Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Bei unserer Beschäftigung mit dem Bösen in diesem Forum drehte sich die Diskussion häufig um die Frage, ob es richtig ist, unter diesem Begriff des “Bösen” auch solche Quellen des Leids zu fassen, die nicht von Menschen gemacht, sondern “normal” und “natürlich” sind, wie zum Beispiel Krankheiten oder das (nicht-gewaltsame) Sterben. Bei unserer Redaktionsitzung im September, als wir Redakteurinnen das Thema diskutierten, brachten einige bereits Widerspruch gegen diese Gleichsetzung vor, und kürzlich hat Birgit Kübler in einem Kommentar geschrieben, sie verstehe nicht, “was am Sterben, was an einer Krankheit ‘böse’ sein soll”. Sie findet auch die Reihung von Tod, Krieg, Arbeitslosigkeit “beliebig” und bemängelt darin eine “Ungenauigkeit im Bezeichnen der leidvollen Erfahrungen des Lebens” und eine Ignoranz gegenüber “Gewalt- und Armutserfahrungen, denen eine Herrschaftsstruktur zugrunde liegt” (am Ende des Artikels).
Ich las Birgits Kommentar im Dezember 2008 in Brasilien, wo es gerade eine Überschwemmungskatastrophe gegeben hatte, bei der über hundert Menschen getötet und fast 100.000 Menschen obdachlos geworden waren. Ich verfolgte die Interviews der Betroffenen im Fernsehen: Ihre weinenden Gesichter, ihre Verzweiflung über den Tod von Angehörigen, die zerstörten Häuser und Lebensperspektiven – das alles vermittelte mir sehr stark den Eindruck, dass die Opfer diese Naturkatastrophe als etwas “Böses” empfanden, das in ihr Leben eingebrochen war. Mich brachte das auf die Idee, ob es vielleicht möglich sei, sich über den Begriff des “Unglücks” an das Thema anzunähern.
Nicht vom “Bösen” (als aktivem Part) auszugehen, sondern vom Unglück, das Menschen erleiden, ist jedenfalls eine Perspektive, aus der die Ursache des Leids zweitrangig ist. Das Unglück ist zunächst dasselbe, ob das Haus nun von den Wassermassen der innertropischen Konvergenz oder von marodierenden Kriegshorden zerstört wird, ob die Tochter durch einen Autounfall, eine tödliche Krankheit oder eine Flutkatastrophe ums Leben kommt. Weshalb auch sollte der Verlust weniger schmerzlich empfunden werden, wenn die Ursache eine “natürliche” ist?
Das Interesse an einer Unterscheidung zwischen “menschengemachten” und “natürlichen” Ursachen des Leids liegt, so vermute ich, nicht in erster Linie bei denen, die Unglück erleiden, sondern vielmehr bei denen, die es (noch) nicht erlitten haben. Denn sie haben noch die Chance, sich dagegen abzusichern. Nicht die Opfer, sondern die (noch) Nicht-Opfer des “Bösen”, wenn man so will, möchten das Böse verstehen, Schuldige identifizieren, Maßnahmen ergreifen, damit es sich nicht wiederholt und dann möglicherweise auch sie trifft. Das Unfallopfer, das bereits querschnittsgelähmt ist, hat jedenfalls nichts mehr davon, wenn die Straßen in Zukunft sicherer werden, und den Menschen, die jetzt in Brasilien ihre Häuser verloren haben, nützt es nichts, wenn in gefährdeten Regionen künftig keine Baugenehmigungen mehr erteilt werden.
Die Unterscheidung zwischen “natürlichem” Leid und “bösem”, menschengemachtem Leid erscheint mir auch deshalb problematisch, weil sie selten überhaupt so genau möglich ist. Fast immer ist Unglück auf eine Mischung all dieser Faktoren zurückzuführen. Die brasilianische Theologin Ivone Gebara zitiert in ihrem Buch “Die dunkle Seite Gottes” eine Frau aus einem Armenviertel, die Unglück folgendermaßen schildert: “Die Frauen in den Slums leiden alle unter denselben Problemen. Sie waschen die Wäsche. Wenn es Wasser gibt, fehlt die Seife. Wenn sie Seife haben, gibt es kein Wasser. Sie tragen einen Wäschezuber, um die Wäsche an einer Wasserstelle waschen zu gehen. Sie gehen zur Arbeit. Sie haben viele Kinder, für die sie sorgen müssen. Der Ehemann kommt oft entnervt nach Hause. Er trinkt, und die schwierige Situation verführt ihn zum Trinken. Die Frau streitet mit ihm. Oft ist sie sich nicht der Tatsache bewusst, dass es die Gesellschaft ist, die uns diese Momente der Müdigkeit, Aggressivität und Unruhe aufzwingt. Nachts wacht man auf, weil es in das Haus hineinregnet. Man hört die Ratten in der Küche. Man pflegt sein Kind, das sich am Fuß verletzt hat, als es mit dem Ball auf der Straße gespielt hat.”
