Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Margarete Susman war eine politische Denkerin und Aktivistin, die zum Umkreis der so genannten „Jüdischen Rennaissance“ gehörte, einer intellektuellen Strömung, die Anfang des 20. Jahrhunderts darüber nachdachte, wie Jüdischsein und Deutschsein zusammenpassen. In einem engeren Sinn waren das Religionsphilosophen wie Martin Buber oder Franz Rosenzweig, in einem weiteren Sinn zählen auch säkulare jüdische Philosophen und politische Aktivisten dazu wie etwa Ernst Bloch oder Gustav Landauer.
Diese Namen hat man alle schon mal gehört, den von Margarete Susman eher nicht. Dabei war sie eine wichtige Persönlichkeit in diesem Netzwerk; sie stand mit allen Genannten in einem regen Austausch von Ideen, schrieb Bücher und politische Essays in großen Zeitungen. Ich habe mich sehr gefreut, dass Elisa Klapheck den spezifischen politischen und ideengeschichtlichen Beitrag Susmans zu diesen Debatten genau untersucht und nicht auf der biografisch-emanzipatorischen Ebene stehenbleibt, wie es leider so viele Bücher über „vergessene starke Frauen“ tun.
Susman ist 1872 geboren, also eine gute Generation älter als Hannah Arendt oder Simone Weil, doch ich fand viele Parallelen und Anknüpfungspunkte in ihrem Denken. Möglicherweise ließe sich hier eine ideengeschichtliche Genealogie aufzeigen, denn alle drei verband nicht nur ihr Frausein, sondern ja auch ihre jüdische Herkunft.
Susmans Biografin Elisa Klapheck, die selbst Rabbinerin ist (im egalitären Minjan der Frankfurter Jüdischen Gemeinde) interessiert Susman vor allem als Vordenkerin eines spezifisch jüdischen Beitrags zur westlichen Ideengeschichte. Auch aus diesem Grund ist diese Biografie sehr aufschlussreich zu lesen: Man erfährt sehr viel Interessantes und Neues über jüdische politische Philosophie generell.
Und in der Tat war die Differenz zwischen Judentum und Christentum, und auch die Differenz zwischen Judentum und Deutschtum, ein zentrales Thema für Susman. Sie selbst war als junge Frau (wie viele Jüdinnen und Juden damals) kurz davor gewesen, sich taufen zu lassen, sah dann aber davon ab, weil sie zu der Auffassung kam, dass das Judentum zu beidem, dem Christentum wie dem Deutschtum, etwas Wesentliches beizutragen habe. Dass die Differenz kein Problem wäre, sondern fruchtbar gemacht werden könnte und müsste.
Viele Jüdinnen und Juden traten damals für ein stärkeres Selbstbewusstsein ein und dafür, sich von den „anderen Völkern“ abzugrenzen. Die wichtigste Bewegung in dieser Hinsicht war natürlich der Zionismus, aber es gab auch Vorschläge, ein eigenes jüdisches „Profil“ zwar innerhalb der deutschen Mehrheitsgesellschaft, aber doch in Abgrenzung von ihr herauszubilden. Andere hielten das Judentum im Gegenteil für „überholt“ und plädierten dafür, sich an die deutsch-christliche Mehrheitsgesellschaft zu assimilieren und deren Werte und Ansichten zu übernehmen.
Susman vertrat demgegenüber einen dritten Weg, nämlich den der „Differenzvermittlung“. Sie beharrte darauf, dass das Anliegen der Judenheit nicht nur dem eigenen Volk gelte, sondern die ganze Welt betreffe, und dass die Tora, das jüdische „Gesetz“, in einem gewissen Sinne nicht nur an die Jüdinnen und Juden gerichtet sei, sondern an alle Menschen. Allerdings gerade nicht in dem Sinn, dass es universal gültige Regeln vorgeben würde, sondern eher so: Gerade weil die Tora nur für die Juden und Jüdinnen gilt, so Susman, habe sie eine Bedeutung für die gesamte Welt. Im Judentum wird sozusagen ein Wissen über die Welt „aufbewahrt“, das die anderen ebenfalls brauchen können.
