Sex-) Partner zueinander – was ja die ganze Skala sexueller Möglichkeiten keineswegs ausschließt, sondern eher für diese erst eine Voraussetzung schafft und damit moralisch vertretbar macht.
Darin einen “moral-kritischen Schnellschuß” zu sehen, kann ich nicht nachvollziehen, so sehr ich Ihren Beitrag im übrigen schätze.
Als “Schnellschuß” empfinde ich da eher den Beitrag von Astrid Wehmeyer aus der feministischen Ecke, deren auf mich schon beinahe zwangsneurotisch anmutende Themen-Einengung auf “patriarchalische Unterdrückungsmechanismen” dem konstruktiven Umgang der Geschlechter miteinander im Allgemeinen und auf der sexuellen Ebene im Besonderen eher abträglich als förderlich ist. Ich vermute stark, auch da würden Myrthe Hilkens und Mithu M. Sanyal nicht widersprechen.
Pornofizierung
Ein hochinteressantes Thema, welches mich schon seit einer ganzen Weile beschäftigt.
Ich kann mich noch erinnern, wie ich mein erstes Penthouse-Heft in einem Kiosk im Nachbarort erstand, wo man mich nicht kannte. Durch das Internet hat sich die Verfügbarkeit von Pornographie grundlegend verändert, so daß es selbst für Kinder heutzutage kein Problem ist, Videos zu sexuellen Praktiken zu entdecken, von denen mein Großvater zeit seines Lebens vermutlich nicht einmal erfahren hatte.
Ich will diese Entwicklung nicht werten, finde es aber sehr wichtig, daß besonders Eltern und Lehrer – die noch anders aufgewachsen sind! – die Folgen bedenken. Wie wirken sich diese Medien auf die Entwicklung der Sexualität von Kindern und Jugendlichen aus? Welchen Einfluß haben sie auf (zukünftige) Partnerschaften? Und nicht zuletzt natürlich die Frage nach dem Verhältnis zwischen den Geschlechtern.
Wichtig finde ich, den Kindern und Jugendlichen eine Medienkompetenz zu vermitteln, die in diesem Fall vor allem darin besteht, zu erkennen, daß Pornographie so gut wie gar nichts mit der Alltagsrealität zu tun hat. Dazu müssen Erwachsene jedoch lernen, mit den Kindern angemessen über Pornographie zu reden. Das ist gar nicht so einfach, denn obwohl ich natürlich weiß, daß ein Porno ungefähr so realitätsnah ist wie ein Harry-Potter-Film, zeigt dieser dennoch (die beabsichtigte) Wirkung bei mir, weil er sozusagen “Urinstinkte” anspricht.
Ich habe vor, genau hierzu eine Art Workshop für Eltern und Lehrer anzubieten. Denn um den Kindern und Jugendlichen Medienkompetenz vermitteln zu können, müssen die Erwachsenen diese zuerst einmal selbst erwerben.