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Von Marit Rullmann
206Das Buch der kanadischen Entwicklungspsychologin und Journalistin Susan Pinker rührt an den Grundfesten der Gendertheorie. Warum, so fragt sie, sind es die schwierigen Jungs, die später eine beeindruckende Karriere machen? Und warum gelangen die vielversprechenden Mädchen nur selten auf den Chefsessel? Die Forscherin begab sich auf die Suche, studierte zahlreiche empirische Studien, führte Gespräche mit ehemaligen schwierigen Jungs aus ihrer eigenen Praxis, studierte Berufsbiografien zahlreicher Frauen und interviewte einige, die gerade ihre Karriere freiwillig beendet hatten. Susan Pinker kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Männer und Frauen wollen im Leben nicht das Gleiche – nicht im Leben und auch nicht am Arbeitsplatz. Der wahre Unterschied zwischen den Geschlechtern ist weit größer und interessanter als gedacht.
Einige Beispiele: Eine Maschinenbauingenieurin und eine der Besten ihres Jahrgangs im Studium arbeitete als Petroingenieurin, verdiente viel Geld und kündigt nach 20 Jahren. Nicht etwa weil sie sich diskriminiert fühlt, sondern weil sie als Fitnesstrainerin mehr Macht über ihre Zeit hat. Eine Wirtschaftsingenieurin schmeißt ihre Stelle hin, weil sie etwas Sinnvolles tun möchte: Sie wird Sozialarbeiterin. Eine Geografin nimmt erst ein Jahr Auszeit von der Universität, dann geht sie ganz – in eine Grundschule. Sie stand als Forscherin zu sehr unter Druck.
Insbesondere Naturwissenschaftlerinnen geben zweimal häufiger als Männer gutdotierte Jobs wieder auf oder arbeiten weniger Wochenstunden – auch wenn sie keine Kinder haben.
Ein auffallender Unterschied ist, dass Frauen – im Durchschnitt – die sozialen Aspekte ihrer Berufstätigkeit wichtiger finden als Männer. Diese wiederum legen mehr Wert auf gute Bezahlung, Erfolg und Aufstiegsmöglichkeiten. Juristinnen wollen Gerechtigkeit bewirken, Juristen erfolgreich sein. Diese These belegt Pinker anhand von mindestens 10 Studien. Die sogenannte intrinsische Motivation, das persönliche Interesse an der Arbeit, der humanitäre Anspruch etc., ist für die meisten Frauen viel wichtiger als die extrinsische, wie Gehalt und Beförderungen.
Mit ihrer Studie entfachte die Kanadierin eine heftige Diskussion in den USA, Kanada und Großbritannien. Das Buch wurde in 12 Sprachen übersetzt, die deutsche Übersetzung ist seit Oktober 2008 im Handel. Erstaunlicherweise gab es in Deutschland bislang noch keinen Aufschrei. Wahrscheinlich, weil das Buch kaum zur Kenntnis genommen wurde, dabei rührt es an den Grundfesten der Gendertheorie: Schien es doch wissenschaftlich klar zu sein, dass nicht nur das soziale Geschlecht (gender), sondern auch das biologische Geschlecht (sex) sozial konstruiert ist. Unterschiedliches Verhalten von Männern und Frauen sei ausschließlich kulturell bedingt und damit angleichbar.
