Forum für Philosophie und Politik
Von Juliane Brumberg
Sex sells – deshalb dominiert Sexualität nicht nur die Werbung, sondern weitere Bereiche, etwa die Kunst, besonders wenn sie sich mit immer neuen Tabu-Brüchen ein wenig “shocking” präsentiert. Das hat auch die junge AutorInnen-Generation begriffen, und sie kommt damit groß raus. Exemplarisch sei das Buch “Feuchtgebiete” von Charlotte Roche genannt. Ich schwanke dabei zwischen einer gewissen Bewunderung, dass junge Autorinnen clever genug sind, auf den Zug aufzuspringen, um auch an diesem Kuchen ihr Geld zu verdienen, und Abscheu und Enttäuschung darüber, dass sie sich nicht zu schade sind, sich diesem im Patriarchat entstandenen Kommerz-Prinzip zu unterwerfen. Sie tragen damit bei zur Überbewertung und gleichzeitig Banalisierung der Sexualität, die ursprünglich eine von vielen wunderbaren Erfahrungen ist, die die Natur des Menschen bereithält.
Seit Jahrtausenden bemühen sich Ordnungen des menschlichen Zusammenlebens, sexuelles Verhalten zu kontrollieren und tragen damit zu dessen Überbewertung bei. Hier knüpfe ich an die Artikel “Die Rückkehr der Vielehe” von Antje Schrupp und “Vielehe als Wahlmöglichkeit” von Dorothee Markert an. Bei den Beispielen von Dorothee zu den schwulen Männern, die mit Partnern gleichen Alters gut verbunden zusammenleben und trotzdem offen dazu stehen, parallel Beziehungen zu jüngeren Männern zu pflegen, dachte ich: “Ja, die haben es begriffen, es ist doch nicht die Sexualität, die den Wert und die Tiefe einer Lebenspartnerschaft ausmacht.” Und ich erinnerte mich an einen Artikel aus den 1990er Jahren, in dem in einer seltenen und mich berührenden Klarheit geschrieben stand, dass in der Schweizer Dreier-Lebensgemeinschaft der Theologinnen Marga Bührig, Else Kähler und Elsi Arnold das Verbindende nicht die Sexualität war. Und mal ehrlich: bei welcher von uns ist denn der “gute Sex” das Kriterium, das den Ausschlag gibt, eine Lebenspartnerschaft einzugehen?
Nichtsdestotrotz gilt “fremdgehen” in vielen Beziehungen als der schlimmste Vertrauensbruch. Warum eigentlich?
Nun gut, bis zur Erfindung der Anti-Baby-Pille drohte bei “Seitensprüngen” in heterosexuellen Beziehungen die Möglichkeit nicht geplanten und erwünschten Nachwuchses – eine Konsequenz mit großen Auswirkungen auf jede Partnerschaft. Die Versorgung der Kinder rechtfertigt, historisch gesehen, strenge Ehe-Regularien in den verschiedenen Kulturen. Der Erfolg war, wie wir wissen, begrenzt, denn die Regeln wurden längst nicht immer eingehalten und dort, wo es zu nicht-ehelichen Kindern, heimlichen Zweitfamilien (wie Dorothee sie beschreibt und die es ähnlich auch in meinem Bekanntenkreis gibt) oder Abtreibungen kam, hat es viel Leid gegeben.
Dieses Leid lässt sich vermindern, wenn wir die Realität anschauen und nicht ausblenden, uns von dem Normbild oder dem “Traum einer lebenslangen monogamen Liebesbeziehung”, wie Antje es nennt, verabschieden; wenn wir benennen, was ist, und für das Zusammenleben in vielfältigen Formen begleitend gesellschaftspolitische Lösungen finden.
