Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Es ist wirklich selten, dass ein Buch, das ich lese, so viel neue Informationen beinhaltet, wie “Vulva” von Mithu M. Sanyal. Noch nie hatte ich über den Unterschied zwischen Vulva und Vagina nachgedacht, und die Parallelisierung zwischen der Erektion der Klitoris und des Penus hatte ich bislang für relativ unproblematisch gehalten. Ich hatte auch keine Ahnung gehabt, dass es einen Unterschied zwischen “Strippen” und “Teasen” gibt, woher das Wort “ficken” kommt oder warum “Fotze” (bzw. das englische “cunt”) eigentlich eine Bezeichnung ist, die Frauen mit Stolz tragen könnten. Und den Name Baubo, immerhin die mythologische Urmutter der Vulva-Enthüllungen, hatte ich bislang noch nie gehört.
Man kann also mit Fug und Recht sagen, dass hier eine Forschungsarbeit geleistet wurde, die aus den Tiefen der Archive tatsächlich einmal Neuigkeiten ans Licht gebracht hat. Und gleichzeitig bestätigt meine Leseerfahrung Sanyals These, dass auch wir Frauen selbst trotz fast einem halben Jahrhundert Frauenforschung und feministischer Selbstbehauptung noch immer relativ wenig über unser “Untenrum” wissen. Wenn überhaupt, dann haben wir uns in den vergangenen Jahrzehnten über die medizinischen, psychologischen oder sexualitätsbezogenen Aspekte kundig gemacht. Ausgeblendet blieb jedoch der kulturelle Aspekt, die Frage also nach der Art und Weise des über die Vulva Sprechens, ihrer öffentlichen (politischen, persönlichen, künstlerischen) Darstellung und Thematisierung.
Natürlich haben Feministinnen schon lange die alte patriarchale Vorstellung kritisiert, wonach sich das weibliche Geschlecht vor allem durch das Fehlen eines Penis definiert – eine ebenso biologische wie psychologische, politische wie kulturelle Fehlinterpretation des Frauseins als defizitäres Mannsein. Mithu M. Sanyal argumentiert überzeugend, wenn sie darauf hinweist, dass die daraus resultierende Aufmerksamkeit für die Vagina dieses Dilemma nicht wirklich beheben kann. Denn die Vagina stellt letztlich nur das “Loch” dar, das den äußeren, sichtbaren Teil des weiblichen Genitals (die Vulva) mit dem inneren, unsichtbaren Teil (dem Muttermund, der Gebärmutter und den Eierstöcken) verbindet. Noch immer blieb die Vorstellung vorherrschend, dass außer diesem “Loch” dort eigentlich nichts zu sehen sei. Auch die Gleichsetzung der Klitoris mit dem Penis (worin heute häufig nur ein lediglich gradueller Unterschied gesehen wird, was etwa in der Queer-Theorie als Beleg für eine prinzipielle Ununterscheidbarkeit von “Sex” angeführt wird), orientiert das Sprechen über das weibliche Genital am Vergleich mit dem Männlichen.
Sanyals Plädoyer für eine eigene Aneignung der Vulva, die sich nicht am Vergleich mit dem männlichen Genital orientiert, ist dabei kein medizinisches, sondern ein kulturelles. Sie durchforstet antike, mittelalterliche und moderne Mythen und Mythologien über weibliches Geschlecht und seine Selbstdarstellung und landet schließlich bei heutigen Darstellungen wie dem Striptease oder den Riot-Grrrls. Dabei stellt sie zahlreiche interessante (und mir ebenfalls bislang unbekannte) Künstlerinnen vor, die sich selbst, ihren Körper und ihre Vulva zum Medium der Darstellung gemacht haben.
