Forum für Philosophie und Politik
Von Bettina Bremer
Am 23. September waren zwei Vertreterinnen des sogenannten “neuen Feminismus” zur 6. Rüsselsheimer Frauentagung gekommen. Eingeladen hatten die VHS, die interne Frauenbeauftragte, der Mädchenarbeitskreis, die Frauenkammer und das Frauenzentrum. Auch mich hatte interessiert, was die beiden Autorinnen, Jana Hensel und Elisabeth Raether, auf Lesereise zu ihrem im April erschienenen und seither kontrovers diskutierten Buch “Neue deutsche Mädchen”, mitteilen wollten. Deshalb ging ich hin, denn ich hatte ihr Buch noch nicht gelesen.
Ausgelöst worden war ihr Schreiben durch eine Veranstaltung zu einem Jubiläum: die Pressekonferenz zum 30-jährigen Bestehen der Zeitschrift EMMA. Was die Journalistin Jana Hensel dort hörte und wie sich Alice Schwarzer dort präsentierte, machten ihr klar, dass sie sich in dieser Form des Feminismus nicht wiederfindet. Alice Schwarzer, für die Medien die Verkörperung des deutschen Feminismus in Person, ist für sie weder ein Vorbild noch redet sie über Themen, die sie betreffen. Zunächst eher überrascht, dass sie in dem, was Alice Schwarzer doch angeblich über die Anliegen “der” Frauen vorträgt, nicht vorkommt, und dann immer stärker verärgert, beschloss sie, gemeinsam mit ihrer Freundin ein Buch über das zu schreiben, was wirklich in ihrem Leben geschieht. Diese Wahrnehmungen sind relevant. Nach den Angaben der Rüsselsheimer Veranstalterinnen sind sie genau der Grund, warum die Autorinnen zur Lesung mit Gespräch eingeladen wurden – um von ihren differenten Erfahrungen, ihren Einschätzungen zu hören.
Die beiden Frauen wollten einen literarischen Text verfassen, kein Thesenpapier zur Frauenbewegung, und waren später überrascht, dass ihr Buch als politischer Text diskutiert wurde. Sie wollten über sich sprechen, mit Verallgemeinerungen aufhören, keine neuen Definitionen formulieren, den klassischen feministischen Themen-Kanon aufbrechen und über alle Bereiche ihres Lebens schreiben – und zwar aus weiblicher Perspektive. Das alles hatte also der Feminismus in ihren Augen bisher nicht getan. Ich denke, ich war nicht die einzige im Saal, die über diese Interpretation erstaunt war.
In den Selbsterfahrungsgruppen, mit denen für viele Frauen ihr politisches Denken und Handeln begann, sprachen Frauen bereits vor 30 Jahren über sich. Über alle Bereiche des Lebens nachzudenken, nichts als “nur” in den Bereich des Privaten gehörend anzusehen und sich nicht vorschreiben zu lassen, was für Frauen wichtig sei, war von Anfang an grundlegend für die Frauenbewegung. Etwas später kam die Erkenntnis dazu, dass es “das” Wollen “der” Frauen nicht gibt, dass es aber sehr wohl nötig ist, die gesellschaftlichen und privaten Möglichkeiten zu schaffen, damit Frauen nach ihren jeweils eigenen Wünschen fragen, frei entscheiden und handeln können. Und dass es dafür notwendig ist, dass sich Frauen aufeinander beziehen und sich füreinander einsetzen. Und die Aussage, dass Feministinnen sich nicht für Mütter zuständig gefühlt hätten, vergisst, dass die Frauenbewegung in den 70er Jahren mit der Gründung von selbst organisierten Kinderläden startete. Nicht alle Feministinnen verordneten den Frauen Karriere statt Kinder.
Auf die Frage aus dem Publikum, warum die 1976 in Leipzig und 1979 in Heidelberg geborenen Autorinnen sich im Titel ihres Buches als Mädchen bezeichnen und nicht als Frauen, nannten sie verschiedene Aspekte: Das habe zu tun mit Koketterie, damit, sich nicht entscheiden zu können, und es spiele mit Unschuld. Diese Erklärung sprach mich nicht an. Dass sie zusätzlich auch formulierten, dass es in ihrem Text um Kindheit gehe und um eine Zeit der Ungebundenheit (für eine der Autorinnen endet das Buch vor der Geburt ihres Kindes), eine Zeit des Lernens, sagte mir mehr, auch wenn ich, nur rund 15 Jahre älter als die Autorinnen, von mir nie als Mädchen sprechen würde und auch nicht vor 15 Jahren gesprochen hätte.