Betis Beschreibung zeigt, wie unentwirrbar miteinander verbunden all die verschiedenen Faktoren sind: Die gesellschaftlichen Umstände (wenn es Seife gibt, gibt es kein Wasser, wenn es Wasser gibt, keine Seife), das individuelle Verhalten anderer Menschen (der trinkende Ehemann) sowie das eigene Zutun (viele Kinder bekommen), das Nichterkennen des Bösen, das als Schicksal akzeptiert wird, sowie die unvermeidlichen Unwägbarkeiten und Risiken des Lebens (der beim Spielen verletzte Fuß des Kindes). Oder, in den Worten von Ivone Gebara: “Jede persönliche Erfahrung mit dem Bösen macht die Erfahrung des Bösen insgesamt um so komplexer und schwerer verständlich, als die verschiedensten Elemente eine Rolle spielen. Es ist wie ein Labyrinth ohne Ausgang. Darin ist man versklavt und frei zugleich.”
Weil sich in jedem konkreten Unglücksfall die Ursachen des Leids unentwirrbar vermischen, ist es jedenfalls nur aus einer distanziert-objektiven Perspektive heraus möglich (und unter Umständen vielleicht auch sinnvoll), zwischen all diesen Ursachen zu unterscheiden, sie zu systematisieren und entsprechende Maßnahmen einzufordern. Wenn dies jedoch zu schnell geschieht, besteht die Gefahr, das Unglück der Opfer gerade aus dem Blick zu verlieren, das nämlich trotz aller Analysen real erlittenes, einzigartiges und nicht wieder rückgängig zu machendes Unglück ist.
Die “Leere”, die durch einen (vorläufigen) Verzicht auf Analysen entsteht, schafft erst den Raum, den es braucht, um die Erfahrungen der vom Unglück Getroffenen ernst zu nehmen. Jedenfalls empfand ich es als höchst wohltuend, dass in der Berichterstattung des brasilianischen Fernsehens nicht (wie es in Deutschland vermutlich der Fall gewesen wäre) sofort die Suche nach den Schuldigen losging, sondern sich viel Zeit genommen wurde, Mitgefühl mit den Betroffenen zu äußern, Spenden zu sammeln, die Opfer zu Wort kommen zu lassen.
Den “Knackpunkt” in der Annäherung an das Böse nicht in der Quelle zu suchen – ist sie menschengemacht oder natürlich – bedeutet aber keineswegs, dass keine Unterscheidungen möglich sind. Simone Weil zum Beispiel schlägt eine andere Unterscheidung vor, die mich weit mehr überzeugt, und zwar die des freien Handelns oder des ohnmächtigen Erleidens. Eine schwere körperliche Verletzung zum Beispiel bedeutet unterschiedlich viel Unglück, je nachdem ob sie von einer Revolutionärin im Kampf gegen ein faschistisches Regime (also als Folge des eigenen freiwilligen Handelns) oder von einer Ladenbesitzerin bei einem Raubüberfall (die nichts dagegen tun kann) erlitten wird. Nicht die Verletzung oder der Verlust als solches verursacht Simone Weil zufolge das Unglück, sondern die Ohnmacht, die Erfahrung, als individueller Mensch keine eigene Rolle im Geschehen zu spielen. Und dieses Ohnmachtsgefühl gibt es eben häufig, ob es nun um eine tödliche Krankheit geht, um eine Naturkatastrophe, einen Krieg oder den Verlust des Arbeitsplatzes.
Die politische Frage – und Birgit Kübler hat Recht, wenn sie darauf besteht, dass es um diese gehen muss – wäre also nicht: Wie können wir das “Böse” erkennen, vom natürlichen Leid unterscheiden und dagegen vorgehen, sondern: Wie werden Menschen im Angesicht des Unglücks frei, also in die Lage versetzt, sich nicht nur als Spielball der Gewalten zu sehen, sondern aufgrund ihres eigenen Denkens zu handeln und zu urteilen?