Konkretes Beispiel: Zur damaligen Zeit – einer des stärker werdenden Nationalismus – wurde viel über die Loyalität jüdischer Bürgerinnen und Bürger diskutiert. Wie verträgt sich ihre Zugehörigkeit zum weltweit verstreuten „jüdischen Volk“ mit ihrer Loyalität zum „deutschen Volk“? Wenn sich zum Beispiel im Krieg französische und deutsche Juden auf den Schlachtfeldern gegenüberstehen (wie es ja im Ersten Weltkrieg der Fall war)?
Für Susman ist genau dies das Wichtige am Judentum: Es sei ein sichtbares Zeichen dafür, dass Menschen letztlich unter weltlichen Bedingungen immer „im Exil“ sind, dass eine hundertprozentige Beheimatung in einer Kultur oder Nation nicht möglich ist. Diesen Beitrag zum allgemeinen menschlichen Wissen kann das Judentum aber nur leisten, wenn es die eigene Differenz bewahrt, wenn es sich also weder assimiliert, noch einen eigenen Staat gründet und auf diese Weise selbst ein „ganz normales“ (nationalistisches) Volk wird.
Neben der jüdisch-christlichen oder jüdisch-deutschen Differenz hat Margarete Susman auch die Geschlechterdifferenz explizit thematisiert. In mehreren Texten beschäftigt sie sich mit dem Frausein in einer Welt, die von einer männlichen symbolischen Ordnung geprägt ist, und vor allem nach 1918 hielt sie zahlreiche Vorträge über die Gleichberechtigung, die damals ja ein tagesaktuelles Thema war. Wobei Susman allerdings eher von der „Revolution der Frau“ schrieb als von der „Emanzipation der Frau“, wie Klapheck betont (und was mir sehr sympathisch ist). Daraus habe sie eine „Metaphysik des Weiblichen“ entwickelt, zum Beispiel indem sie über die Frau als „Gottesgebärerin“ nachdachte.
Die Frage nach Gott ist für Susman zentral, denn – eine weitere Differenz, die sie beschäftigte – nur eine sowohl religiöse als auch atheistische Haltung war ihrer Ansicht nach der Welt angemessen. Sie plädierte für eine säkulare Religiosität, die sich weder weltlichen Religionsinstanzen verpflichtet fühlt, noch aber ohne Gott auszukommen glaubt (auch hier sind die Parallelen zu Simone Weil unübersehbar). Und für dieses säkulare Wiederbeleben Gottes, wenn man so will, spielt das „Gottesgebären“ eine entscheidende Rolle. So schreibt Susman in ihrem Buch „Vom Sinn der Liebe“:
„Nicht das Mutterwerden, nicht das Kind kann die Persönlichkeit erlösen, nie erlöst die Natur die Persönlichkeit. Das Symbol der weiblichen Erlösung in der Mutterschaft ist das Gebären Gottes. Die Verkündigung lautet nicht: Du sollst den Menschen gebären; sie lautet: Du sollst Gott gebären. Und dies ist die Bestimmung der weiblichen Seele. Der Gott, den wir alle verhüllt in uns tragen; der Mann muss ihn enthüllen in gestaltender Tat, die Frau muss ihn in Liebe und Schmerz gebären. (…) Der Weg des Mannes zu sich selbst geht durch die Idee, die er aus sich entließ und über sich stellte; der Weg der Frau zur Idee, zum Ganzen, geht durch die Verwandlung ihres Selbst.“ (zit. nach Klapheck S. 191)
Es ist interessant, solche Sätze heute zu lesen. Margarete Susman – die ihre wesentlichen Gedanken noch vor der „Frauenemanzipation“ in den 1920er Jahren formuliert – kann noch ganz unbekümmert in Kategorien von „weiblich“ und „männlich“ denken, die heute im politischen Diskurs als „biologistisch“ verstanden und vehement zurückgewiesen würden. Aber auch wenn Susman zwar von Frauen und Männern schreibt, so ist doch klar, dass sie „Weiblichkeit“ nicht als biologisches Geschlechtsmerkmal verwendet, sondern als Kategorie, mit deren Hilfe sie einen Gegenentwurf zur „Männlichkeit“ formulieren kann – und zwar ohne einen Universalanspruch erheben zu müssen, wie es der Fall wäre, wenn sie „geschlechtsneutral“ formulieren würde. Der „Weg des Mannes“ kann weiterhin bestehen, er ist nur nicht der alleinige Weg, denn ein „weiblicher Weg“ gesellt sich hinzu, der jedoch – und das ist wichtig – nicht einfach nur partikular ist, sondern ebenso allgemeinmenschliche Gültigkeit hat. So kann Susman zum Beispiel schreiben:
„Göttliches, das dennoch immer empfunden wird, wird nicht mehr vom Menschen angeschaut, sondern von ihm selbst geboren.“ (S. 192).
