Forum für Philosophie und Politik
Von Birgit Kübler
In Annarosa Buttarellis Text finde ich viele kluge Gedanken, die mich an klassische chinesische Weisheiten erinnern, mit denen ich mich zur Zeit beschäftige. Was “das Böse” in einer Person selber betrifft, heißt es beispielsweise im “I Ging” sinngemäß: Energischer Fortschritt im Guten ist besser als gegen das als schädlich Erkannte anzukämpfen. Hiermit wird gleichfalls die Freiheit angesprochen, sich vom “Bösen” fernzuhalten.
Mit dem Begriff des “Bösen” habe ich allerdings Schwierigkeiten, auch wenn ich dessen Existenz nicht leugnen will. Und die Idee, die eigene Intuition in dieser Hinsicht zu stärken und sich eben nicht auf intellektuelle Verhandlungen mit dem “Bösen” einzulassen, finde ich grandios. Wie oft habe ich mir im Nachhinein schon vorwerfen müssen, “du hast gewusst, dass dir das schadet, warum hast du es doch getan?” Da sind wir in einem großen Zwiespalt, weil uns das Denken, und zwar das ganz genaue, analytische Denken, das Betrachten der vielen, unterschiedlichen Möglichkeiten, ja auch einen großen Weg zur Freiheit gebahnt hat!
Ich finde, dieser Begriff ist zu sehr Teil der polaren Ideologie von Gut und Böse, als dass er sinnvollerweise in einer Diskussion Verwendung finden kann, die im Ansatz versucht, die Realität urteilsfrei wahrzunehmen, und eine Lebensweise vorschlägt, die das Böse, das Leiden, das Negative als wirklichen Bestandteil annimmt und nicht alles daran setzt, diesen Erfahrungen auszuweichen. Innerhalb unseres Denkens und unserer Lebenspraxis ist “das Böse” etwas, was man einfach nicht annehmen kann und will.
Das schwingt dann auch mit, wenn das Nicht-Handeln als eine Praxis beschrieben wird, wie man dem “Bösen” sinnigerweise begegnet. Ich kenne den Begriff des Nicht-Handelns aus dem Tao Te King des Laotse. Dort ist das Nicht-Handeln ein spontanes, intuitives “richtiges” Tun, das keine Absicht verfolgt. Es kann also niemals eine Praxis im Umgang mit etwas Bestimmten sein, denn das wäre ja ein planvolles Vorgehen.
Mit Annarosa Buttarellis Verständnis des Fluchens hatte ich gleichfalls Probleme. Es funktioniert einfach nicht in dieser milden und in sich ruhenden Denkweise über ein So-Sein. Ähnlich der Zuschrift von Sigrid Ka, dachte ich mir, das Fluchen muss etwas gleichfalls “böses”, hier im Sinne von “machtvoll” sein, und ich will von diesem Gedanken auch gar nicht abrücken. Denn ich glaube nicht, dass es in allen Situationen ausreicht, auf die innere Logik unheilvollen Handelns zu setzen, und am Beispiel der Gewerkschafterinnen stellt sich mir die Frage, ob es genug sein kann, auf die unmenschlichen Folgen bestimmter Politiken hinzuweisen, zum Beispiel dann, wenn diese wirklich üble Folgen für andere haben.
Wenn eine natürlich selbst keinesfalls “böse” sein will, dann kann sie auch nicht mehr tun als Schlechtigkeit anzuprangern. Und mir fällt auf, dass ich mich für die “innere” Praxis dieses Denkens interessiere, und jetzt weiß ich auch, was mir unter dieser spannenden Überschrift “verfluchen, beten, nicht fragen” fehlt – es ist die Potenz, die darin stecken würde, die Kraft des Negativen, die einem begegnet, sofort wieder nach außen zu richten, und ich bemerke, dass ich unter dem Begriff des Nicht-Handelns keineswegs etwas so rein Passives, das hier irgendwie als “gut” vorgestellt wird, verstehe. Aktion kann für den Augenblick ganz hilfreich sein, um das “Böse” nicht allzu weit in sich eindringen zu lassen.
