Forum für Philosophie und Politik
Von Antje Schrupp
Es ist heutzutage fast unmöglich, von Gott zu sprechen. Unmöglich, weil das Wort durch diejenigen diskreditiert ist, die von Gott so sprechen, als sei er ein Objekt, eine Marke, ein Label, irgend etwas, das zu bewerben, zu beweisen, an das zu glauben oder für das sogar zu kämpfen oder zu töten sei. Und auf der anderen Seite ruft das Wort reflexartige Abwehrbewegungen hervor bei denen, die alles, was mit Religion zu tun hat, für überholt, widerlegt, auf jeden Fall aber für äußert suspekt halten. Keine Frage, dass beide Seiten sich mit großer Verve bekämpfen, was nur bedeutet, dass sie sich gegenseitig am Leben halten.
Diese Auseinandersetzungen pro und contra Gott, pro und contra Religion, interessieren Luisa Muraro nicht. Sie selbst glaubt nicht an Gott, das schreibt sie mehrmals, und sie beendet ihr Buch mit dem Hinweis darauf, dass es auch gar nicht nötig ist, viel von Gott zu sprechen. Ihr Interesse liegt anderswo: Sie will das Wissen und die Erfahrungen jener Frauen heben, in Erinnerung rufen und für heute fruchtbar machen, die in früheren Jahrhunderten – speziell im späten Mittelalter – das Wort “Gott” verwendeten, um etwas zu sagen, das Muraro als Philosophin interessiert.
Wer war Gott für diese Frauen, die Beginen und die Mystikerinnen? Muraro schreibt: “Meinem derzeitigen Verständnis nach – das heißt dem einer Frau, die ihrerseits nicht an Gott glaubt und jene Texte nicht als Zeugnis eines Glaubens liest, sondern eher als Dokumente eines Wissens, das sie sehr nahe betrifft – war Gott für jene Frauen hier und da, er war sehr weit entfernt und sehr nah, er war der andere und die Beziehung zum Anderen.” (96)
An anderer Stelle nennt sie das die “Imminenz von Anderem”, und beschreibt damit einen Daseinszustand, der ihr erstmals bei der Lektüre von Margareta Poretes “Spiegel der einfachen Seelen” begegnet ist. Dieses Buch, geschrieben im 13. Jahrhundert, war zu seiner Zeit ein theologischer “Bestseller”, wenn man so will, für den die Autorin auf dem Scheiterhaufen sterben musste. “Ich begann Worte eines Gesprächs zu hören”, schreibt Muraro, “nicht nur eines neuen, sondern eines unerhörten Gesprächs zwischen zweien, die wir kurz eine Frau und Gott nennen. Eine Frau, das war gewiss, ob Gott, weiß ich nicht, aber gewiss war die Frau nicht allein. Es gab einen anderen oder eine andere, deren/dessen Stimme nicht bis zu mir gelangte, die ich aber vernahm, weil sie eine Unterbrechung in den Worten der Frau hervorrief, oder besser gesagt, einen Hohlraum, der die Lektüre verwandelte.” (12)
Und was war es, das Muraro daran so faszinierte? Es war die andere Art und Weise, wie Mensch und Gott, Innen und Außen, Subjekt und Objekt, Körper und Seele hier miteinander in Beziehung waren. Nicht als “reziproke Opposition”, wie es die westliche Philosophie gelehrt hat. “Zwischen der Frau und Gott galt diese Ordnung nicht”, schreibt Muraro, “Zwischen beiden fand eine ununterbrochene Bewegung statt, von einem zum anderen, mal verschwand die Frau (und war woanders), dann waren da zwei, bald war sie allein … Doch gab es keine Konfusion und noch weniger Indifferenz gegenüber der Realität und der Wahrheit, wie man glauben könnte und wie viele glauben, kaum ist von Mystik die Rede. Es gab so etwas wie die Eröffnung eines großen Spiels, eine Art Verhandlung über das, was wirklich und wahr ist, woran freimütig auch die Wünsche teilnehmen, ohne Zensur und Grenzen, ohne dass alles im Wahn unterging. Im fließend gewordenen Realen, lehrt uns Margareta, ertrinkt man nicht.” (14f).
