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Die Welt ist nicht eine. Und so ist auch die Textwelt von Chrysalis nicht eine Welt. In Ines Birkhans Prosa spannt sich und faltet sich eine Vielfalt aus, die sich den Bemühungen einer systematischen Kartographie ebenso erfolgreich entzieht, wie einer chronologischen Einordnung.
Wie sich also bewegen durch einen Text, der einer Richtung allein nicht stattgibt? Ein neues Lesen erfinden, einen anderen Durchgang, das ist die Chance und Aufgabe gleichermaßen, die Ines Birkhan der Leserin und dem Leser zueignet. Die findige LeserIn ist willkommen in dieser Prosa.
Es gibt Räume, Gegenden, Gemeinschaften, Verwandtschafts- und andere Bezugsstrukturen im Text, die versammeln, bündeln und wieder zerstreuen. Sanhortus ist der Ausgangsort des Romanes. Ein Ort am Rande seiner Existenz, eine Stätte in äußerster Bedrohung. Hier gibt es ein Geschwisterpaar, das sich auf der Flucht zugleich wie auf einem tollkühnen Weg der rettenden Befreiung befindet. Die Welt ist nicht eine, und dennoch entkommt eine ihr nicht, und einer auch nicht.
Gegenden werden zumeist über das sie organisierende Zentrum beschrieben. Mit dieser Gewohnheit bricht Ines Birkhan. Sie entwirft eine Architektur radikaler Dezentralisierung.
Als vages Zentrum zeigt sich ein Geschwisterpaar , Bruder und Schwester, denen die Aufgabe zukommt, Katastrophen abzuwenden, oder vielmehr deren unaufhörlicher Fortsetzung etwas entgegenzusetzen, Wandlungen zu initiieren.
Wie kann dieser Bedrohung begegnet werden?
Bleiben nur Flucht und Entzug? Oder pragmatische Entwürfe den Scherbenhaufen halbswegs gut und möglichst lange zu verwalten? Ines Birkhan schlägt mit einer überraschenden Leichtigkeit, die der Schwerkraft der Thematik widersteht, etwas anderes vor. Da, wo die phantastische Welt sich gerade nicht der quälenden Wirklichkeit der Probleme entzieht, sondern diese in ihrer Wirksamkeit spürbar macht, ist ihr Versuch anzusiedeln, zu berühren und an Grenzen zu gehen. Ines Birkhans Text ist eine Prosa der Körper, eine Prosa, die offen und ausgesetzt die Offenheit und Ausgesetztheit der Körper radikal ausbuchstabiert: “Wo beginnt mein Körper. Ab da, wo er undurchsichtig ist? Fängt er da an, wo ich mit meinen Fingern etwas berühre?
Alles meldet sich. Es meldet sich, was Angst, was Freude, was Sinn macht.
Es gibt keinen Weg aus der Krise.
Dennoch beschreitet die Autorin nicht den bekannten Pfad der Resignation. Sie beginnt die Linearität des Weges da aufzulösen, wo sie sich in die Krise hineinbegibt und aus deren Herz, dem Punkt der Wandlung, der Stelle, wo eine Struktur kippt, eine Prosa zu schreiben, die dichtet. Eine Prosa, die eine Dichtung ist, eine Verdichtung und zugleich Zerstreuung, eine sternförmige Landschaft, ein Körper, der nach allen Richtungen offen ist und sich aussetzt, mit Sinn begabt und aus dieser Gabe etwas macht. Ines Birkhans Prosa touchiert. Sie ist eine Wunde, wie eine Öffnung zugleich, Mund auch und Lidschlag, ein organischer Körper, zutiefst lebendig. Und um die unerhörte Kraft des Lebendigen geht es dann vielleicht auch besonders in den Schlusspassagen von Chrysalis: “Wie tief kannst du gehen? – So tief ich will.”
In dieser Tiefe berührt die Autorin das Moment der Schöpfungskraft selbst, um das wir alle rätseln. Wie wird etwas neu, wieder, anders? Wie entsteht etwas, wie lebt etwas und überlebt?
Die Frage nach dem “Wie” des Lebens wird jedoch nicht vorschnell beantwortet, vielmehr gibt es Raum für ein starkes “Dass” – es lebt.
Ines Birkhan, Chrysalis, Wien (Praesens Verlag) 2009, 225 S., 14, 90 Euro.