Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
In ihrem neuen Buch erzählt die türkische, in Spanien aufgewachsene und in den USA lebende Autorin Elif Shafak die Geschichte von zwei jungen Frauen in einem der vielen weltgeschichtlichen Konflikte – nämlich dem zwischen Türken und Armeniern. Es ist ein vergnüglich zu lesender und doch nie banaler Roman, der auf gewisse Weise die “Politik der Frauen” anschaulich macht, von der Maria Terragni in diesem Forum geschrieben hat.
Armanoush, alias Amy, ist die Tochter einer Amerikanerin und eines Armeniers, dessen Familie vor dem Genozid in die USA geflüchtet war. Nach der Trennung ihrer Eltern hat Amys Mutter ausgerechnet einen Türken geheiratet. Um zu verhindern, dass ihre Enkelin gewisseraßen “türkisiert” wird, bemüht sich Großmutter Shushan, in Amy die armenische Geschichte und Kultur wach zu halten. Mit anderen Exil-Armeniern in den USA via Internet-Chat verbunden, entwickelt Amy ein starkes Zugehörigkeitsgefühl zum Schicksal “ihres Volkes”.
Asya wiederum ist als uneheliche Tochter in eine Istanbuler Frauengemeinschaft hinein geboren. Erzogen wird sie von vier Tanten (ihrer leiblichen Mutter, die sie aber auch “Tante” nennt, und deren drei Schwestern), einer Großmutter und einer Urgroßmutter – die Männer in jener Familie sind alle früh gestorben. Um den einzigen Bruder der vier Schwestern vor diesem Schicksal zu bewahren, wurde er als junger Mann in die USA geschickt, wo er eine Amerikanerin geheiratet hat – und zwar die Mutter von Amy.
Als Amy beschließt, auf den Spuren ihrer Großmutter in die Türkei zu reisen und die armenische Geschichte zu erforschen, quartiert sie sich bei der Familie ihres Stiefvaters ein. In vorsichtigen Annäherungen arbeiten die beiden jungen Frauen die tabuisierte Geschichte des türkisch-armenischen Konfliktes auf, der ihrer beider Leben geprägt hat. Sie finden heraus, wie verschlungen die Lebensgeschichten ihrer Mütter, Großmütter und Urgroßmütter waren und wie komplex die Werte und Ansichten, die daraus entstanden sind.
Elif Shafak schildert nicht nur den Alltag des Istanbuler Lebens, sondern auch die große Bandbreite weiblicher Lebensstile: Tante Banu, die fromme Muslimin, die Kopftuch trägt und als Hellseherin arbeitet, Tante Cerviye, überzeugte Kemalistin, die als Lehrerin arbeitet und türkischen Nationalstolz verbreitet, Tante Feride, die etwas verdreht ist und ihre Krankheiten ebenso schnell wechselt wie die Haarfarbe, und schließlich Tante Zeliha, Asyas leibliche Mutter, die rebellische Emanzipation predigt, extrem kurze Miniröcke trägt und ein Tattoo-Studio betreibt. Schließlich sind da noch die mürrische Großmutter Gülsum, die in einem früheren Leben ganz sicher Ivan der Schreckliche war, und sowie Petite-Ma, die demente Urgroßmutter, die die Verbindung mit weit zurück liegenden Zeiten hält. Vielleicht ist das alles etwas zu bemüht idealtypisch, aber das tut dem Buch keinen wirklichen Abbruch.
Das Reden und Handeln all dieser verschiedenen Frauen, ihre Konflikte und Diskussionen (Amys Ärger darüber, dass Asya zwar die französischen Existenzialisten liest, aber noch nie über die Armenierfrage nachgedacht hat), ihre Freude an Gemeinsamkeiten (dass Amy türkisches Essen schätzt, denn ihre armenische Großmutter hat dieselben Gerichte gekocht) – all das zeigt eine Dimension des Politischen, die nicht in den Zeitungen und Geschichtsbüchern zu finden ist.
Eine der interessantesten Fragen ist dabei die, was ans Licht geholt werden soll oder sogar muss, und was besser im Dunkeln bleibt. Vielleicht zeigt sich gerade in der Aufmerksamkeit der Frauen für diese Frage ein bedeutsamer Weg. Wer ist Asyas Vater? Was genau hat Großmutter Shushan vor ihrer Flucht aus der Türkei erlebt? Der Umgang mit Tabus, die Autorität, sie zu brechen, und gleichzeitig die Weisheit, sie zu wahren, ist eine weibliche Domäne – mit allen Irrtümern, die es dabei geben kann inklusive der Versuchung, Dinge nur um “des lieben Friedens willen” zu vertuschen. Dies bewusst zu gestalten, könnte einen Pfad weisen durch die Verwirrungen einer Politik, die sich allzu oft nur auf einen interessegeleiteten Kampf um die Vergangenheit versteift: Die einen, die alles ans Licht zerren wollen gegen die anderen, die alles vertuschen wollen.
Amy und Asya jedenfalls stoßen bei der Suche nach ihrer eigenen Geschichte und der ihrer Völker immer wieder auf Tabus: Die ganze Wahrheit zu wissen kann manchmal gar nichts nützen, wenn es darauf ankommt, einen Sinn in der Realität zu finden – ebenso wie es auf der anderen Seite keinen Lebenssinn geben kann, wenn man die eigene Verwicklung in die Vergangenheit, die Familiengeschichte wie die Weltgeschichte, nicht wahrhaben will.
Elif Shafak: Der Bastard von Istanbul. Roman. Eichborn, Frankfurt 2007, 22,90 Euro.