Forum für Philosophie und Politik
Von Juliane Brumberg
Ganz neu auf dem Markt ist die Biografie der 2001 verstorbenen Münchner Feministin Erika Wisselinck. Die Autorin Gabriele Meixner gibt an ihrem Beispiel gekonnt und spannend Einblicke in die Geschichte der Frauenemanzipation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert.
Gerade war’s noch unsere Gegenwart – und jetzt ist es schon Geschichte. Gabriele Meixners Biografie von Erika Wisselinck beschert uns etliche Aha-Erlebnisse, weckt Erinnerungen, die wir lange vergessen hatten und ermöglicht einen gut strukturierten Blick auf die Vitalität der zweiten deutschen Frauenbewegung. Bücher dieser Art – wobei ich das Vorliegende als besonders gelungen erachte – wünsche ich mir noch viel mehr: zur Wertschätzung der Protagonistinnen und als historischen Exkurs für die nächste Generation.
Erika Wisselinck war nicht nur eine der Anführerinnen des Aufbruchs der Frauen in den siebziger Jahren, z.B. mit ihren Volkshochschulkursen zum Feminismus und zur Hexenverfolgung – die Münchnerinnen standen Schlange, um einen Platz darin zu ergattern -, sie war auch eine der Vordenkerinnen und “Mütter” der neuen Frauenbewegung. Am spannendsten ist der Aspekt, dass die 1926 geborene Publizistin genau in jener Zeit, in der es noch keine Frauenbewegung gab, eine von den Akademien und Verlagen umworbene Autorin war, die wohlwollend von Männern gefördert wurde. Gegenwind, und davon nicht zu wenig, bekam sie erst, als die Frauen sich formierten und wirklich daran gingen, die Gesellschaft zu verändern.
Das alles und viel mehr erfahren wir in der sehr gründlich recherchierten und unprätentiös geschriebenen Biografie von Gabriele Meixner: Wie Erika Wisselinck als Vatertochter heranwuchs und unter der geistigen Ödnis des Nationalsozialismus litt; wie sie später als Journalistin die nationalsozialistischen Verbrechen beim Namen nannte; wie sie Artikel mit provozierenden Themen unter Pseudonym schrieb, weil “ein Beitrag von Brisanz nur ernst genommen wird, wenn er von einem – vorgeblich – männlichen Autor stammt”; wie sie schon 1963 unter dem Motto “Die alte Jungfer ist ausgestorben” auf eine Lebensform hinwies, die erst Jahrzehnte später allgemein anerkannt werden sollte; wie sie im “Notizbuch” des Bayerischen Rundfunks Hörfunkgeschichte schrieb und 1972 im Landkreis München für die SPD als Landrätin kandidierte; wie sie ein – für sie frustrierendes – Gastspiel bei der “Emma” gab; wie nach äußerst erfolgreichen Frauentagungen ihr Vertrag an der Evangelischen Akademie in Tutzing nicht verlängert wurde; wie sie die Feministische Theologie entdeckte, Bücher von Mary Daly übersetzte und vor mehr als 20 Jahren zu den Gründerinnen von “Frauenstudien München e.V.” gehörte; wie sie schließlich in der autonomen Frauenbewegung ihre Heimat fand und sich in ihrer letzten Lebensphase, obwohl früher durchaus für Männerbeziehungen aufgeschlossen, eine “nicht praktizierende Lesbe” nannte.
Das Motto dieses Forums hätte perfekt zu Erika Wisselinck gepasst. In der Biografie wird nachvollzogen, wie sie in Beziehung ging und wie sie weiterdachte. Wie reizvoll wäre es gewesen, sie als Autorin für bzw-weiterdenken zu gewinnen!
Wie würde sie heute den Gegenwind erklären, der ihr ab den achtziger Jahren entgegen blies? Welche Strategie würde sie empfehlen, wenn das, was Frauen Neues denken und schreiben, totgeschwiegen wird und unsichtbar bleibt, gerade deshalb, weil viele es wünschen und weil es ein Veränderungspotential enthält? Stimmt es eigentlich, dieses schöne Lied der Aufbruchzeit: “Wenn eine allein träumt, dann ist es nur ein Traum, aber wenn viele gemeinsam träumen, ist es der Beginn einer neuen Wirklichkeit. Träumt unsern Traum.” (das sich im Internet übrigens nur in der männlichen Form ergoogleln lässt)? Das ist es, was mich so nachdenklich macht, wenn ich heute über Erika Wisselincks Leben lese.
Damals hatte sie ihre eigene Antwort darauf. Der Widerstand trieb sie weiter voran, ließ sie zu weiteren Ufern aufbrechen im Zusammenhang mit den gewaltigen neuen Horizonten, die ihr Mary Daly eröffnete, “als sei ein eisiger Wind durch ihr Hirn gefegt”.
Zufall oder nicht – die Biografie erschien im Januar wenige Tage nach dem Tod der großen amerikanischen Feministin Mary Daly. Erika Wisselinck hatte in den frühen achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts durch ihre kongeniale Übersetzung der für unübersetzbar gehaltenen Wort- und Sprachspiele Dalys wesentlich dazu beigetragen, das Bewusstsein vom patriarchalen Gebrauch der Sprache in Deutschland zu schärfen und überraschte die Leserinnen mit ihren Wortschöpfungen.
Eine schriftstellerische Herausforderung ganz anderer Art hatte die Biografin Gabriele Meixner zu bestehen – und dies ist ihr mehr als geglückt. Sie ist selbst eine – zwanzig Jahre jüngere – Protagonistin der Neuen Frauenbewegung, hat über “Frauenpaare in kulturgeschichtlichen Zeugnissen” geforscht und dazu eine Ausstellung konzipiert und ein Buch geschrieben. Bekannt ist sie auch durch ihre Biografie über die Urgeschichtsforscherin Marie König. Nun führt sie uns mitreißend durch das nicht unbedingt gradlinige Leben von Erika Wisselinck und erklärt mit Leichtigkeit die zeithistorischen Hintergründe. Dafür hat sie über Jahre den umfangreichen Nachlass durchgearbeitet, Tagebuchaufzeichnungen, alte Briefe und unzählige Artikel gelesen sowie mit mehr als 80 Personen Interviews geführt. Mit einer gewissen Wehmut erinnern wir uns: Was gab es für Perspektiven! Und was gab es für Rückschläge! Wie geschickt hat Erika Wisselinck trotzdem Lücken genutzt und Strategien entwickelt, immer nach dem Motto ihres einflussreichen Buches “Frauen denken anders”.
Gabriele Meixner, “Wir dachten alles neu”, Die Feministin Erika Wisselinck und ihre Zeit, Rüsselsheim 2010, 330 Seiten, € 19,80.