Nicht um Glauben und Religion also geht es in dem Buch, sondern eher um eine Orientierung in der gegebenen Realität, die sich nicht mit der Verfolgung der eigenen Interessen begnügt oder damit, was nach der Logik dieser Welt und ihrer Systeme machbar und realistisch erscheint. Diese Suche, diese “Bettelei”, wie Porete sie nennt, ist keineswegs auf religiöse Menschen beschränkt. Im Gegenteil: Sie findet sich auch bei Menschen, die keiner Glaubensgemeinschaft angehören, und sie fehlt vielen Vertretern und Vertreterinnen religiöser Institutionen ganz offensichtlich.
Man könnte sie vielleicht beschreiben als eine Haltung, die nicht glaubt, in sich selbst oder in der Welt, so wie wir sie vorfinden, den Maßstab und die Richtschnur des Handelns finden zu können oder besser, die sich nicht mit dem zufrieden geben will, was diese Welt an Maßstäben und Richtschnüren bereithält. Menschen mit dieser Haltung verstehen unter “Politik” nicht, bestimmte Ideologien oder Positionen oder Interessen zu “vertreten” und “durchzusetzen”, aber ebenso wenig geht es ihnen um eine bloße Moderation zwischen verschiedenen Parteien oder Ansichten. Sondern sie ersehnen mehr, etwas Tieferes, Höheres, Anderes. Es geht dabei nicht darum, ob es dieses Tiefere, Höhere, Andere (das man Gott nennen kann oder auch nicht) gibt, sondern darum, ob es ersehnt wird.
Oder anders gesagt: Es sind Menschen, die im Bezug auf ihr In-der-Welt-Sein Fragen haben, wirkliche Fragen, keine rhetorischen. Und Muraro entdeckt in den Texten der Mystikerinnen Reflektionen und Einsichten dazu. Zum Beispiel die Erfahrung, dass es Antworten auf diese Fragen geben kann, die unabhängig sind von der eigenen intellektuellen Eloquenz. Es ist eine “Theologie in der Muttersprache”, ein Wissen, das sich nicht im akademischen Jargon ausdrücken lässt, sondern nur im Konkreten, im jeweiligen Kontext. Diese Theologie bringt Erkenntnisse hervor, aber keine, die sich “sichern” lassen oder die “allgemeingültig” wären. Für Muraro ist genau dies gleichbedeutend mit der Freiheit, “eine Freiheit, die in der Beziehung zu Gott erworben wurde und wesensgleich mit Liebe war, Freiheit von allen und von allem (auch “von Gott”) …, die also nichts und niemand garantieren kann. Aber eine Freiheit, die sich als Eröffnung und geheime Ressource anderer Freiheiten anbietet.” (21)
Die eigentlich interessante politische Frage ist also nicht, ob diese oder jene Maßnahme umgesetzt wird (obwohl das im konkreten Fall natürlich durchaus wichtig sein kann), sondern ob die Menschen die Freiheit überhaupt wirklich suchen, oder ob sie sich mit weniger zufrieden geben, zum Beispiel mit einer bestimmten Definition von Freiheit oder mit deren Zelebrierung (46). Denn, so lehrt die Erfahrung nun wirklich zur Genüge, solch eine festgeschriebene Freiheit macht die Menschen nicht glücklich, jedenfalls nicht dauerhaft. Und dann, wenn das Glück der ersten revolutionären Tage nachlässt, wird diese Art von Freiheit schädlich. Luisa Muraro erinnert sich zurück an ihre eigene Zeit in der Studentenbewegung. “Es war eine erregende Erfahrung”, schreibt Muraro. “Einmal die Angst vor dem ersten Schritt besiegt, empfanden wir sie nicht mehr, ich glaubte sie vergangen, aber das stimmte nicht. Tatsächlich war es nötig, die Dosis zu erhöhen, bis dahin, sich mit dem Gegner in der Fähigkeit des Tötens zu messen.” (47)
Die Politik der Frauen, die Theologie der Muttersprache, ist gleichzeitig komplizierter und einfacher als diese üblichen Kämpfe um die Macht, um Einfluss, um Revolution. Sie besteht darin, eine andere politische Praxis zu haben. Eine Praxis, die die konkreten Kämpfe und Projekte nicht geringschätzt, aber sich nicht der Illusion hingibt, auf irgendetwas definitive Antworten und absolute Wahrheiten haben zu können. Frauen (und auch Männer, denn es handelt sich hier nicht um eine Wahrheit, die nur für Frauen gilt, sondern um eine Wahrheit, die von Frauen entdeckt und formuliert wurde) – also Menschen, die das Gespräch mit Gott suchen, sind “mit der Gewissheit in der Welt, dass in ihr auch das Unmögliche Raum hat oder ihn finden kann. … Es gibt in dieser Welt ein Reales, das nicht gänzlich von dieser Welt ist.” (81)