Was ich aus den Textstellen, die die Autorinnen zur Lesung ausgewählt hatten (über den Anlass, dieses Buch zu schreiben, über ihre Mütter und deren Scheidungen, über das Verhalten ihrer Väter in neu gegründeten Familien, über Liebesbeziehungen zu Männern, die von ihnen beendet wurden, über die Sehnsucht nach der sorgenfreien Kindheit – unterschiedlich in ihren Erfahrungen aus Ost- und Westdeutschland) herausgehört habe, ist ein großes Verlangen nach Verbindlichkeit und Ordnung. Doch wünschen sich die Autorinnen nur die fragwürdige Sicherheit einer wohlgeordneten Welt, die nicht ständig Entscheidungen von ihnen fordert? Die ihnen Wege bietet, die sie nicht permanent selbst gestalten und verantworten müssen? Oder ist das ein Ausdruck der Sehnsucht nach Wärme und fehlender Orientierung? Vielleicht sogar eine versteckte Klage über die verloren gegangene Sinnhaftigkeit im gesellschaftlichen Geschehen?
Mehrfach betonten die Vortragenden, in einer Zeit großer Unverbindlichkeit aufgewachsen zu sein. Das habe Frauen ihrer Generation geprägt, es zeige sich u.a. darin, dass wenige junge Frauen heirateten, sondern eher ihre Partner wechselten. In der anschließenden Diskussion formulierten sie als ihr wichtigstes Anliegen: “Wie kann ich als Frau selbstbestimmt und gleichzeitig verbindlich sein?” Thematisierten sie damit nur die Suche nach einer “heilen” Familie und dem “richtigen” Mann oder drückt sich darin der tiefe Wunsch nach verbindlichen menschlichen Beziehungen aus? Nach einem Beziehungsgeschehen, das nicht beliebig ist, nicht folgenlos bleibt, das sein könnte oder auch genauso gut nicht?
Eine Zuhörerin fragte, was wohl viele an diesem Abend interessierte: “Was ist neu an dieser Feminismusdebatte? Und vor allem: Was ergibt sich aus ihr?” Die Autorinnen sprachen davon, dass sie eher Fragen stellen wollen als Antworten zu geben, dass sie tasten, suchen, ausgewogen sein und nichts zuspitzen wollen – das erscheine ihnen zeitgemäß. Mir drängte sich immer mehr die Frage auf: Soll sich überhaupt etwas daraus ergeben? Die Autorinnen betonten, dass sie nicht als Politikerinnen agieren wollten. Aber wollen sie auch nicht politisch agieren?
Neu sei, dass sie nicht mehr wie die Frauen aus den 70er Jahren aus einer Position der Ungleichheit zwischen Frauen und Männern sprächen, sondern aus einer Position der gelebten Gleichheit zwischen Frauen und Männern – zumindest im Privaten. Interessant fand ich, dass die Autorinnen über die Einschränkungen, die sie in der Berufswelt erlebt haben und die sie, wie ich später erfuhr, im Buch auch beschreiben, an diesem Abend nichts sagten. Und mindestens genauso interessant ist für mich, dass sie, obwohl sie sich von Alice Schwarzer inhaltlich nicht vertreten fühlen, deren grundlegende These, dass die Selbstverwirklichung der Frauen darin bestehe, gleich den Männern zu sein (und zu handeln), vorbehaltlos teilen. Indem die Autorinnen den Feminismus in ihrer Wahrnehmung auf Alice Schwarzer verkürzen, nicht betrachten, was sich seit den 70er Jahren alles zwischen Frauen entwickelt hat, wiederholen sie selbst diese von ihnen doch eigentlich abgelehnte Denkfigur.
Vom “Feminismus der 70er Jahre” fühlen sie sich nicht angesprochen, doch sie möchten auch nicht in die alte traditionelle Frauenrolle gepresst werden – die haben sie nach ihren Angaben ja längst überwunden. Ich dachte: Schade, dass wir nichts über die Zeit nach der Geburt des Kindes erfahren. Ob sich da etwas verändert hat in der “Position der gelebten Gleichheit”?
Jana Hensel und Elisabeth Raether wollen von sich erzählen. Gut. Und dann? Auch wenn die beiden Autorinnen diese Frage weder stellen noch beantworten wollen – für mich bleibt sie wesentlich.