So wusste ich mir selbst letzthin nicht anders zu helfen, als einem alten Herrn, der auf dem Fahrradweg neben mir herfuhr und, aufgestachelt von Landtagswahlplakaten (Bayern!), in faschistischen Tönen auf mich einredete, nicht anders zu entgegnen als mit dem Fluch: “Passen Sie auf, was Sie sagen – Sie werden noch in der Hölle schmoren” – und das, obwohl ich selbst nicht christlich bin, ich also nicht selbst an die Macht meines Fluches, meiner “Vorhersage” glaube. (Also anders, als in Annarosa Buttarellis Artikel vorgeschlagen wird.). Ich wollte böse zu ihm sein – der Satz sollte ihm eine Weile in den Ohren klingeln. Nur so konnte ich mich selber in diesem Moment “retten” – hätte ich ihn reden lassen, ohne ihm spürbar zu entgegnen, wäre ich rein passiv und gar freundlich geblieben, hätte das “Böse” dieses alten Herrn wesentlich mehr Macht über mich bekommen, denn ich hätte mich tagelang schlecht gefühlt, wenn ich meine Ablehnung seines Ausländerhasses nicht kraftvoll zum Ausdruck hätte bringen können.
Solchen Menschen müssen wir “den Willen zum Guten entziehen”, Liebe und Fürsorge verweigern, schreibt Annarosa Buttarelli. Um dem alten Herrn dieses deutlich zu machen, wäre in dieser Situation gar keine Zeit gewesen. Doch jetzt wird es erst richtig schwierig. Denn mein verstorbener Vater gehörte der gleichen Sorte alte Herren an, wie der eben geschilderte. Als Tochter wäre es mir jedoch niemals möglich gewesen, Liebe und Fürsorge zu verweigern, als er alt und krank war. Das würde ich auch nicht bejahen. Und der vormalige Liebesentzug, ja mehr noch, Jahre der Ablehnung, hatten ihn leider nicht einsichtig werden lassen.
Dieses Denken will das Denken der besseren Menschen sein. Es entspricht eher einer Sehnsucht nach Harmonie mit der Welt, als einer wirklichen Erkenntnis von der jeweiligen Gegenwart. Womit ich nicht sagen will, dass ich dieses Denken falsch finde, im Gegenteil, ich finde es sehr schön. Aber es ist unzureichend, weil es die inneren Bedingungen der Menschen verschleiert.
Das Zitat von Simone Weil, die Beobachtung vom Gebet, dessen Störung ein Indikator für das “Böse” ist, ist wundervoll. Das ist ein großartiges Instrument zur Selbsterforschung, denn man muss feststellen, dass es oftmals die eigenen Gedanken sind (Neid, Zweifel, Missgunst, Eifersucht, Rechthaberei etc.), die einen ständig vom Gebet (vom Eins-Sein-mit-der-Welt, vom Dao) abbringen. Dabei können wir üben, das Leid als integralen Bestandteil unseres Lebens wahrzunehmen, etwas, was für Menschen unserer Kultur sehr schwierig zu erkennen und zu leben ist.
Annerosa Buttarelli entlarvt klug die Sinnlosigkeit der Frage “warum tust du mir das an?” die ehrlicherweise eine Bitte nach Liebe sein müsste. Nur lässt sich die Liebe eben nicht bitten. Entweder ist sie da, oder sie ist nicht. Hier könnte vielleicht noch weiter gedacht werden. Es sind nicht nur Borderline-Kranke, die den anderen Liebe verweigern. Die Liebe an sich ist sehr beweglich und keinesfalls an Raum und Zeit oder an bestimmte Personen gebunden. Vor allem ist sie in einer festen Beziehung häufig nicht anwesend, was an sich nicht schlimm ist, da das für jede und jeden gilt. Doch die Abhängigkeit, die daraus folgt, dass wir uns ununterbrochen von einem oder einer anderen geliebt glauben müssen, um uns “ganz” zu fühlen, ist Ursache für viel Leid, das uns schmerzt und auch für vieles Böse, das wir tun.
Wenn es darum gehen soll, Praktiken im Umgang mit dem “Bösen” zu entwickeln, die uns weitgehende Freiheit von einer Verstrickung in dessen ureigene Mechanismen erlauben, dann, so fürchte ich, werden wir nicht weit kommen, wenn wir “das Böse” nicht jeweils genau betrachten und die Ursachen unseres Leidens nur außerhalb unserer selbst ausfindig machen wollen. Ich sage dies hier nicht aus moralischen Erwägungen, etwa im Sinn einer “gerechteren” Verteilung von “Schuld”, sondern aus dem Interesse heraus, Kräfte freizusetzen, die wir in dem Moment verschwenden und verlieren, in dem wir selbst böse sind und gleichzeitig große Anstrengungen unternehmen, es nicht zu sein, indem wir diese Tatsache nicht zu verstehen suchen, sondern sie leugnen, unterdrücken oder krampfhaft verändern wollen.