Dies zumindest wäre die politische Frage aus der Perspektive derer, die Unglück erleiden oder erlitten haben. Die Suche und Bestrafung der Schuldigen ist dabei nur ein und unter Umständen eher untergeordneter Aspekt. Ebenso wichtig ist die Arbeit am eigenen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. Vor allem aber kommt es darauf an, den Einzelfall in den Blick zu nehmen und keine pauschalen Lösungen zu suchen. Für diejenigen, die Unglück erleiden, sind nämlich die gesellschaftliche und die persönliche Perspektive auf eine Weise miteinander verbunden, wie es sich diejenigen, die Unglück nicht erlitten habe, kaum vorstellen können.
Welche Maßnahmen auch immer gesellschaftlich ergriffen würden: Sie werden niemals das Unglück generell aus der Welt schaffen. Die Notwendigkeit, sich der Frage zu stellen, wie Unglück nicht nur verhindert, sondern vor allem überlebt werden kann und inwiefern Menschen auch angesichts des Unglücks frei und handlungsfähig sein können, bleibt. Und dies ist keine psychologische Frage, sondern eine dezidiert politsche. Denn erstens sind frei denkende und handelnde Menschen die Grundlage alles Politischen, und zweitens ist die Frage der Handlungsfähigkeit und Freiheit keine nur individuelle, sondern eine der symbolischen Ordnung.
Die Unterscheidung zwischen “natürlichen” und “menschlichen” Quellen des Leids birgt jedenfalls die Gefahr in sich, diese Frage nach den Bedingungen der Handlungsfähigkeit der Einzelnen aus dem Blick zu verlieren. Denn in der Diskussion über das von Menschen verursachte “Böse” spielen unweigerlich allgemeine Kategorien eine Rolle, sie sind immer Konvention. Ist es überhaupt “böse”, eine Frau zu vergewaltigen? Ist es “böse”, Arbeitsplätze abzubauen, damit die Firma konkurrenzfähig bleibt? Ist es “böse”, eine Krankheit, die nur wenige haben, nicht zu erforschen, um Geld für die Heilung verbreiteter Krankheiten zu haben? Die Antworten variieren von Epoche zu Epoche, von Kultur zu Kultur, von Partei zu Partei, von Mensch zu Mensch. Wer ist hier der Richter? Die Mehrheitsmeinung? Der liebe Gott? Die Vernunft? Ich?
Das Dilemma, das daraus entsteht, etwas in persönlicher Verantwortung als “böse” zu identifizieren, was nach Ansicht der Mehrheit nicht böse ist (in seinem Fall: Adolf Hitler in den 1930er Jahren) hat vor allem den Theologen und NS-Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer beschäftigt. Obwohl Bonhoeffer heute – wo sich die Mehrheitsmeinung im Bezug auf das “Böse sein” Hitlers bekanntlich gewandelt hat – als Held des Widerstandes gefeiert wird, ist seine Ethik leider nicht sehr beachtet. Bonhoeffer empfand seinen Widerstand nämlich keineswegs als Kampf des “Guten” gegen das “Böse”. Dass er Selbstmordattentate unterstützte, bei denen auch Unschuldige sterben konnten, hielt er für Sünde und fühlte sich keineswegs dadurch gerechtfertigt, dass es gegen einen “Bösen” wie Hitler ging. Er war nicht der Meinung, dass er moralisch im Recht sei. Im Gegenteil: Er verurteilte Attentate, “musste” sie aber dennoch unterstützten (vgl. dazu auch meinen Artikel “Über das Müssen“). Für diese seine persönliche Tat war Bonhoeffer auch bereit, gerade zu stehen. Seine Hinrichtung durch die Nazis empfand er nicht als “ungerecht”, sondern als folgerichtig (auch wenn er sich sicherlich gewünscht hat, ihr zu entgehen, was dann aber Glück gewesen wäre und nicht eine Art höherer Gerechtigkeit).