Welche Unterschiede gibt es denn nun zwischen Jungen und Mädchen bezogen auf ihre Bildung? Aktuell diskutiert wird die sogenannte Feminisierung der Bildung, die verantwortlich sein soll für die schlechteren Schulabschlüsse der Jungen. Die internationale Grundschul-Leseuntersuchung (IGLU) wies nach, dass die sprachlichen Leistungen der Mädchen besser, ihre mathematischen aber im Vergleich zu denen der Jungen schlechter sind. Aber, diejenigen Jungen, die gerne lesen, können Texte nicht schlechter verstehen als Mädchen. Altbekannt ist der leichte Vorsprung der Mädchen bereits vor Schulbeginn, sie sind früher schulreif und bleiben seltener sitzen. Bezogen auf ihre emotionale Reife sind sie den Jungen sogar ein ganzes Jahr voraus. Und diese hat bekanntlich viel mit dem Lernerfolg zu tun. Immer wieder wird die schlechte Schulleistung der Jungen auch zurückgeführt auf genetische Einflüsse, die komplizierte Embryonalentwicklung ebenso wie die unterschiedliche Hormonentwicklung. Und tatsächlich sind es, so Susan Pinker, immer schon die Jungen gewesen, die die Wartezimmer der Psychologen bevölkern (60 Prozent), die als Kleinkinder größere gesundheitliche Probleme haben und häufiger im Kindesalter sterben – die also das schwache Geschlecht sind … Die Jungen sind biologische Spätentwickler und anfälliger, u.a. weil bei ihnen nicht alle Chromosomen (XY) doppelt vorhanden sind. Es sind die Jungen, die bei Intelligenztests die größere Bandbreite zeigen: “mehr männliche Genies und mehr männliche Idioten”, wie es der Politikwissenschaftler James Wilson auf den Punkt bringt (z.n. Pinker, S. 41). Mit der traditionellen Männlichkeitsrolle verknüpft ist zudem eine ausgeprägte Überlegenheitsfantasie, die mit ihrer faktischen Unterlegenheit in der Schule als Lernende häufig kollidiert. Dies bringt leistungsschwache Schüler dazu, sich gegen schulische Autoritäten aufzulehnen und Lehrerinnen und Mitschülerinnen chauvinistisch auszugrenzen. Ihre eigenen Lernschwierigkeiten können sie sich kaum eingestehen und bitten daher auch nicht um Hilfe. Solche Verhaltensweisen sind Resultat einer betont männlichen Sozialisation ohne kritische Rollenreflektion und führen dazu, dass Jungen weniger Schulabschlüsse erreichen und häufiger die Förderschulen besuchen. Pinker: “Die Leistungen der Männer sind also nicht wirklich in den Keller gefallen. Es ist eher so, dass sich die Bildungschancen für Frauen in bemerkenswert kurzer Zeit erheblich erweitert haben – eine der wichtigsten Errungenschaften des Feminismus – und dass die Veränderungsrate bei den Männern damit einfach nicht Schritt gehalten haben.” (S. 43) Aber ein Problem erkennen ist ja der erste Schritt zur Veränderung.
Eines der größten gesellschaftlichen Experimente ist die Kibbuz-Bewegung, erstmals 1975 dokumentiert von den Anthropologen Lionel Tiger und Joseph Shepher. Sie untersuchten das Leben von 34000 Menschen, die ihr ganzes Leben im Kibbuz verbracht hatten. Die Ideologie der Kibbuzim war ja in der Geschlechterfrage eine Vorwegnahme der 2. Frauenbewegung. Jungen und Mädchen wurden gemeinschaftlich und gleich erzogen von ausgebildeten Kräften; von Männern und Frauen wurde erwartet, dass sie jede Arbeit verrichteten, die man ihnen zuwies. Das Essen der Kinder wurde in Gemeinschaftsküchen zubereitet und die Wäsche in Großwäschereien gewaschen. Nachdem vier Generationen alles versucht hatten, um geschlechtsneutrale Familien- und Arbeitsrollen zu erzwingen, war das Ergebnis überraschend: 70 bis 80 Prozent der Frauen übten Tätigkeiten aus, die mit Menschen zu tun haben (Kinderbetreuung und Schule), die Mehrzahl der Männer zog es vor, auf dem Feld zu arbeiten, als Handwerker oder auf dem Bau. Je länger die Menschen im Kibbuz lebten, desto ausgeprägter wurde die Arbeitsteilung. Keine der Frauen aus dem Kibbuz wollte auf dem Bau und nur 16 Prozent der Männer mit Vorschulkindern arbeiten. (S. 133f.) Für die Forscher war dies eine völlig unvorhergesehene Entwicklung: “Die statistischen Profile, die wir erstellten, zeigten wider Erwarten, dass Männer und Frauen fast in zwei getrennten Gemeinschaften zu leben schienen und sich nur in den Unterkünften trafen … Genauso unvorbereitet traf uns die Entdeckung, das bei Männern und Frauen die starke, allgemeine und kumulative Tendenz besteht, sich nicht weniger, sondern immer mehr in dem zu unterscheiden, was sie tun und ganz offensichtlich gern tun wollen.” (Tiger/Shepher, z.n. Pinker, S. 133f.)