Nur eine dieser vielen Geschichten möchte ich erzählen, weil sie der exemplarische rote Faden ist, nämlich die von Baubo aus dem “Homerischen Hymnus an Demeter”, geschrieben im 7. Jahrhundert v. Chr. (wenn auch nicht von Homer selbst). Er wurde zu einem Gründungsmythos der abendländischen Kultur. Demeter, die griechische Göttin des Getreides und des Ackerbaus, tritt nach der Entführung ihrer Tochter Persephone in die Unterwelt sozusagen in Hungerstreik. Deshalb verdorren die Ernten, und die Menschen müssen hungern. Doch nicht einmal den Göttern gelingt es, Demeter aus ihrer Depression herauszureißen. Bis Baubo kommt. Auch sie wird zunächst von Demeter abgewiesen, doch lässt sie sich davon nicht beeindrucken und zeigt Demeter ihre Vulva – was diese zum Lachen bringt, sodass sie wieder isst. Laut Sanyal war diese Geste ein fester Bestandteil ritueller Feiern zu Ehren Demeters.
Offenbar ist der Mythos der Baubo als Figur durch die westeuropäische Kulturgeschichte gegeistert (was mir allerdings bisher entgangen war), jedoch häufig in einer ebenso fatalen wie bezeichnenden Umdeutung – nämlich mit Blick auf die angebliche Obszönität des Geschehens. Sanyal zitiert etwa Peter Sloterdijk, der schrieb: “Baubo heißt Möse, sie ist das weibliche Geschlechtsorgan im unverschämtesten Grad, das sich dem Männervolk für einen kurzen vergeblichen Einblick höhnisch entgegenstreckt.” (S. 30). Und genau hier wird das entscheidende kulturelle Missverständnis deutlich: Die Enthüllung der Vulva wird immer als etwas verstanden, das dem männlichen Blick gilt und nicht dem weiblichen – und zwar auch gegen jede Evidenz, wie im Fall der Baubo, die ihre Vulva doch ganz eindeutig einer weiblichen Göttin gezeigt hat.
Dieses Missverständnis ist nicht nur in der patriarchalen Kultur verbreitet, sondern auch in der feministischen – wenn etwa über Pornografie oder sexuell explizite Kunst von Frauen vor dem Hintergrund der Frage diskutiert wird, wie dies von Männern gesehen wird bzw. wie es sich auf die Beziehungen zwischen Männern und Frauen auswirkt. Einer der wichtigsten feministischen Einwände gegen Pornografie ist ja, dass dadurch das Frauenbild der Männer fixiert werde, die dann alle Frauen für sexuell verfügbar halten würden. Hier macht Sanyal einen Bogen zu heutiger sexuell expliziter weiblicher Kunst, zum frühen Striptease oder zu Künstlerinnen, die sich und ihre enthüllten Genitalien auf der Bühne präsentieren. Sie weist darauf hin, dass nach deren Selbstverständnis die Adressatinnen ihrer Exponierung in der Regel keineswegs Männer, sondern andere Frauen waren. Auch das wusste ich nicht: dass das Publikum der frühen Striptease-Shows überwiegend aus Frauen bestand und dass manche Künstlerinnen männliche Zuschauer nur zuließen, wenn sie in Begleitung einer Frau kamen.
Neben den vielen interessanten Sachinformationen ist dies für mich der entscheidende Gewinn aus der Lektüre von “Vulva”: Dass sich hier ein Kriterium erschließt, das in der Diskussion über weibliche öffentliche Nacktheit den Maßstab nicht darin sucht, wie “obszön” oder nicht sie ist, sondern an wen sie sich richtet. Ob der Kontext ein weibliches Selbstdarstellen und Schauen ist, oder ob es um das von Männern zur Schau gestellt werden und Angeschaut werden geht.
Mithu M. Sanyal: Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2009, 237 Seiten, 19,90 Euro.
Solange aber schon in der Schule die “Vulva” gar nicht erst in den Medien vorkommt, so dass die Kindern davon gar nichts erst hören (Vul-va klingt ja auch so fürchterlich Vul-gär), das Wort also unbekannt bleibt, solange werden auch Eltern davon nichts hören, solange wird sie weitgehend unsichtbar bleiben.
Danke!
Danke für den Buchtipp, werde ich mir bestellen! Nach Jahren der Beschäftigung – und des Vortragens – über FGM sind mir die Worte “Klitoris”, “Klitorisvorhaut”, “Kleine, große Schamlippen, “Vagina” und “Vulva” bestens vertraut und ich kann abendfüllen lang locker darüber plaudern. Aber das peinliche Schweigen der anderen hat sich nicht geändert :-)