Dieser “unvorhersehbare” Gott, von dem die Frauen berichten, ist anwesend und abwesend gleichzeitig (der Fern-Nahe, wie Margarete Porete schreibt), er gibt sich in einer Beziehung freier Liebe zu erkennen, lässt sich aber niemals greifen. Deshalb ist es auch völlig egal, ob wir das, worum es hier geht, Gott nennen oder irgendwie anders. Er/Sie/Es lässt sich sowieso nicht beweisen, nicht sichern, nicht herbeizwingen. Aber er/sie/es lässt sich in einer konkreten Situation erfahren. Es ist keine Illusion. Ich kann es ersehnen, lieben, und durch mein Sehnen und meine Liebe kann es sich ereignen oder auch nicht. Es hängt von mir ab und es hängt nicht von mir ab. Das ist das große Paradox: Es ist kontingent, also zufällig. Und es ist gleichzeitig notwendig, denn wir Menschen brauchen es so dringend wie die Luft zum Atmen. Deshalb bleiben wir immer Bedürftige, und genau darin, in dieser Bedürftigkeit, liegt der Schlüssel für unsere Freiheit. Es ist die Verleugnung dieser Bedürftigkeit, die uns Menschen unfrei macht. (34)
Dies war die Haltung, aus der heraus die religiösen Frauen des 13. und 14. Jahrhunderts ihre “Theologie in der Muttersprache” entwickelten, und mit der sie, wie Muraro überzeugt ist, auch die Grundlagen der westlichen Demokratien geprägt haben. “Es handelte sich um einen Kampf, den wir als politisch betrachten können. Dabei ging es aber nicht um politische Macht oder soziale Gerechtigkeit: Der Kampf ging um einen größeren und freieren Sinn unseres Daseins in der Welt. Es ging um das Glück, ja, ich glaube, das ist das richtige Wort.” (24)
Dieser größere und freiere Sinn des menschlichen Daseins liegt auch heute wieder unter starren Regeln und Universalismen begraben. Viele Frauen – und womöglich auch Männer – möchten sich damit nicht zufriedengeben und suchen einen Ausweg aus der falschen Alternative, sich entweder in kleine Nischen des “wahren” Lebens zurückzuziehen oder sich an die gegebenen Realitäten zu assimilieren oder sich von ihnen zermürben zu lassen. Die Frauen, die Muraro in ihrem Buch vorstellt, sind dabei eine Inspiration. Egal, ob man nun mit dem Wort “Gott” etwas anfangen kann oder nicht.
Luisa Muraro, Der Gott der Frauen, Übersetzung Angelika Dickmann und Gisela Jürgens, Verlag Frank & Timme, € 24,80
siehe auch der Artikel “Märchenhafte Theologie” von Andrea Günter
Danke Antje für die schöne und sorgfältige Rezension eines schwierigen und – zumindest für mich – sehr herausfordernden Buches. Ich habe es zwar zu Ende gelesen aber noch lange nicht zu Ende gedacht… Eine kleine Ergänzung: Wenn ich Muraro und die Mystikerinnen richtig verstehe, brauchen sie das Wort „Gott“ (auch) für das, „was uns geschieht“, was wir nicht selber machen und auch nicht erklären können: Glück, Unglück, Liebe. Sie nehmen es aber nicht einfach hin als Schicksal, Fatum, etwas Unausweichliches, sondern entwickeln dazu in Freiheit eine ganz persönliche Beziehung. Sie lassen es nicht einfach geschehen, sondern es entsteht eine Art „Affidamento“ zwischen ihnen und „Gott“ und sie erleben und beschreiben, was durch diese Art der Beziehung mit ihnen – und mit Gott – geschieht. Sie erkunden den Ort, wo das Kausalitätsprinzip (der Philosophen) versagt. Hierbei entsteht und vermitteln sie uns ein „Wissen, das nicht akkumuliert werden kann, denn es wirkt verändernd und verändert sich.“ (S 18) Uns, die wir gewohnt sind, in den Kategorien von Ursache und Wirkung zu denken – auch in Bezug auf die Vermittlung unseres „feministischen Wissens“ – irritiert das, aber vielleicht hilft es uns auch, gelassen(er) zu werden.