Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Das Buch “Häutungen” steht seit langem in meinem Bücherschrank. Da ich alles immer ordentlich archiviere, steht vorne auch drin, seit wann: Juli 1988. Das Büchlein sieht nicht sehr abgegriffen aus, vielleicht habe ich es damals gar nicht gelesen. Mir fehlt jedenfalls jede Erinnerung daran. Ich zog es kürzlich wieder aus dem Regal, weil ich den Tipp bekommen hatte, das neue Buch von Verena Stefan zu lesen: “Fremdschläfer”. Aber auch beim zweiten Anlauf kam ich in die “Häutungen” nicht rein, ich blätterte es nur durch, bis zur letzten Seite, wo eine Frau namens Cloe sagt: “der mensch meines lebens bin ich”, und damit endet die Geschichte. Für diese Erkenntnis, dachte ich, brauche ich kein Buch. Brauchte ich auch damals schon nicht, 1988, als ich 23 war: Natürlich bin der Mensch meines Lebens ich. Wer denn auch sonst?
Mit “Fremdschläfer” war es dann aber ganz anders. Ich las das Buch auf einen Rutsch durch. “Fremdschläfer” ist – wie ja auch der Titel schon sagt – eine Analyse oder besser: eine Schilderung des Fremdseins (“Fremdschläfer” sind im Bürokratendeutsch der Schweiz Asylsuchende, die an einem anderen Schlafplatz als dem offiziell zugewiesenen übernachten).
Drei Fremdheitszustände der Protagonistin werden geschildert: Die Fremdheit der Migrantin (die Protagonistin ist, wie Verena Stefan selbst auch, eine Schweizerin, die in Kanada lebt). Dann die Fremdheit des eigenen Körpers, in dem ein Brustkrebs wächst. Und schließlich die immer wieder aufscheinende Fremdheit in den Beziehungen, und zwar gerade auch den gelingenden: In diesem Fall vor allem zur Geliebten, die nämlich weder Migrantin noch krank ist, sondern Kanadierin und gesund. Diesen Aspekt fand ich den Spannendsten: Wie es nicht mit dem Fremdsein als solchem getan ist, sondern das Fremdsein auch unweigerlich zu einer Entfremdung (oder mindestens Momenten der Entfremdung) führt zwischen denen, die fremd sind, und denen, die es nicht sind. Auch dann, wenn beide sich lieben.
Verena Stefan ist eine gute Beobachterin von Details, die sie in ihrer knappen, schnörkellosen Sprache schildert, sodass man ständig den Eindruck hat, man ist dabei (oder gar, man hätte diese oder jene Situation auch schon mal erlebt). Wobei das Wo-Sein des Dabeiseins genau genommen das Innere der Erzählerin ist. Sie spricht nämlich das ganze Buch über zu sich selbst, so als würde sie sich selbst ihre eigene Geschichte erzählen (“Unwillkürlich hebst du die Arme an, als möchtest du etwas willkommen heißen.”)
Das ist eine interessante Perspektive, vor allem im Zusammenhang mit dem Satz aus den Häutungen: “der mensch meines lebens bin ich”. Was nämlich offenbar nicht das Ende beschreibt, kein Resumee ist, wie ich zunächst dachte, sondern einen Anfang. Der Anfang des freien Handelns im eigenen Leben nämlich (der, wie schon Hannah Arendt beobachtete, oft das Ergebnis eines Dialogs mit sich selbst ist), und in dem wir letztlich alle damit rechnen müssen, irgendwann von Fremden umgeben zu sein: Sei es eine fremden Welt (sollten wir emigrieren), seien es fremde Menschen (sollten wir uns in solche verlieben), sei es ein Fremdes im eigenen Körper (sollten wir krank werden).
Das Leben wäre also zu sehen als eines, das du dir selbst erzählen musst, um es zu verstehen, denn die anderen verstehen es nicht, oder jedenfalls kannst du dir dessen nicht sicher sein: Beziehungen, Lieben und geliebt Werden, ist hilfreich, sogar notwendig, um das zu überstehen (und ja nicht nur dafür). Aber es hebt den Sachverhalt als solchen nicht auf.
Selten ist das Thema Fremdheit (und, weil beides zusammengehört, auch das Thema Heimat) so intelligent literarisch verarbeitet worden. Und es ist meines Erachtens kein Zufall, dass das eine Feministin geschrieben hat, die vor dreißig Jahren bereits das weibliche Fremdsein in einer Männerwelt so gut beschrieben hat, dass sich so viele Frauen dieser Generation darin wiederfanden.
Verena Stefan: Fremdschläfer. Amman Verlag, Zürich 2007, 18,90 Euro.