Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Kaum mit dem Literatur-Nobelpreis gekürt und von der Frauenbewegung als eine der ihren gefeiert, fordert Doris Lessing mit ihrem neuen Roman “Die Kluft” ihre Fangemeinde gewaltig heraus. Entspinnt sie darin doch mit blühender Phantasie einen neuen Schöpfungsmythus, der ziemlich harter Tobak ist: Am Anfang waren die “Spalten”, Menschenwesen mit Gebärmutter und Vagina, die gerade aus dem Meer gekrochen sind und in ihren Höhlen an der Küste relativ träge vor sich hin leben. Lange, Jahrhunderte lang, genügt ihnen der immerwährende Zyklus von Geboren werden und Gebären, Fisch essen und ein bisschen im Meer herum schwimmen. Bis eines Tages etwas Unglaubliches geschieht: Es werden Kinder geboren, die zwischen den Beinen keine Spalte haben, sondern “Beulen und Klumpen und so ein Ding wie eine Röhre, das manchmal wie eine Seegurke aussieht.”
Für “Ungeheuer” und Missbildungen halten die Spalten diese neuen, anderen Kinder, und deshalb setzen sie sie zum Sterben aus. Doch es werden immer neue “Ungeheuer” geboren, und langsam entsteht Panik. Die Spalten versuchen, die “Andersartigen” loszuwerden, schneiden ihnen ihr Gebammel ab, woran diese natürlich sterben, versuchen sie zu töten. Doch mit Hilfe von Adlern, die die neugeborenen Zapfen-Kinder an einen sicheren Ort bringen, und von Hirschkühen, die sie mit ihrer Milch ernähren, können diese im Nachbartal überleben. So entstehen zwei getrennte Populationen, die nur durch lange Kämpfe, Irrungen und Wirrungen ein gemeinsames “Volk” werden.
Auf so radikale Weise ist die weibliche Sehnsucht nach einer vorgeschichtlichen Lebensweise rund um eine Urform schöpferischer Mütterlichkeit wohl selten in Frage gestellt worden. Doris Lessing kehrt zwar die patriarchalen Schöpfungsmythen, die die Frau als Folgeerscheinung des Mannes darstellen, um und lässt die Frauen die ursprünglichen Menschen, die Männer hingegen eine spätere Variante sein. Aber unter welch grausamen und für die Frauen wenig schmeichelhaften Begleitumständen! Kein Wunder, dass viele Leserinnen über derlei Phantasien “not amused” sind.
Auch ich habe das Buch von einer Freundin bekommen, die nach den ersten Seiten nicht weiterlesen mochte. Und damit teilt sie die Einschätzung der Feuilletons, die schrieben, die Geschichte sei “ziemlich platt” (Frankfurter Rundschau) und “dürftig” (Süddeutsche Zeitung). Ich hingegen habe das Buch in erster Linie mit den Augen eines Science Fiction und Fantasy-Fans gelesen und kam durchaus auf meine Kosten.
Ein Haupt-Kritikpunkt bei der negativen Beurteilung des Romans ist, dass Lessings Beschreibungen der sich herausbildenden Eigenschaften von Weiblichkeit und Männlichkeit relativ klischeehaft sind. Und das sind sie in der Tat: Die Männer sind erlebnishungrig und gehen auf Expeditionen, die Frauen sind heimelig und nörgelig auf Sicherheit bedacht. Doch bei diesem Geschlechterklischee handelt es sich ja nicht um eine Erfindung von Doris Lessing, vielmehr ist dies die Realität, die sich in der späteren Entwicklungsgeschichte der Menschheit zweifellos so herausgebildet hat. Lessing unterstreicht das in ihrem Roman, indem sie diese Urgeschichte der Menschheit von einem Historiker aus dem antiken Rom erzählen lässt, der sie aus uralten Dokumentenfetzen herausdestilliert und dabei natürlich vor der Folie seiner eigenen, bereits patriarchalen Sicht interpretiert.
Der springende Punkt ist, dass es sich in Wahrheit nicht um einen Versuch handelt, die Wesenseigenschaften von heutigen (oder römischen) Frauen und Männern auf irgendwelche Ereignisse in grauer Vorzeit zurückzuführen. Dies zu meinen ist ja ein weit verbreitetes Missverständnis im Hinblick auf Schöpfungsmythen. Zum Beispiel wurde auch die Geschichte von Adam und Eva als Paradebeispiel für den Geschlechterdualismus gelesen, mit der hinterlistigen und verführerischen Frau und dem überlegenen, zuerst geschaffenen Mann.
Wovon Schöpfungsmythen aber eigentlich erzählen, und das gilt in grandioser Weise eben auch für die aus Doris Lessings Roman, das ist die Entwicklung von einer eingeschlechtlichen hin zu einer zweigeschlechtlichen Gesellschaft. Ob das ursprüngliche, geschlechtsneutrale Menschenwesen (so die genaue Übersetzung des hebräischen Wortes “Adam”) dann später durch eine Frau (Eva) oder durch einen Mann (das erste “Ungeheuer”) aus den ehemals schläfrig-paradiesischen Zuständen aufgerüttelt wird, ist eigentlich unerheblich. Entscheidend ist: Erst durch die Erscheinung eines “anderen” Geschlechts kommt so richtig Dynamik in die menschliche Entwicklung. Und zwar vor allem deshalb, weil das Wissen um die Differenz, um die Existenz von “anderen”, überhaupt erst den Blick öffnet für Differenzen auch innerhalb der eigenen Gruppe – im Roman etwa, indem manche “Spalten” den Kontakt zu den “Zapfen” suchen, andere dies aber gefährlich finden und bekämpfen. Wodurch dann noch erschwerend die gegenseitige Abhängigkeit hinzukommt: Durch den Kontakt mit den “anderen” verlieren die “einen” nämlich die Fähigkeit der selbstständigen Fortpflanzung. Das Zusammenleben wird zur Überlebensfrage für beide.
Dass die Entstehung der sexuellen Differenz mit dem Ende der Harmonie einhergeht, sei es durch die Vertreibung aus dem Paradies oder die Konflikte, die zwischen den “einen” und den “anderen” unweigerlich entstehen, ist klar: Es ist die Pluralität der Menschen, die unsere Gattung auszeichnet, und die sexuelle Differenz, die unhintergehbar ist, ist dafür der Platzhalter. Indem Doris Lessing den Spieß umdreht, und die Frauen zum ursprünglichen Geschlecht macht, zeigt sie, dass es genau auf diese Ursprünglichkeit überhaupt nicht ankommt. Es ist sozusagen Jacke wie Hose, wer zuerst da war. Die interessante Frage ist, wie wir als Menschengeschlecht mit der Tatsache der Differenz umgehen. Und dass das unseresgleichen in grauer Vorzeit nicht sonderlich gut gelungen ist, darf wohl als sicher gelten – wenn man sich anschaut, was später dabei herausgekommen ist.