Diese Möglichkeit, aus einer weiblichen Differenz heraus politische Ideen zu formulieren und „der Menschheit“ anzubieten, ohne den männlichen Universalismus zu kopieren, ist mit der Emanzipation leider verloren gegangen. Hannah Arendt und Simone Weil hatten sie schon nicht mehr zur Verfügung, sie mussten bereits ihr Frausein für unbedeutend erklären, um in der „Welt der Männer“ Anerkennung zu finden. Margarete Susman hingegen lebte noch in einer Zeit, in der das nicht nötig war, im Gegenteil, die „berühmten Denker“ ihrer Zeit suchten nicht nur regelmäßig ihre Gesellschaft und ihren Rat, sondern explizit das, was zum Beispiel Landauer die „frauliche Perspektive“ nannte.
Ein Preis, den Susman wie viele ihrer Zeitgenossinnen für diese „weibliche Freiheit“ in voremanzipatorischen Zeiten zahlen mussten, war jedoch das Ignoriertwerden vom politikwissenschaftlichen Mainstream, der Frauen, die die Tatsache ihres Frauseins nicht verstecken, sondern zum Ausgangspunkt ihres Denkens machen, bis heute schlichtweg nicht zur Kenntnis nimmt – ein immer wieder fataler Bruch in der Genealogie weiblicher politischer Ideen.
Die Shoa überlebte Margarete Susman in der Schweiz, wohin sie 1933 sofort emigrierte. Nach Deutschland kehrte sie nie wieder zurück, die Möglichkeit eines deutschen oder auch europäischen Judentums hielt sie nach dem Holocaust für verloren. Bis ins hohe Alter hinein blieb Susman produktiv und politisch engagiert, sie starb 1966 im Alter von 93 Jahren.
Die Anregungen aus diesem über 400 Seiten starken Buch sind so vielfältig, dass es mir nicht möglich ist, alle interessanten Aspekte auch nur wenigstens kurz anzudeuten. Schließlich handelt es sich bei Margarete Susman um eine Denkerin, die über sechs Jahrzehnte lang aktiv war, entsprechend umfangreich und breit gefächert ist ihr Werk. Außerdem habe ich Lust bekommen, nach der Biografie über sie auch erst einmal Texte von Margarete Susman selbst zu lesen. Einige ihrer Bücher sind noch im Handel, andere leider nur überteuert antiquarisch zu bekommen.
Update: Drei Bücher und viele Aufsätze kann man bei www.margaretesusman.com als pdf runterladen!
Elisa Klapheck: Margarete Susman und ihr jüdischer Beitrag zur politischen Philosophie. Hentrich & Hentrich, Berlin 2014, 408 Seiten, 35 Euro.
Schön, dass es eine Webseite (noch weiter im Aufbau)über Margarete Susman und ihre Schriften gibt. Habe diese mal überflogen und bin an dem Aufsatz v. 1951 “Erinnerungen an Rosa Luxemburg” hängen geblieben. Hat mich sehr berührt.
hallo Antje, vielleicht interessiert dich/euch der Artikel in der NZZ vom 16.9.2014 http://www.nzz.ch/feuilleton/buecher/der-wille-zur-wirklichkeit-1.18384050
mit einem herzlichen Gruss von Ursula
Hat mich sehr erfreut und angeregt. In der multikulturellen Szene von heute sehr gut einsetzbar. Werde ihre Texte herunterladen. Danke.
Lisa Elisabeth Jankowski
Tolle Anregung,
Danke
Hanne