Männer bevorzugen systemorientiertes Wissen, haben eher eng begrenzte Interessen, die sie aber oft ein Leben lang sehr intensiv verfolgen. Eher ablehnend verhalten sie sich gegenüber einem ganzheitlich menschenorientiertem und sprachlich verknüpftem Weltbild. Warum ist das so? In den Testikelhormonen und im sogenannten T-Schlüssel liegt die Antwort, so Susan Pinker, und sie zitiert den englischen Geschlechterforscher Simon Baron-Cohen aus einem langen Gespräch. Eines seiner Arbeitsergebnisse beschreibt, “wie sich bereits pränatal das Testosteron auf die neuronalen Netzwerke auswirkt, die den sozialen Fähigkeiten zugrunde liegen.” (S. 197f.) Insbesondere die männlichen Hormone sorgen schon sehr früh in der pränatalen Entwicklung für die männlichen Charaktereigenschaften – sie vermännlichen das Gehirn irreversibel. Zu diesem Ergebnis gelangte auch die kanadische Neurowissenschaftlerin Doreen Kimura, die auch im Ruhestand noch immer zu diesem Thema forscht, obwohl sie es “tatsächlich leid sei, über Geschlechterunterschiede zu schreiben.” Vier Jahrzehnte hat sie damit zugebracht, Geschlechterunterschiede bei diversen Fähigkeiten vom Zuhören bis Ballspielen zu dokumentieren. Es ist ihr ein Rätsel, “wie irgendein seriöser Wissenschaftler die biologischen Ursachen von Geschlechterunterscheiden bestreiten konnte.” (z.n Pinker, S. 198) Mit den Hormonen fängt alles an, erklärte sie Pinker in einem Gespräch. Bereits beim fünf Monate altem Säugling und erneut während der Pubertät sorgt die Ausschüttung männlicher Hormone dafür, dass die Entwicklung räumlicher Fähigkeiten bei den Jungen stark zunimmt (treffsicher werfen, navigieren). Mädchen sind im Durchschnitt besser beim Rechnen, haben ein besseres Sprachgedächtnis und eine größere Sprachflüssigkeit. Sie können sich leichter an einzelnen Orientierungspunkten erinnern. (Für mich ist hier immer das anschaulichste Beispiel, wie unterschiedlich Männer und Frauen ein- und denselben Weg erklären … M.R.). Für Kimura ist klar, dass diese unterschiedlichen Stärken auch für eine unterschiedliche Berufswahl sorgen.
Mädchen und Jungen konkurrieren – aber sehr unterschiedlich. Wenn Jungen die Wahl haben, verbringen sie 50 Prozent ihrer Spielzeit damit, offen zu wetteifern. Mädchen tun dies nur zu 1 Prozent. Sie ziehen Spiele vor, bei denen sie sich abwechseln können, eingebaute Pausen für Interaktionen inbegriffen. Dies macht deutlich, warum es Jungen und Mädchen vorziehen, in gleichgeschlechtlichen Gruppen zu spielen. (S. 263)
Fast alle Sozialwissenschaftlerinnen, Neurobiologen und Psychologinnen sind sich einig: Männer sind aggressiver, dies belegen eindrücklich die Gewaltstatistiken und die Insassen der Gefängnisse. Männliches Statusstreben und aggressive Verhaltensweisen gehören oft zusammen. Besonders aggressive und konkurrenzorientierte Männer bauen ihre biologischen Antriebskräfte und “Fähigkeiten” weiter aus, indem sie entsprechende kulturelle Angebote wie gewalttätige Computerspiele (Egoshooter) nutzen. Eine neue Studie aus England, die Pinker offenbar noch nicht kannte, belegte 2006 erstmals, dass bereits das bloße Hantieren mit einer Waffe die Testosteronwerte signifikant steigen lässt. Im Wechselspiel mit diesen erhöhten Werten kann sich wiederum die Aggressivität erhöhen (Vgl. Manfred Spitzer: “Es sind die Hormone”, in: Nervenheilkunde 2006, 25: S. 865-867).