Bonhoeffer war, genau wie Simone Weil, ein religiöser Mensch. Der “Richter” über das, was getan werden muss, war für beide Gott. Aber kein Gott, der seine Gebote in der Welt machtvoll durchsetzt, sondern einer, dessen Wille nur erkennbar ist für diejenigen, die Gott lieben. Simone Weil hielt sogar gerade das erlittene Unglück für die beste Quelle der Gotteserkenntnis, weil genau die damit verbundene Ohnmacht es Menschen überhaupt nur ermöglicht, von ihren eigenen Interessen und Meinungen abzusehen und die Realität in ihrer ganzen Wahrheit zu erkennen. So machte Weil aus der Leere, der Lähmung, der Orientierungslosigkeit im Angesicht des Bösen (aus dem Unglück also) einen Hebel, der zur Erkenntnis des göttlichen Willens, der Wahrheit des Seins führt (aber man könnte auch einfach ganz weltlich sagen: der Erkenntnis dessen, was “richtig” ist) und damit zu der Stärke, die für freies Handeln im Angesicht von übermächtiger Herrschaft notwendig ist.
Die “Richtigkeit” eines politischen Handelns zeigt sich also nicht darin, ob ich andere davon überzeugen kann, ob mein “Programm” mehrheitsfähig ist. Die Gewissheit, die es braucht, um wie Bonhoeffer oder Weil politisch gegen den Mainstream und das, was im eigenen Umfeld jeweils für richtig und falsch gehalten wird, zu handeln, muss notwendigerweise persönlich sein, denn würde sich diese Gewissheit gesellschaftliche Macht verschaffen, wäre sie diktatorisch oder totalitär (ein Gottesstaat eben). Man kann natürlich versuchen, andere mit Argumenten von den eigenen Einsichten zu überzeugen, aber man kann sie nicht dazu zwingen, diese Einsichten auch zu haben.
Dies ist das Dilemma, in dem wir stehen, wenn es um das “Böse” geht: Wir können andere nicht zwingen, einzusehen, dass das, was sie für “natürlich” halten, aus unserer Sicht “menschengemacht” ist. Diese Unterscheidung deshalb aufzugeben und sich auf die Perspektive derer einzulassen, die Unglück erleiden – aus welcher Quelle auch immer – ist kein moralischer Appell. Es ist vielmehr eine Haltung, die es uns ermöglicht, angesichts der Realität des Bösen politisch handlungsfähig zu bleiben (oder zu werden).
Das böse Glück
Meine Gedanken (zu Antjes Gutem bzgl. des Bösen) kann/darf ich hier mitteilen, – das wurde mir da oben hingeschrieben. Und so will ich die Gelegenheit nützen und ich will vor allem geDANKen sagen:
ich danke allen, denen Antje in ihrem Beitrag das Wort erteilt hat!
also danke ich vor allem zuerst Antje selbst, aber somit und gleichzeitig auch all den anderen, durch sie sprechenden, wie Ivone Gebara, Birgit Kübler, Simone Weil, Dietrich Bonhoeffer,…
Ihr alle redet nicht über mein Unglück, sondern ihr sprecht zu und mit mir; mir, die ich das “Unglück
habe an MS zu leiden”. –
Das ist wunderbar! Drum danke ich euch allen. Und was ich im Einzelnen so wunderbar empfinde, ist in diesem Sinne alles unschwerlich in Antjes Text nachzulesen.
Ich will nur noch dazu sagen und das klingt möglicherweise etwas überspitzt: ich danke auch diesem, “meinem” Unglück, das seit über 20 Jahren zu meiner ständigen Begleiterin geworden ist! Also, dass ich mir die Begleitung selbst (aus)gesucht hätte… -so wird mir manchmal gesagt, ufff-, ist mir nicht bewusst. Sie ist einfach da, und ich lebe mit ihr. Die Frage, ob ich diese “Begleiterin” nicht mehr haben wollen würde, stellt sich mir gar nicht, – jedenfalls so nicht.
Denn heute steh -bzw. rolle ich, so wie es ist, mitten im Leben, – was immer das sein mag; und ich hoffe, so bleibt es auch dann, wenn das Rollen zum stillen Stand kommen sollte. – Aber nicht mißverstehen: bitte und gerne nehme ich weiterhin jede Linderung und Hilfe an, aber nur wenn ich die sein und bleiben kann und die ich in Begleitung geworden bin:
ich bin schon immer Fidi Bogdahn,
und das/die ist gut so!
(…und wenn ihr mal wieder was für die MS-Gesellschaft spenden werdet, könnt ihr sicher sein, das Geld fließt an mir vorbei – rein in die Forschung. Und dort wird dann das “böse Unglück” für mich so richtig bekämpft…na denn mal zu!)