Das bedeutet aber auch, Sexualität in und außerhalb von Partnerschaften zu entmythologisieren, also eine Veränderung in den Köpfen. Hier könnten Frauen und Männer, die in gleichgeschlechtlichen Beziehungen leben, eine Vorreiterrolle einnehmen, da sie in geringerem Ausmaß von dem Problem der Kinderfürsorge betroffen sind. Leicht ist das nicht angesichts von Medienunternehmen, die gerade das Thema Sexualität in allen Variationen für alle Generationen durchspielen, um Gewinne einzufahren. Trotzdem lohnt es sich meiner Meinung nach, den Stellenwert der Sexualität stärker zu reflektieren, auch öffentlich, und nicht gedankenlos dem Mainstream zu folgen. Nicht zu unterschätzen ist nämlich der mediale Druck, der suggeriert, in allen Lebensphasen von der Schulzeit bis ins hohe Alter hinein ständig “guten Sex” haben zu müssen – was immer das auch ist. Ein Druck, von dem Frauen und Männer gleichermaßen betroffen sind. Das Pendel ist ins andere Extrem ausgeschlagen. Während das Thema Sexualität früher tabuisiert war und es dadurch zu viel Unglück gekommen ist, gilt das unausgesprochene Tabu heute umgekehrt. Welcher junge Student, welches mittelalterliche Paar in den besten Jahren, welche jung gebliebene Seniorin würde heute zugeben, dass Sexualität für ihn oder für sie ein nicht so wichtiges Thema ist? Wenn wir uns darauf besinnen, dass uns mit unserem Partner, unserer Partnerin viel mehr verbindet als Sexualität, dann können wir Verständnis dafür gewinnen, dass es noch ganz andere erstrebenswerte Lebens- und Wohnformen gibt, die es lohnen, gedacht, ausprobiert und gefördert zu werden.
Vgl. dazu auch die Rezension zu “Feuchtgebiete” von Dorothee Markert.
Hallo Juliane, ist zwar ein älterer Artikel, aber ich finde den sehr wichtig, daher nochmal danke!
“Sie tragen damit bei zur Überbewertung und gleichzeitig Banalisierung der Sexualität, die ursprünglich eine von vielen wunderbaren Erfahrungen ist, die die Natur des Menschen bereithält”, ein toller Satz!
“Wenn wir uns darauf besinnen, dass uns mit unserem Partner, unserer Partnerin viel mehr verbindet als Sexualität, dann können wir Verständnis dafür gewinnen, dass es noch ganz andere erstrebenswerte Lebens- und Wohnformen gibt, die es lohnen, gedacht, ausprobiert und gefördert zu werden” und der ist auch absolut wichtig.
Es gibt so viel mehr als das, was uns vor allem in den Medien vermittelt wird und es lohnt sich, das auszuprobieren, mit Respekt und Achtung natürlich immer, aber die gibts oft von Seiten der Medien sowieso nicht.
Was den Punkt mit dem Nur eine/n PartnerIn zu haben angeht, da glaub ich muss das jede für sich entscheiden. Es lässt sich auch frei und entspannt, vielleicht sogar ohne Sexualität bzw eine andere Form von Intimität leben mit einer oder einem PartnerIn.
Mir geht es jedenfalls so, dass ich mich nur einem Menschen so öffnen möchte und ich glaube, das sollte auch erlaubt sein und kann genauso emanzipiert und frei sein.
Wollte ich hier nur einmal noch hinzufügen:).
Bresche für die Feuchtgebiete
Hallo Juliane, ich bin mit deinen Gedanken ganz einverstanden, nur
dass ich eine Bresche für Charlotte Roche schlagen möchte. Ich finde nicht, dass sie “auf einen Zug aufgesprungen” ist, sondern ich glaube ihr das Anliegen, für mehr Offenheit in sexuellen Dingen einzutreten. Nicht nur, weil mir das Buch gefallen hat. Sondern auch, weil ich kürzlich meine alten Tagebücher wiedergefunden habe aus der Zeit, als ich so alt war wie sie, sogar etwas jünger (Anfang 20), und feststellte, damals war Sexualität auch mein großes Thema. Und ich war in meinen Formulierungen auch sehr radikal. Und auch meine ganze Welt drehte sich darum. Vielleicht ist es auch eine Frage des Alters? Sowas darf man ja heut nicht mehr sagen. Ich fände das aber gar nicht schlimm. Meine Tagebücher von damals lese ich mit einer erstaunten Distanz, aber ich weiß, es waren schöne, wenn auch anstrengende Zeiten. Ich will sie nicht wiederhaben, aber ich will darin auch keine “Verirrung” sehen.