Susan Pinker hat eine Fülle weitere Beispiele recherchiert, inklusive der Erklärungen, was sich die Evolution wohl dabei gedacht hat … Abschließend möchte ich nur noch ein Beispiel zitieren: “Heute wissen wir, dass das Streben nach Rache und Bestrafung Männern mehr Vergnügen bereitet als Frauen und mit einem Anstieg des Adrenalin- und Testosteronspiegel im Rausch des Wettbewerbs in Verbindung steht. Der Adrenalinspiegel steigt in Konkurrenzsituationen, während er bei Frauen sinkt, wie die schwedische Psychologin Marianne Frankenhäuser in einer Studie feststellte”, so Pinker. (S. 271f.)
Nur wenn wir unsere hormonelle und neuronale Grundausstattung kennen, können geschlechtersensible Unterstützungen sinnvoll eingesetzt werden. Denn trotz aller Statistiken über messbare Unterschiede zwischen Männern und Frauen: Dahinter stehen Individuen, und Statistiken dürfen nicht als Rechtfertigung für ungerechte Praktiken dienen. Im Gegenteil: Das Wissen über geschlechtsspezifische Unterschiede bei menschlichen Lern- und Entwicklungsprozessen sollte uns helfen, den Jungen und Mädchen bestmögliche Unterstützung zukommen zu lassen. Nochmal Susan Pinker:
“Die Würdigung weiblicher Präferenzen kann Mädchen dabei helfen, das Leben zu führen, das sie sich wünschen, und die Berufe zu wählen, die ihren Interessen entsprechen. Die Unterschiede zwischen den Geschlechtern anzuerkennen ist die einzige Möglichkeit, die paradoxen Motive und Entscheidungen von Männern und Frauen zu verstehen – auch wenn sie das Gegenteil von dem zu sein scheinen, was wir erwarten.” (S. 348)
Wer nun noch wissen möchte, warum der IQ bei Männern und Frauen gleich ist, nicht aber der EQ; warum Frauen in Stresssituationen andere Adrenalinwerte haben; was die Oxytozine mit Empathie zu tun haben und vieles mehr, der/die sollte dieses Buch lesen und mit möglichst vielen Menschen darüber diskutieren! Ich halte diese Studie für einen Meilenstein der Geschlechterforschung und wünsche Susan Pinker viele Leser und Leserinnen: Erzieher und Lehrerinnen, Psychologen und Forscherinnen – und Eltern.
Susan Pinker: Das Geschlechterparadox. Über begabte Mädchen, schwierige Jungs und den wahren Unterschied zwischen Männern und Frauen. 400 S., München 2008. 17,95 Euro
Wieso immer die Biologie?
Ich finde diese Forschungsergebnisse sehr interessant und politisch wichtig – habe mich aber darüber geärgert, dass am Ende doch wieder die Biologie als Begründung angeführt wird. Nicht, dass ich es für unmöglich halte, dass die Geschlechterdifferenz auch biologische Ursachen hat (ich halte es allerdings auch nicht für unmöglich, dass sie keine hat). Aber ich finde, durch diesen Hinweis wird die politische Brisanz herausgenommen. So als ob wir sagen würden: Weil die Frauen aufgrund ihrer Biologie ja gar nicht anders können, muss auf ihre Wünsche und Ansichten eingegangen und Rücksicht genommen werden. Das bedeutet aber: Ihr Wünschen und Wollen als solches reicht nicht zur Begründung nicht aus. Es wird da wieder eine externe Autorität angeführt, um das Handeln von Frauen quasi zu legitimieren. Ich finde, das schwächt die weibliche Autorität.