Forum für Philosophie und Politik
Am 29.10.2009 sprach Claudia von Werlhof, Lehrstuhlinhaberin am Institut für Politikwissenschaft in Innsbruck, zu den Studierenden, die das Audimax besetzt hatten. Hier ist der erste Teil ihres Vortrags.
Vor zwei Tagen war ich bei Euch, nachdem Ihr das Sowimax (in Deutschland heißt es “Audimax”, d. Red.) besetzt hattet und konnte nur sagen: “Endlich!” Endlich erlebe ich in Österreich noch eine Studentenbewegung, bevor ich die Universität verlasse.
Inzwischen sehe ich, dass Ihr ja schon einige Erfahrungen mit der Selbstorganisation auf basisdemokratischer Grundlage gemacht habt. Ihr werdet diese Erfahrung auf jeden Fall auch später noch brauchen!
Ich möchte heute vier Themen ansprechen:
Nachdem ich während meines Lebens selbst an einer ganzen Reihe von sozialen Bewegungen teilgenommen habe, kann ich eine Definition wagen, die aus vier Thesen besteht:
In ihrer Tiefe ist eine soziale Bewegung letztlich eine leidenschaftliche Liebeserklärung an
An diesen 3 mangelt es heute ganz offensichtlich:
Dieser Zustand passt offensichtlich nicht zum Mensch-Sein und zu anderen menschlichen Traditionen, die nun wieder auftauchen: als Erinnerung, als Möglichkeit, als Erfahrung, als Vision und als reale, ja einzig realistische Perspektive.
Es handelt sich um das Wiedererwachen des egalitären Erbes aus unserer basisdemokratischen, lebensfreundlichen und kooperativen Vergangenheit, der Welt der matriarchalen Zivilisation. Sie ist offensichtlich das immer noch vorhandene “Modell” für Eure Selbstorganisation, die Ihr so selbstverständlich unternehmt!
Aufgrund dieser historischen Verbindung werden soziale Bewegungen nicht gemacht, sondern geboren. Sie stehen damit im Gegensatz zum Krieg, zur Herrschaft, zur Warenproduktion, zum Geld, zur Maschinerie und zum Gehorsam ihnen gegenüber.
In den sozialen Bewegungen wird generell das unterdrückte Mensch-Sein abgelehnt. Die Gemeinschaft der Menschen geht mit solchen Bewegungen schwanger, bis sie herausdrängen, und zwar unabweisbar, unabwendbar, sozusagen “vulkanisch”.
Soziale Bewegungen entstehen ganz und gar gegen den Willen und die Intention der Herrschenden, Machenden und des Gemachten und geben diesen daher Anlass zu einer tiefen Beunruhigung! Denn soziale Bewegungen sind grundsätzlich herrschaftsfeindlich und egalitär..
Jede soziale Bewegung ist aufgrund ihrer Nicht-Machbarkeit ein Rätsel.
Für die Herrschenden ist sie besorgniserregend, denn sie stellt Herrschaft infrage.
Aber die Bewegung ist auch nicht zuletzt sich selbst ein Rätsel. Als gerade geborene Bewegung ist sie wie ein Kind. Es muss erst einmal am Leben bleiben und sich nach und nach selbst kennenlernen, wachsen, Erfahrungen machen und auszuloten versuchen, in welche Tiefen sie reicht, in welche Höhen und in welche Breiten, wie sie sich ausdehnen und wie sie sich weiterentwickeln kann.
Vor allem muss sie auch lernen, sich vor Bedrohungen zu schützen. Diese bestehen in Versuchen ihrer “Patriarchalisierung”, also ihrer Funktionalisierung für fremde Zwecke und solche der Herrschaft bzw. der “Politik”, und damit ihrer Rückführung in die “Normalität”. So etwas mündet immer in ihre Spaltung.
Wenn also Eure Bewegung eine Liebeserklärung ist, dann doch sicherlich nicht einfach eine an das Geld – oder doch? Denn ich höre viele Geldforderungen, aber ich glaube nicht, dass das Euer “Rätsel” ist. Es wäre keins. Ihr könntet also fragen:
Was suchen wir wirklich? Und was wollen wir wirklich?
Ich bin z.B. sicher, auch Ihr wollt – wie alle Menschen – geliebt und gebraucht werden, gemeint und gewollt sein von dieser Gesellschaft, und zwar ganz persönlich. Das heißt:
Ihr wollt die Bedingungen für ein Leben in Würde vorfinden bzw. schaffen, wo sie nicht gegeben sind. Denn sie sind nicht gegeben: Von Würde versteht heute – im Neoliberalismus – niemand mehr etwas. Ohne Würde aber nutzen auch die Freiheit und Selbstbestimmung nichts und verkommen zur Freiheit des Stärkeren, sich durch den Sieg über den Schwächeren zu definieren.
Würde bedeutet also, in dem, was jemand ist und möchte, gewürdigt und das heißt anerkannt zu werden und andere genauso zu würdigen und anzuerkennen.
Die These meiner Zeit als Professorin in Innsbruck war, dass eine Studentenbewegung heute spätestens dann ausbricht, wenn die Leute merken:
Es ist also zu fragen, was für Euch ein menschenwürdiges Leben wäre und unter welchen Bedingungen es stattfinden könnte.
Sind solche Bedingungen in der jetzigen Gesellschaft – wenn schon nicht vorgesehen – so dennoch erreichbar?
Am Ende wird sogar zu fragen sein, inwiefern so etwas wie eine “andere” Bildung, Uni, Wissenschaft, ja Gesellschaft dafür gebraucht werden!
Diese Fragen sind zu stellen. Denn Eure Bewegung ist ein Resultat der heutigen gesamtgesellschaftlichen Bedingungen, ist eine Antwort auf sie und wirkt auf diese zurück
In einem Wort: Ihr seid konfrontiert mit Eurem Mündig-Werden, also der Entscheidung darüber, wie, mit was für einer Bildung und wofür Ihr Euer Leben gestalten wollt.
Der Gesamt-Text erscheint in der nächsten Nummer des Infobriefes des “Begegnungszentrums für aktive Gewaltlosigkeit” in Bad Ischl, evtl. auch in der nächsten Nummer des Info-Briefes gegen Konzernherrschaft und neoliberale Politik, Köln, und evtl. in der nächsten Nummer von MatriaVal, Frankfurt, zum Thema “Erneuerungen”. Außerdem wird er auf der Webseite des Forschungsinstituts für Patriarchatskritik und Alternative Zivilisationen (FIPAZ ) veröffentlicht, die derzeit aufgebaut wird.